Auf Ebene des Feuilletons wird derzeit dem in seiner Psychostruktur sattsam bekannten Alpha-Männchen gerne ein Alpha-Mädchen gegenübergestellt: Eine Generation von selbstbewussten adoleszenten Frauen sei auf dem Parkett des öffentlichen Lebens erschienen, die nicht länger darauf wartet, zum Tanz in den Institutionen der Gesellschaft gebeten zu werden. Eine schleppend sich durchsetzende Gleichstellung als Errungenschaft der Frauenbewegungen vermag aber kaum darüber hinwegzutäuschen, dass soziale wie private Hierarchien unangetastet geblieben sind, dass geschlechtsspezifische Arbeitsteilung fortbesteht und allein ihre Anstößigkeit eingebüßt zu haben scheint. Es ist nicht nötig, Pierre Bourdieus Analysen in La domination masculine (dt: Die männliche Herrschaft) zu bemühen, um erkennen zu können, dass die Rede von starken Mädchen und das Promoten von girlism einer Verschleierung faktischer Ungleichheit an Chancen gleichkommt: Während Machtverhältnisse kaum tangiert werden, verändern sich die Inszenierungsweisen der Figur des Mädchens. Nicht länger ausschließlich als zukünftige Gattin angesprochen, nicht mehr ausschließlich in Dimensionen von Erwartung repräsentiert, wird Mädchen suggeriert, gleichberechtigte Partnerinnen in einem (fragwürdigen) Spiel um warenförmige Beziehungsstrukturen, Sexualität und Arbeitskraft zu sein.
Elektra vs. Ödipus
Die Philosophin und Bildhauerin Elisabeth von Samsonow, Professorin für Philosophische und Historische Anthropologie an der Akademie der Bildenden Künste Wien, stellt in ihrem Buch Anti-Elektra die Figur des Mädchens mit umstürzlerischer Leidenschaft ins Zentrum ihrer theoretischen Aufmerksamkeit. Sie fragt nach den strukturellen Voraussetzungen und Konsequenzen der Konstruktion einer für den als geschichtlich bezeichneten Zeitraum von etwa 3500 Jahren gleichsam proto-, nicht archetypischen Mädchen-Figur, die die Mutter hasst und den Vater stärkt. Samsonow leitet aus dieser Analyse nicht nur eine Theorie des plastischen Gestaltens und Ansätze zu einer Theorie der Spielzeuge und der digitalen Medien ab, sondern entwickelt darüber hinaus eine sowohl feministische als auch buchstäblich geo-politische Befreiungsperspektive. Es ist ein Buch, das, wie schon der Titel vermittelt, mit und gegen den in der Folge der 68er-Revolte erschienenen Anti-Ödipus der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari geschrieben ist. Samsonow löst den im Vergleich zum viel beschriebenen Ödipus-Komplex stark vernachlässigten Elektra-Komplex in eine Dimension auf, die die Geschichte völlig neu aufzurollen vermag. Dies geschieht nicht mittels einer Verknüpfung von inzestuöser Struktur und kapitalistischer Wunschmaschine wie bei Deleuze/Guattari, sondern mittels einer nicht weniger über das kleinfamiliäre Bezugssystem hinaus strahlenden Wirkungsgeschichte latenter totemistischer Qualitäten.
Das Labyrinth als geburtlicher Raum wird in den erzählten Mythen zum Kerker eines Tier-Menschen als Opferer, dem nichts Göttliches mehr anhaftet; geopfert werden Mädchen.
Die Zusammenstellung von Mädchen, Tier und Maschine mag uns an Stofftiere, Pferde und Gameboys, an Tierpflege in digitalem Format – eine offenkundig rituelle Zeremonie im Kinderzimmer – denken lassen, die bislang als Übergangsobjekte, als Figuren der Stellvertretung und Probebühne der Objektwahl verstanden worden sind. Der Bezug dieser Tierbevölkerung zum Totemismus war nicht zuletzt durch Sigmund Freuds Lesart des Totem als Ersatz für einen Urvater verstellt; konsequent hat Freud in Totem und Tabu weder für Kult und Religion noch in Hinblick auf die zeitgenössische Psyche eine geeignete Position für ihm wohl bekannte vor-geschichtliche Muttergottheiten und eine daraus resultierende Stellung der Tochter auszumachen gewusst und dies auch freimütig eingestanden. Das Imaginarium, das die Verbindung Mädchen und Tier trägt – und nach diesem fragt Elisabeth von Samsonow –, erklärt sich nicht aus Vater-Sohn-Problematiken, nicht aus einer wie immer gearteten Reaktion auf den Vatermord. Hinter diese Konstruktion von Anfang zurückzugehen und in diesem Zurückgehen eine Verstehensweise für eine kollektive und für patriarchale Gesellschaften wie deren Politikformen konstitutive Amnesie in Bezug auf das vorödipale Stadium anzubieten, ist das Projekt der Anti-Elektra. Geschürft und gegraben wird dabei mit vielfältigsten Methoden und theoretischen Instrumentarien, gilt es doch hinter/unter der vordergründigen Signifikantenlosigkeit der Figur des weiblichen Kindes zu lesen.
Die Tochter als Geliebte und die Geliebte als Tochter sind im theoretischen Rahmen ödipaler Verstrickungen verstehbar, nicht aber die libidinöse Vollbremsung einer passiven Tochter wie Elektra, die weder ihre Liebe zum Vater noch die Rache an der Mutter vollzieht. Diese wird verstehbar, wenn wir sie als zukünftige Königin betrachten, der in einem gefinkelt inszenierten Machtgerangel das matrilineare Erbe abgesprochen wird und der sich fortan nur noch glücklose Perspektiven eröffnen: Das Absprechen erfolgt in einer Umdeutung der Opferung des (Lebens-Abschnitts- oder Phasen-)Königs als (ehemals) Fremdem im Rahmen einer exogamen kulturellen Tradition, der als Verrat der Mutter dargestellt wird. Es ist dies eine strukturelle Verschiebung, in der Mord an Stelle von Geburt gesetzt wird. Das Schizosoma, Leib-Leib-Beziehung der vor-athenischen Kultur(en) mit ihrem Bezug zum Plastischen, zu einer produktiven Technologie, die sich ableiten lässt aus dem Körper produzierenden Körper der Frau, einem Körper der beide Geschlechter hervorbringt, wird denunziert, seine Symbolisierungen werden überschrieben. Die Tochter wird in diesem historisch-kulturellen Wandel mittels der antiken Töchter-Dramen aufwändig zu einer den Vater liebenden Neben-Figur umgepolt, was allerhand „rätselhaften“ energetischen Ballast mit sich bringt. Sie soll nicht länger in Erdverbundenheit auf ihre Mutter aufbauen.
Tiere und Apparate
Als einen dieser fortan unverständlichen und beunruhigenden Nebeneffekte liest Samsonow die untilgbare Verbindung zum Tier. Das Naheverhältnis zwischen Mensch und Tier strategisch abzutragen war humanistische Herausforderung, die in Bezug auf das Weibliche aber weder gelingen kann noch soll und in unseren mehr oder weniger intimen Beziehungen zu Haustieren wie auch in der symbolischen Macht von Schlangen, Drachen, Ziegen und Vögeln in diversen Zwischenwesen nicht nur der Horror-Abteilung filmischer Produktion aufblitzt. Die symbolische Ordnung der Mutter, die differente Geschlechter hervorbringt, inkludiere eine Beziehung zum Tier als gleichermaßen Nahem und Fremden, zum Transhumanen, gilt doch die erste Wahrnehmung der gesichtslosen Tiermutter, dem Inneren des Körpers. Die Vaterfigur hingegen kann immer nur durch eine Außensicht erfasst werden. Wie nun wird diese Innensicht erinnert, wie wird sie symbolisch gefasst? Samsonow verknüpft diese nicht mit der Kategorie des Eigenen, sondern über die Tierhaftigkeit und Gesichtslosigkeit, das Dunkle, Liquide und Sensorische mit Fremdheit und setzt die geschlechtliche Identifikation des Mädchens an dieser Doppelheit der Mutter an: Sie ist Mensch und Vormensch, Innen und Außen zugleich, womit auch eine überraschende Spur zur feministischen Aversion gegen die Inszenierung von Frauen als Blick-Objekt und zur defizitären Selbstwahrnehmung von Frauen gelegt wird. Die Doppelheit als Tier und Mensch werde in nach-totemistischen, endogamen und schizogamie-feindlichen Systemen und Zeiten weder im Symbolischen noch im Politischen anerkannt. Das Totemtier wird so nicht als Ersatz des Urvaters, sondern als Teil des Weiblichen verstanden, das eine identifikatorische Ungewissheit veräußert. Politische Fähigkeit wird abgeleitet aus der Fähigkeit, in der Begegnung eine Erinnerung an das Fremde dieser ersten Nähe aufrufen zu können.
Wie aber kann mit heutigen Instrumentarien diese Verbindung hergestellt werden? Welche Gestalt können Suche und auch Sucht nach einem vorgängigen Fremden annehmen? Innige Szenen um Fremdheit sieht Samsonow in unserem Umgang mit Apparaten. Ihre medientheoretische Perspektive setzt an den verschiedenen Formen des Versinkens und Außer-Sich-Seins angesichts technisch hergestellter Verbindungssysteme an, die sie, wo Apparate mit Seelenhaftigkeit geradezu überhäuft werden, als radikalen Totemismus bezeichnet. Dass das leibliche Gegenüber und das technische Ding verkehrbar werden und einen Stoffwechselprozess eingehen können, das sei dem totemistischen Tier als Ur-Apparat geschuldet, das seine Spuren via Mumie und Statue als Konserven von beseelter Leiblichkeit bis hin zu satellitenüberdachter zielloser Kommunikation gezogen habe. Totemistische Transformationen werden als „Vergegenständlichungen von Einfühlungswissen“, als präödipale Qualität der Einfühlung in einen anderen Körper vorgestellt, womit nicht nur der Zusammenhang zu künstlerischen Objekten hergestellt ist, sondern auch die nie zur Gänze gelöschte Magie des Maschinellen wie die Konzeption späterer Gottesbilder als Anti-Tier verständlich wird. Der Anthropomorphismus von Gottesbildern gleich wie die Verkürzung von Bildtheorien um das Plastische, um die Anwesenheit auch des toten Leibes etwa in der Votivplastik folge einer Jahrtausende währenden Propaganda wider Ersatz- und Reserve-Körper, von „magischem Stoffwechsel“ eben, und verkenne die Anwesenheit von „Gegenweltpersonal“ nicht nur in den Kinderzimmern, verkenne Präödipalität, die zugegebenermaßen dem Willen zur Theoretisierung einiges entgegenhält.
Der zweigeschlechtliche Erdkörper
Jene Figuration, die aufgrund ihrer Verräumlichung von gleichermaßen Innen wie Außen, ihrer Unwägbarkeit in Bezug auf Anfang und Ende der „präödipalen Gesellschaft“ wie keine andere zugeordnet wird, ist freilich das Labyrinth. Seine Funktion im Mythos birgt sowohl die skizzierte Verlustgeschichte als auch deren das kulturelle Gedächtnis formende Grundstruktur, die Amnesie in Bezug auf die präödipale Erinnerung und ist somit Monument der Ablöse der matrilinear gedachten minoischen durch die athenisch-patrilineare Kultur. Das Labyrinth als geburtlicher Raum wird in den erzählten Mythen zum Kerker eines Tier-Menschen als Opferer, dem nichts Göttliches mehr anhaftet; geopfert werden Mädchen. Sein göttliches Eltern-Paar, Pasiphae und der ozeanische weiße Stier, wurden unter der Regie des Ingenieurs Dädalus bereits in die neue Ordnung überführt, wo Kennzeichnungen von Ehebruch und Sodomie sie erwarteten. Mädchen und Tier werden getrennt, Urmutter und Tier werden zu verschlingenden Monstern, wodurch beide verworfen werden können. Als Rettung steht nur noch die väterliche Ordnung zur Verfügung. Allein Ariadne als Schwester des Minotaurus, als Teil des totemistischen Doppels, entkommt als Letzte ihrer Art: Aber auch sie vermag in der nunmehr installierten Ordnung kein Glück zu finden und wird schlussendlich von Theseus ausgebremst. Die dem Papa-Mama-Kind vorgängige Dreiheit König-Königin-Tier geht in die Ordnung der polis über; das Kind wird aus seiner Verbindung mit dem Tier herausgeschält und erbt nichts als Gefangenschaft; dädalische Gegenstände und Spielzeuge wie das world wide web ersetzen (notdürftig) schizosomatische Qualitäten.
Die vielleicht überraschende Konsequenz aus diesem Welten-Drama ist für Elisabeth von Samsonow aber nicht, den Muttergottheiten wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, ihnen – wie ein beträchtlicher Teil der Matriarchatsforscherinnen – in Euphorie zu huldigen. Mögliche Perspektive, dem kollektiven Elektra-Syndrom aller Erdenkinder zu entkommen, das die väterliche Position weiter stärkt und letztlich die Erde selbst trifft, sei, die verhängnisvolle Engführung in der Konzeption der Erde als Mutter hinter sich zu lassen. In einer auch für Feministinnen widerborstigen Lektüre wird angedacht, dass der auf Dauer gestellte Angriff auf den Erdkörper von Seiten der väterlichen Instanzen durch eine buchstäbliche und symbolische Entladung von Mütterlichkeit, eine Anerkennung der Erde als zweipoligem und zweigeschlechtlichem Körper nicht zuletzt das weibliche Kind aus seiner unglückseligen Position befreien könnte.