Die wahren Kapitalistinnen

Mädchen gebären, Musen schöpfen: Über die exklusiven Produzentinnen von Leben und Kunst. Von Elisabeth von Samsonow

Online seit: 05. September 2019

Das Mädchen ist das göttliche Telephon (ein Titel, den Friedrich Nietzsche für den zeitgenössischen Musiker, auch er ein Musenfreund, reserviert haben wollte). In einem Rückgang auf dieses Mädchen, das Prinzipienstatus beanspruchen darf, lässt sich die exzessive Beschäftigung mit dem Körperthema, die in den vergangenen vierzig Jahren die Theorie ausgefüllt hatte, in einem neuen Licht verstehen. Das Mädchen nimmt deshalb eine besondere Position ein, weil es sich zwischen den Geburten befindet. Sie hat ihr Geborenwerden, kooperativ mit der Mutter, hinter sich gebracht und erwartet eine Geburt, in welcher sie die Position gewechselt haben wird. Sie ist nicht nur eine Geborene, sondern auch eine, die gebären wird. Ihr steht die Geburt immer bevor.

Um den Sachverhalt in einer geläufigeren Terminologie zu wiederholen: Das Mädchen ist in Hinblick auf die Seinsweise des Menschlichen die einzige und wirkliche Kapitalistin. Kapitalistin ist sie durch ihren exklusiven Besitz der Produktionsmittel. Das Mädchen ist der Körper, der einen anderen Körper hervorbringen kann, die Potenz der Geburt. Von ihm her hat also eine ernstzunehmende Diskussion über die (Re-)Produktionsverhältnisse im menschlichen Feld ihren Ausgang zu nehmen. Insofern das Mädchen die Realisation des gebärenden könnenden Körpers erwartet und diese direkt auf sich bezieht, ist es in Besitz exakt jenes Logos, um den es uns geht, wenn wir das Wesen der künstlerischen Produktion diskutieren. Und in diesem Zusammenhang wird das Mädchen zur Muse.

Die präödipale Gesellschaft und das molekulare Mädchen

Um nicht missverständlich zu sein: Ich meine natürlich das wirkliche Mädchen, wenn ich von der einzigen real existierenden Kapitalistin in Bezug auf die Menschenmacherei spreche – aber ich meine es zugleich auch nicht. Das „Mädchen“ tritt in meiner Diskussion als Signifikant auf, als Bewusst/Seinszustand, als Avatar. Eine der wenigen Textpassagen, die etwas Derartiges reflektieren, findet sich in dem Werk Tausend Plateaus der französischen Theoretiker Gilles Deleuze und Félix Guattari: „Das Mädchen ist das erste Opfer, aber es muß auch als Beispiel oder Köder dienen. Deshalb ist umgekehrt die Rekonstruktion des Körpers als organloser Körper, der Anorganismus des Körpers untrennbar mit einem Frau-Werden oder der Produktion der molekularen Frau verbunden. Sicher wird das junge Mädchen zur Frau … Aber umgekehrt sind das Frau-Werden oder die molekulare Frau das junge Mädchen selber …“

Natürlich ist es unerlässlich, sich zu fragen, was das Mädchen eigentlich tut, um die bevorstehende Geburt in Szene zu setzen bzw. um sich in seiner Logik dieses Aktes reflexiv zu versichern. Es ist unerlässlich, das Mädchen aufmerksam zu betrachten. Aber die Handlungen des „Mädchens“ sind nicht auf die Mädchen beschränkt, sondern kommen, in Einklang mit dem Modell der molekularen Frau von Deleuze/Guattari, überall vor.

Das Mädchen, wenn es seinen Körper erzeugen könnenden Körper in Aktion bringt, spielt, es nimmt die Geburt im Spiel vorweg. Es spielt die Reproduktion als Produktion mit geeigneten Mitteln. In der sogenannten Latenzphase nach der Pubertät, die eine mehr oder weniger kulturell bzw. zivilisatorisch induzierte und entsprechend schwierige Suspension der sexuellen und reproduktiven Macht bzw. eine Verlängerung des „Mädchenstatus“ bezeichnet, verschärft sich der Spielmodus – wie Erik Eriksson meinte – zur Bastelei, zum Handwerklichen und Technischen. Das Mädchen setzt seine Potenz ins Werk – man könnte das eine Sublimation seines Körper produzierenden Könnens nennen – in der „Technik“, wobei mit Technik das allgemeine System der Verfertigungsweisen und Funktionen gemeint ist. Die Technik oder Technologie bildet die Ebene, auf der das Interesse am „empfindlichen“ und funktionierenden Ding ins System gebracht wird. Die Sublimation, die dem Technischen von der Seite des Mädchens übertragen wird, wird zu dessen „sex appeal“, um Walter Benjamins und Mario Perniolas Zuschreibungen zu zitieren.

Die Technologien der Muse

Die Mädchen bilden die Punkte, von denen aus das ästhetische Feld (das der Empfindung) in ein technologisches gespiegelt werden kann. Die Musen als Töchter der Mnemosyne vollziehen diesen Vorgang, der für das kollektive Gedächtnis eine grundlegende Rolle spielt. Zunächst wird – wie Jean-Luc Nancy das in seinem schönen Musenbuch dargestellt hat – der Kanon der Künste, der seinerseits institutionenbildend wirkt, naturgemäß an den Mädchen festgemacht. Die Musen bilden den Beweis dafür, dass die Künste immer schon im Plural aufgetreten sein müssen, im Mädchenkreis/Medienkreis. Im Oikos der Kunst schwirren sofort die Mädchen durch die Räume und bestellen begeisterte Grüße an diejenigen, die sich wie Maschinen und Apparate verhalten oder diese bedienen. An diejenigen, die die Leinwände aufspannen oder die Pinsel in feuchten Farbtöpfen anstupfen, die die Gussformen ausschalen, die Texte und Posen studieren, die Instrumente zupfen, schlagen und streichen, die Rezitierenden und Singenden, an diejenigen, die Griffel über Oberflächen tanzen oder ihre Fingerspitzen auf Keyboards ausschwirren lassen etc.

Die Frau, die einen zwischen den Rotorblättern ihrer Gliedmaßen und wehenden Gewandteilen rätselhafte Energien ausströmenden zentralen Motor abgibt, geriet zum Fanal einer Moderne, die sich ganz richtig mit der Technisierung des Bildes von Weiblichkeit gekoppelt sah.

Die Anwesenheit der Mädchen ist unverzichtbar. Das öffentliche Dekorum ruft in Erinnerung, dass am Anfang die Musen standen, die über die Aufteilung des Sinnlichen wachten und ihr erstes Spüren in diesen Feldern verankerten. Die Musen bilden die Pforten, durch die hindurch diejenigen verschwinden, die sich mit ihren Technologien einlassen, mit ihnen in die Latenz gehen. Sie kommen erst wieder zum Vorschein, wenn das Werk vollendet ist. In der schließlichen Präsentation des Werkes wird sein technologisch gebundener Entstehungsprozess dissimuliert, unterdrückt, verhohlen – und das nach wie vor, wie sich das beispielsweise in einer Ausstellung im Unteren Belvedere in Wien, die Plastiken von Tony Cragg den Porträtbüsten Anton Messerschmidts gegenübergestellt, sehen lässt. Cragg hatte Köpfe gemorpht und in verschiedenen Materialien – Holz, Bronze, Zinkguss – ausarbeiten lassen. Die weich geformten Oberflächen der Plastiken erinnern an Bronzen von Henry Moore, die „prä-digital“ gefertigt, also modelliert, abgeformt und gegossen worden sind. Der High-tech-Herstellungsprozess der Werke von Cragg, der sich der CAD-Entwurfstechnik und des rapid prototypings bedient hat, wurde atavistisch im Musenopfer „dissimuliert“.

Die Unterdrückung bzw. Nichtdarstellung des Technologischen im Werk gibt den Umstand wieder, dass die Künstlerinnen und Künstler, wenn sie in das Reich hinabsteigen, in dem die nackten Gesetze der Produktion regieren, das Reich des Mädchens, den Hades, betreten und in ihm unsichtbar und latent werden. Das Mädchen als Muse teilt sich mit dem Künstler bzw. der Künstlerin diese symbolische Produktionszone, die in letzter Instanz von der Phantasie der Produktion von Körpern gesteuert wird. Das Mädchen weist nur deshalb diese Eignung zur Muse auf, weil es die Produktionsstätte schlechthin ist, also die Lieblingin des Systems. Weil ihre Produktion sich noch nicht in actu befindet, weil der Muse die Mutterschaft erst bevorsteht (nur Kalliope gebiert den Musensohn, den sehr speziellen Orpheus), weil sie immer erst im Mutterwerden begriffen ist und daher mit der Simulation von Produktion beschäftigt, teilt sie ihr heißes Interesse an der Produktion mit all denen, die mit ihr symbolisch im Begriffe sind, etwas hervorzubringen. In der Muse ist die Natur der Produktion reine Technologie, durchtränkt mit der Hitze der Erwartung, also erotische Technologie oder technologische Erotik. Das Mädchen garantiert geradezu als Signifikant den Technologien der Kunst, dass sie heiß bleiben und eben nicht technisch-kalt werden.

Hysterie und Amusement

Die Versuche der modernen und der nachmodernen Kunst, den Produktionsprozess selbst als integralen Bestandteil der Kunst sichtbar zu machen, sind von systemtheoretischen Theoretikern als „Kunst zweiter Ordnung“ oder „selbstreflexive Kunst erklärt worden. In Wahrheit handelt es sich um eine breit angelegte Bewegung, die das Mädchen wieder aus dem Hades aufsteigen lässt und mit ihm all jene, die von ihr erotisiert und mit ihr ins technisch Unbewusste hinuntergefahren und verschwunden waren. Der Beginn dieser Bewegung ist mit der Elektrifizierung der modernen Welt markiert. Im Elektrischen findet das „Gefühl der Natur“, das der Spürkompetenz des technologisch interessierten Mädchens gleichkommt, zu seiner Universalisierung.

Die Begleitsymptome dieser Bewegung sind einmal in den vielfach auftretenden Fällen von Hysterie um die Jahrhundertwende und im Erfolg derjenigen, die die Hysterie deuteten (Charcot, Brauer, Freud), auszumachen. In diesem Setting kündigte sich eine neue Form des Musischen an, die stark ins Amüsierbetriebhafte (von a-muse-ment, sich mit der Muse einlassen) weist. Auffällig ist die zur selben Zeit grassierende Faszination für Tänzerinnen, die nie mehr ihresgleichen gehabt hat. Das Publikum raste förmlich zu den Darbietungen der Schlangentänzerinnen und die Künstler fertigten unzählige Tänzerinnen-Bilder. Die Künstler halten es entweder mit Mata Hari, den Wiesenthal-Schwestern, Moa Nahuimur, Isadora Duncan oder Loie Fuller. Die Frau, die einen zwischen den Rotorblättern ihrer Gliedmaßen und wehenden Gewandteilen rätselhafte Energien ausströmenden zentralen Motor abgibt, geriet zum Fanal einer Moderne, die sich ganz richtig mit der Technisierung des Bildes von Weiblichkeit gekoppelt sah. Weitere Symptome dieser Bewegung sind dort zu registrieren, wo Künstler auf hellsichtige Weise anfingen, das Mädchen auf eine geradezu maschinische, ihre Technologiebegabung selbst einfangende Art und Weise zu materialisieren. In dieses Feld gehören die Dinge, die sich als Junggesellenmaschinen bezeichnen lassen. Oskar Kokoschka schritt zu einer radikalen Form der Substitution von Alma Mahler, indem er bei Frau Hermine Moos in München, einer bekannten Puppenmacherin, eine Alma-Puppe bestellte. Aus dem umfangreichen Briefwechsel, der die Besorgtheit Kokoschkas um die Detailgerechtigkeit der Puppe belegt, geht hervor, dass diese Puppe zur Sicherung der künstlerischen Potenz Kokoschkas unbedingt notwendig war. Um diese Aufgabe zu erfüllen, musste sie, wie Kokoschka der Frau Moos erklärte, unbedingt über die „parties honteuses“ verfügen, deren Anwesenheit im Atelier des Künstlers offenkundig für die Möglichkeit von Produktion überhaupt steht. Kokoschka fertigte um die hundert Tuschzeichnungen der Puppe und ein Ölportrait, bevor er ihr, ihrer überdrüssig, am Ende eines für sie ausgerichteten Festes, im Morgengrauen den Kopf abhackte und eine Flasche Rotwein darüber zerschlug.

Henri Matisse erläutert uns den Sachverhalt des Amüsements so: „Die Anwesenheit des Modells im Atelier hat nicht nur mit ihrer Unterstützung in Hinblick auf die Formfindung zu tun. Sie soll mich in der Emotion, im Gefühl halten. Es ist wie ein Flirt, der in einer Vergewaltigung endet. Vergewaltigung von wem? Von mir selbst, durch die gewisse Erweichung vor dem sympathischen Objekt.“

Wenn also die Antike gemeint haben sollte, dass sie berechtigterweise als Ära der Musen zitiert werden könnte, so teilt sie sich diesen sublimen Titel mit einer Gegenwart, die sich mit neuen, nämlich mit elektrischen und elektronischen Mitteln auf Bindung und Verbindung spezialisiert hat. Setzt man die Beziehung zwischen Mädchen und Technik voraus, dann lässt sich sehen, dass und wie unsere Gegenwart, die technische Moderne und Nachmoderne, insofern sie von Objekten bestimmt ist, die allesamt vielmehr Spielzeugfunktion als Werkzeugfunktion aufweisen, zum wirklichen Zeitalter des Mädchens geworden ist.

Ein Beispiel für eine „Technologie des Mädchens“ ist GPS. In welchen Stimmen auch immer die Ansage intoniert wird, die eine höhere Instanz zum Zwecke der Heilung der Desorientierung durchgibt. Die Muse ist es, die das Spüren kompensiert, die uns durchdirigiert durch das Labyrinth („die Mutter“), in welchem wir uns ohne sie verloren hätten. Das Orakel der neuen Muse, zwischen Schutzengel und Kontrolleur, ist auf die konkrete Poesie der Orientierungshilfe abonniert.

Elisabeth von Samsonow, geboren 1956, ist Professorin für philosophische und historische Anthropologie der Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien. Zuletzt erschien Anti-Elektra. Totemismus und Schizogamie (edition diaphanes, Zürich/Berlin 2007).

Quelle: Recherche 1/2008

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