„Oratio docet“ schrieb der Humanist Agricola, womit er einen Sachverhalt umriss, der noch nicht ganz zu Ende gedacht ist. Die Sprache selbst sei nämlich, so Agricola, ein Allgemeines, welches es unmöglich mache, persönlich zu werden. Selbst wenn man beispielsweise sagen würde „Ich liebe Dich“, müsste man sogleich nachfragen, wo entsprechende Tantiemen für diese unvergleichliche Satzerfindung zu deponieren wären. Auch das Denken selbst bewegt sich in Bahnen, die gut vorgespurt worden sind, und über die leichten Hängebrückchen der Assoziation schweift es hin und her und aus, bis es etwas entdeckt, das schon gedacht worden ist und gut ist.
„Nichts Neues unter der Sonne“ – mit diesem salomonischen Motto bedachte daher Giordano Bruno seine Ars Memoriae, die Kunst der Erinnerung. Weder im Denken noch im Sprechen ist es möglich, übernommene Worte und Meinungen zu kennzeichnen. Meistens ist es sogar das besonders oft Gesagte und Gedachte, das wiederum einen hohen Zustimmungswert hat – ein Umstand, der die Rhetorik in ihrem Versuch, „Überzeugung“ zu erklären, außerordentlich beschäftigt.
Das mimetische Tier seufzt in einem glücklichen Akt der Verschmelzung: Das ist gut, das nehme ich, es könnte direkt von mir sein, es ist mein.
Auch im Text also, nicht nur in Denken und Sprechen, wird die Sprache belehrend wirken, wird vor allem das Allgemeine vor dem Besonderen gesagt werden, wird das bereits Gesagte Pate des zu Sagenden, das Geschriebene Pate des zu Schreibenden. Nicht umsonst also deklarierte eine von Foucault begeisterte Kulturwissenschaft den Tod des Autors in mannigfaltigen Seminaren, da ja nun sich die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass wir selbst – als vermeintliche Autoren – nur Epiphänomene der Sprache selbst sind, Franchisenehmer der Rede, die uns Subjekt, Objekt und Prädikat diktiert. Einige Hunderte von Jahren hat es also Texte gegeben, die auf Texte Bezug nahmen, wobei die Raffinesse der Lektüre nicht selten darin bestanden hat, dass ein Aperçu, ein Bonmot, eine Sentenz vom Connoisseur dekodiert wurde als Fundstück aus einem anderen, Autorität genießenden Prätext. Plagiatsvorwürfe waren selten, ausgerechnet Giordano Bruno wurde allerdings in Oxford mit einem solchen konfrontiert, als er in einer, durch seine andauernde Wanderschaft erzeugten Zeitnot kurzerhand die Vorlesungen mit Texten von Marsilio Ficino bestritt – die nun aber damals schon allzu gut bekannt waren unter der Professorenschaft dieser Eliteuniversität. Bruno musste gehen. Man hatte einen wunderbaren Vorwand gefunden, den ungehobelten Kerl, der ein so seltsames Lateinisch mit süditalienischem Akzent sprach, davon abzuhalten, seine Gauklerstücke auf den erhabenen Kathedern zu vollführen.
Die akademische Sitte, Zitate mit Fußnoten kenntlich zu machen, wird sehr spät eingeführt, nach mindestens tausend Jahren höhere Schule. State of the Art in akademischen Druckwerken wird sie nicht vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Das gemeinsame Weben am Makro-Text erhielt durch diese Sitte ein besonderes Zeichen, das die eingenähten Stücke kenntlich macht. Gänsefüßchen machen die Naht sichtbar, an der die Stücke eingefügt worden sind. Dort, wo vielleicht einmal die Unsichtbarkeit der Schweißnaht wünschenswert gewesen ist, ein Verschwinden des Momentes der Appropriation, also das hundertprozentige Capito, lassen sich nun die Reste des Näh- oder Schweissvorgangs sehen.
Die Verschärfung der Zitiererei zeigt auch, dass die AutorInnen zunehmend Angst haben, „ungeschützt“ ihre Meinung vorzutragen.
Die neue Fetischisierung der Schweißnaht geht einher mit der Kapitalisierung einer Sprech- oder Schreibleistung durch eben den Autor. Der Name des Autors, der Name des Künstlers, die Signatur und das Copyright werden zu den Kronschätzen des buchstäblich kapitalistischen Individuums, das aus seiner Kapazität Kapital schlagen kann. Kapazität bedeutet, dass ein solches Individuum eine gewaltige Einverleibungsleistung in Bezug auf andere derselben Art vollbracht hat. Die Schweißnähte oder Gänsefüßchen sind praktisch die Pfähle, auf welche der seine Kapazität erweiternde Autor seine Kollegen spießt. Manche Texte sind mit solchen Aufgespießten doppelt und dreifach geziert und machen damit den Eindruck, den ein hochrangiger Kopfjäger angestrebt haben mag. Das macht klar, dass das, was heute als Wissenschaft bezeichnet wird, im Wesentlichen nichts anderes ist als die Herstellung einer geeigneten Zitatesammlung inklusive Schweißnähte, mit denen der Neophyt unter Beweis stellt, dass er den Jargon der Zunft und ihre Verfahren beherrscht. Andererseits zeigt die Verschärfung der Zitiererei aber auch, dass die AutorInnen, so sie welche sind, zunehmend Angst haben, wie es so schön heißt „ungeschützt“ ihre Meinung vorzutragen. Der Zaun der Gepfählten dient also als Barrikade, die verhindert, dass man den Autor sieht. Vielleicht ist er auch deshalb tot? Drückt er damit aus, dass er tatsächlich nur noch genetische Rekombinante, aus Versatzstücken animiertes Frankenstein-Monster ist? Ein zitatloser Text wäre doch der Vollausdruck des Autors, der sich damit zur vollständigen Verschmelzung mit anderen, deren Meinung / Worte er restlos teilt, bekennt. Diese schöne Option ist heute leider den Poeten vorbehalten, die offenbar die Einzigen sind, die in ihren Texten die Sprachreflexion als solche als roten Faden mitführen. Ein Text, der nicht auf Gänsefüßchen schleicht, besitzt eine geradezu metaphysische Qualität, und zwar entweder, weil er Agricolas Devise vom Subjektcharakter der Rede selbst beherzigt oder – was auch möglich ist – die Einheit des Geistes affirmiert.
Found Footage
An diesem Punkt lohnt überhaupt ein Blick in die Kunst. In einer leicht anglizierenden Abwandlung des Fußnotenproblems spricht man hier durchwegs von found footage, auf welchem das Kunstwerk basiere. Kaum ein Künstler, eine Künstlerin heute, die ohne dieses found footage auskommt. Fragt man nach, bekommt man die Antwort, man habe das Material aus dem Internet – Bilder und Videos –, manche schneiden sogar Zeitungsartikel aus. Nach einer mehr oder weniger tiefgreifenden Bearbeitung in Photoshop wird dieses found footage zum Kunstwerk. Es kann einem passieren, dass die Homevideos, die man gemacht hat, plötzlich auf einer prätentiösen Videowand im Istanbul Modern zu sehen sind (beispielsweise in der Installation von Kutluğ Ataman). Nichts zu machen, hier hat man das Urheberrecht verloren. Es gibt unzählige Versionen der Mona Lisa, ohne dass man noch einen Verweis, woher das found footage stammt, nötig hätte.
Die Kunst ist eine Braukunst geworden.
Die Kunst ist in dieser Hinsicht auch eine Braukunst geworden, die nicht nur mixed media, sondern mixed found footage anbietet. Die alte Version der Fälschung, dass man also ein Werk kopiert, signiert und für ein Original ausgibt, ist ein Problem für den Kunsthandel, aber nicht mehr für die zeitgenössische Kunstproduktion, deren Spaß eben – wie bei der alten Form der Wissenschaft – darin besteht, dass man die Anspielung, sogar die Reprise versteht. Es geht so weit, dass große Kunstwerke wie Nistkästen für Epigonen benutzt werden, was allgemein als Erleichterung hinsichtlich der Verständlichkeit der Kunst begriffen, ja sogar begrüßt wird. Außerdem würde es zeigen, dass der Künstler / die Künstlerin hochgradig branché sei, also informiert. Kunst würde keinesfalls im luftleeren Raum gemacht. Warhol hat bewiesen, dass Kunst aus einem Bezugnehmen und wiederum aus der Vervielfältigung des Bezugnehmens besteht. Montage, Collage, Multiple und appropriation art sind die Wunderworte dieses Zusammenhangs, der durchaus in großen Teilen den traditionellen Tatbestand des Plagiats erfüllt – was aber nichts ausmacht, au contraire. Entweder ist man in der Kunst schon so weit, dass man die Schrulligkeiten der Textproduktion hinter sich gelassen hat, oder es ist in Sachen visuals wirklich anders. Kann man Anführungszeichen in künstlerische Collagen tun? Wahrscheinlich ebenso wenig, wie man Gänsefüßchen im Denken und in der Rede so ohne weiteres unterbringen kann. Das mimetische Tier seufzt vielmehr in einem glücklichen Akt der Verschmelzung: Das ist gut, das nehme ich, es könnte direkt von mir sein, es ist mein.
Chorgesang der Geister
Die aktuelle Diskussion ist getragen von der Empörung über den Schaden, der der Wissenschaft zugefügt worden sei. Es wäre aus gegebenem Anlass aber vielmehr darum gegangen, sich ernsthaft zu fragen, wie es denn in der Gegenwart mit den zünftigen Gepflogenheiten der Wissenschaft steht. Seltsam, dass die „Wissenschaft“ die Gelegenheit nur dazu genutzt hat, ihr modernes Gehabe wieder hinauf zur alten Größe zu stilisieren. Es macht jedenfalls in meinen Augen einen gewissen Plagiator nicht unsympathisch, wenn er verabsäumt haben soll, mehrreihig vor seiner Hütte die Gepfählten aufzubauen. Vielleicht ein antifeudaler Reflex? Ein bis zum öffentlichen Suizid reichendes, unbewusstes Bekenntnis zu den Commons, zum Chorgesang der Geister? Gesetzt den Fall, die Arbeit stammt nicht von einem Ghostwriter. Dann bedeutete doch wirklich das Plagiat aus barönlicher Feder eine längst fällige subtile Revolution von einigem (Selbst-)Erkenntniswert für die scientific community, die Chance für ein Ankommen in der Gegenwart.