„There is no such thing as kinship“ – Verwandtschaft gibt es nicht. Mit diesem Befund seiner Relektüre der ethnologischen Forschung irritierte der Kulturanthropologe David Schneider 1984 ein zentrales Theorem seiner Disziplin nachhaltig. In A Critique of the Study of Kinship monierte er die ethnozentrischen Verzerrungen, die u.a. dazu geführt hatten, dass Blutsverwandtschaft als primordiale Universalie menschlicher Sozialorganisation galt. Diese Dekonstruktion war eine theoretisch zugespitzte Schlussfolgerung seiner älteren Forschung American Kinship. A cultural account aus dem Jahr 1968. Darin hatte er bereits postuliert, dass das US-amerikanische Verwandtschaftsverständnis nicht auf biologischen Fakten fußt, sondern eine kulturell hervorgebrachte Ordnung ist: American Kinship kombiniert eine „order of nature“ (geteilte biologische Substanz, meist benannt als „Blut“) mit einer „order of law“ (Gepflogenheiten, die diffuse und kontinuierliche Solidarität vorschreiben, meist benannt als „Liebe“ oder „Beziehung“). „Biologie“ oder „Blut“, so Schneider, sind keine natürlichen Gegebenheiten, sondern Symbole, die das betreffende „kulturelle System“ veranschlagt und mit Bedeutung versieht. Die Wissenschaftsgeschichte der Ethnologie hat zudem vergessene Beiträge von Ethnologinnen (etwa Phyllis Kaberrys Arbeiten aus den 1940er-Jahren) und Positionen der frühen Frauenforschung in diesem Fach in Erinnerung gerufen, die bereits klar gemacht hatten, inwiefern die analytische Setzung einer biologisch fundierten Verwandtschaft auch eine Ordnung der Geschlechter ausdrückte, welche in der Ethnologie meist mehr Analyseinstrument als Untersuchungsgegenstand gewesen war.
Male Breadwinner
Die wissenschaftliche Kehrseite der ethnologischen Fokussierung auf ‚Verwandtschaft‘ im Exotischen waren die Soziologie und Geschichte der modernen, bürgerlichen ‚Familie‘ zu Hause. Im 19. Jahrhundert erschien die soziale Form, die spontan Kleinfamilie oder Kernfamilie heißt und die wissenschaftlich als „male-breadwinner-model“ bezeichnet wird, als Restbestand zerfallender Verwandtschaftsverbände. Mit ihrer je spezifischen Verbindung von Sozialpolitik und Sozialforschung formulierten Frédéric Le Play in Frankreich und Wilhelm Heinrich Riehl in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Ideale patriarchal strukturierter und natürlich begründeter Familien. Insbesondere Riehls Buch Die Familie erzielte eine außerordentlich große Aufmerksamkeit mit insgesamt 17 Auflagen. Zwar hatten sich beide selbst mit einem neuen empirischen Verfahren, der Wanderethnographie, eine Anschauung ihres Gegenstandes verschafft – also dem sich vor ihren Augen abspielenden tiefgreifenden Umbruch der kleinbäuerlichen Lebenswelt Europas mit Resten ständischer Ordnung zur Industriemoderne. Allerdings wehrten beide Familienforscher die Konfrontation mit dem historischen Wandel des alltäglichen Zusammenlebens ab, indem sie eine bessere Vergangenheit imaginierten, in der die Menschen in Dreigenerationenfamilien und in gegenseitiger Unterstützung in Großfamilien zusammengelebt hätten. Die vorgefundenen sozialen Formen konnten sie nur als Zerfall wahrnehmen.
Barzahlung statt Familienbande
Diese These einer Zerstörung oder Abnahme der Bedeutung und strukturbildenden Kraft familialer und verwandtschaftlicher Beziehungen im Prozess der Moderne war und ist jedoch kein Spezifikum der katholischen Soziallehre konservativer Kulturpessimisten. Auch Karl Marx und Friedrich Engels postulierten im Kommunistischen Manifest (1848), dass „die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, (…) kein anderes Band zwischen Mensch und Menschen übriggelassen (hat) als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘.“ Allerdings war das Durchschneiden verwandtschaftlicher „Bande“ auch ein Ziel der politischen Emanzipation gewesen: Die in der Sattelzeit Terrain gewinnende Adelskritik hatte ‚Verwandtschaft‘ mit aristokratischer Fundierung von Macht und Ordnung qua Abstammung und Ahnenprobe identifiziert, sodass das Programm des gesellschaftlichen Kontraktes konstitutioneller Staatlichkeit den Bürger zwar politisch aus ständischen Verhaftungen löste, ihn im sozialen Kleinen und semantisch aber auf ‚Familie‘ verwies. Die damit verbundene Geschlechterordnung hat einer der bekanntesten Kritiker Riehls, Herbert Marcuse, bereits 1936 benannt: „Der Befreiung des Mannes zum ‚Bürger‘, der sein ganzes Dasein und seine ganze Kraft in der ‚Gesellschaft‘, im ökonomischen, politischen und sozialen Tageskampfe einzusetzen hat, geht parallel die Bindung der Frau und ihres ganzen Daseins an Haus und Familie“.
Nicht mehr ‚Natur‘, sondern Ökonomie galt nun als letzte Instanz, auf die Familienformen zurückgeführt wurden.
Sigmund Freuds Beschreibung des Familienromans der Neurotiker (1909) ist eine schillernde Artikulation dieser historischen Dynamik zwischen aristokratischen und bürgerlichen Fassungen der Familie: Er berichtet von Tagträumen, in denen der Neurotiker „beide Eltern durch vornehmere ersetzt“, und von einer vorpubertären „Phantasie des Kindes (…) die geringgeschätzten Eltern loszuwerden und durch in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen“. Freuds triebtheoretische Engführung, dass diese „Korrektur des Lebens“ „zwei Ziele“ hat, „das erotische und das ehrgeizige (hinter dem aber meist auch das erotische steckt)“, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden – in kulturanthropologischer Perspektive imponiert der Befund, dass die ersehnten anderen Eltern nicht nur emotional, sondern auch sozial beschrieben sind: „höher“, „vornehmer“, „großartiger“. Das erwachsene Subjekt jedenfalls, so kann man den Familienroman auch lesen, konstituiert sich nach Freud, indem es die irdische Gewordenheit seiner Eltern und seiner selbst als gesellschaftliche akzeptiert und die „großartige“ Ontologie der adeligen Abstammung, die nicht auf menschengemachte, sondern auf (göttlich, natürlich, genealogisch) gegebene Ordnungen referiert, überwindet. Somit dokumentieren diese lediglich fünf Druckseiten von Freud aus dem Jahr 1909 die paradoxen Dynamiken im genealogischen Raum der Moderne um die Jahrhundertwende: Das Ende der aristokratischen Legitimität war offensichtlich, die dynastischen Strategien widersprüchlich: Wie William Godsey nachgewiesen hat, verschärften die Habsburger ihre Ahnenprobe noch vor dem Ersten Weltkrieg und wurden damit unter den europäischen Dynastien zu einer der sozial exklusivsten; andererseits führte die Nobilitierungspraxis des Kaisers zu einer Entwertung der Titel. Es ist aufschlussreich, dass selbst Freud festhielt, dass der Familienroman nicht nur eine psychoanalytische Diagnose zu „Neurotikern“ ist, sondern auch ein Stück historischer Dokumentation, weil er nämlich auch „im Traum des normalen Erwachsenen“ aufscheint, wo dann „Kaiser oder Kaiserin“ „Vater und Mutter bedeuten“.
Die Familiensoziologie der bürgerlichen Gesellschaft kann ebenfalls verstanden werden als Trägerin einer Spur dieses dynastischen Prinzips, wenn etwa der bereits zitierte Wilhelm Heinrich Riehl eine in Natur gründende Familie als „Keimzelle“ für „die sozialpolitische Potenz der Sitte, aus welcher das Gesetz hervorgewachsen ist“ setzt und postuliert: „Die Familie ist überhaupt die notwendige Voraussetzung aller öffentlichen Entwicklung der Völker“: hier wird Gesellschaft auf Gemeinschaft und auf Blutsverwandtschaft zurückgeführt. Noch lange gab es nur wenige familiensoziologische Forschungen, die eine andere Perspektive einnahmen, wie etwa Alice Salomon und Marie Baum, die Begründerinnen der Sozialarbeit, in ihrer 1930 publizierten Monografie Das Familienleben in der Gegenwart über 182 Familien. Das Buch der Reihe „Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart“ dokumentierte auch den bescheidenen Wohlstand kleiner Angestelltenfamilien, den die beiden Wissenschaftlerinnen mit einem Alltagsblick erfassten, der methodisch quantitative Empirie mit einer von ihnen „Technik des Verstehens“ genannten Hermeneutik kombinierte. So zählten sie etwa für eine Berliner „Chauffeursfamilie“ (Vater Chauffeur, Mutter Näherin, Tochter 7,5 Jahre alt) die neu angeschafften Elektrogeräte auf: Radio, Staubsauger, elektrisches Bügeleisen, Fön, neue Leuchten, Lukullusbratofen; diese Reihe schließen sie mit dem Fazit, „daß die Familienverhältnisse durchaus geordnet sind, und daß das Kind in günstigen Verhältnissen aufwächst“. Nur fünf Jahre später wischte der nationalsozialistische Volkskundler Horst Becker mit seiner Schrift Die Familie die Befunde von Salomon und Baum vom Tisch: als „ahnungslosen Bericht“ verdammte er die Arbeit, deren Autorinnen er nicht einmal mehr namentlich nannte, an der er zum hier zitierten Beispiel vor allem monierte, dass diese Familie „sich in einem Jahr eine Musterauswahl ausgesprochener Luxusgegenstände anschaffte“, der damit „ihr eigenes gutes und bequemes Leben über alles geht“, anstatt, so seine Forderung, weitere Kinder zu zeugen. Andere Vertreter einer Familienforschung, die wie Salomon und Baum an alltäglichen Lebensformen statt an normativen Idealen interessiert waren, konnten sich in dieser Zeit nur noch aus der Bedrängnis des Exils zu Wort melden. Herbert Marcuse konstatierte in den Studien über Autorität und Familie, die 1936 in Paris erschienen, zum Forschungsstand, dass Riehls Familienbuch von 1855 „die herrschende Richtung der deutschen Familiensoziologie bis zur Gegenwart“ ausmache: „Interpretation der Familie als eines ‚natürlichen‘, ‚ewigen‘ Gebildes auf dem Grunde der Gesellschaft, dem kraft seiner Naturhaftigkeit eine normative Geltung zukommt. (…) Riehls Buch ist eine ausgesprochene Kampfschrift. (…) Die Weise, in der Riehl diese These begründet, ist bis in die Gegenwart hinein in der Soziologie der Familie wirksam geblieben.“
Diese Diagnose galt noch bis in die 1970er-Jahre. Die historische Familienforschung bzw. die historische Kritik der Familiensoziologie (in Österreich v.a. Michael Mitterauer, Reinhard Sieder, Josef Ehmer, später auch Margareth Lanzinger; in Deutschland z.B. Karin Hausen, Heidi Rosenbaum) widerlegten die These vom Zerfall einer mehrgenerationellen Großfamilie im Prozess der Moderne. Dabei internationalisierten sie zudem die Forschung, vor allem durch den Austausch mit der Cambridge Group for the History of Population and Social Structure (z.B. Peter Laslett, David Gaunt). Das führte zudem zu einer empirischen Kritik des Familienbegriffs (bis hin zum Vorschlag, ihn analytisch ganz aufzugeben), die allerdings zunächst in eine neue Ontologie mündete: Nicht mehr ‚Natur‘, sondern Ökonomie galt nun als letzte Instanz, auf die Familienformen zurückgeführt wurden. Die bisweilen eng geführte historisch-materialistische Argumentation in diesem Kontext bildete sich in der Nomenklatur der Untersuchungsgegenstände ab, die nach sozioökonomischen Bedingungen bestimmt wurden: ‚Bauernfamilie‘, ‚Adelsfamilie‘, ‚Angestelltenfamilie‘, ‚Arbeiterfamilie‘. In einer zweiten Phase der historischen Kritik der Naturalisierung und Enthistorisierung von ‚Familie‘ führte die Rezeption der Forschungen der Sozialanthropologie (v.a. Jack Goody, Esther Goody) und der französischen Soziologie bzw. Anthropologie (z.B. Martine Segalen) ab den späten 1990er-Jahren zu einer neuen historischen Anthropologie der Entwicklungen von Familie und Verwandtschaft im 19. Jahrhundert. Das mündete in eine Umkehrung der Zerfallsthese: In Studien zur Vergabe politischer und administrativer kommunaler Ämter und zum Wahlverhalten im Kontext der Revolution von 1848 wies die Kulturanthropologin Carola Lipp nach, dass Verwandtschaft „das unsichtbare Fundament der bürgerlichen Gesellschaft“ war; der Historiker David W. Sabean konnte für das 19. Jahrhundert die Korrespondenz der sozialen Ordnung der kapitalistischen Moderne – die Klassenbildung – mit verwandtschaftlichen Beziehungen belegen; insgesamt spricht die historische Forschung nun für das 19. Jahrhundert gar von einer „kinship hot society“ (David Sabean, Simon Teuscher, Jon Mathieu).
New Kinship Studies
Ähnlich wie die Ethnologie, der mit Schneiders Diktum „Verwandtschaft gibt es nicht“ ein Grund im mehrfachen Sinne wegbrach, befand sich nach der Dekonstruktion der bürgerlichen Kleinfamilie als Analyseinstrument die Geschichtswissenschaft an einem Punkt, der eine Neubestimmung des Untersuchungsgegenstandes „Familie“ oder „Verwandtschaft“ erforderte. Beide Disziplinen wählten eine ähnliche neue Perspektive, nämlich die Abkehr von normativen Modellen hin zu praxeologischen Fragen danach, wie Familie und Verwandtschaft im Alltag hergestellt werden. Edith Saurer und Margareth Lanzinger taten das mit ihrer analytischen Differenzierung von „usueller“ und „offizieller“ Verwandtschaft; in der Kultur- und Sozialanthropologie fragen die new kinship studies (z.B. Janet Carsten, Marilyn Strathern, Jeanette Edwards, Sarah Franklin) nach dem „doing kinship“, nach „relatedness“ und „belonging“. Dieser Zugang ist nicht neu, eine Spur führt zurück zur Kritik des Strukturalismus durch Pierre Bourdieu. Gegen eine der Begründungsschriften des Strukturalismus, Claude Lévi-Strauss‘ Klassiker Les structures élémentaires de la parenté (1949), und das strukturalistische Konzept von universellen, im Unbewussten eingesenkten, binär codierten „Regeln“, die Verwandtschaft und somit kulturelle und soziale Ordnung hervorbringen, brachte Bourdieu den Begriff der „Strategie“ in Stellung: „Verwandtschaft ist eine Sache, die man macht, und aus der man etwas macht.“
Verwandtschaft ist in der populären Genealogie von heute tatsächlich Wahlverwandtschaft.
Dass es sich bei dieser notwendigen Neubestimmung des Untersuchungsgegenstandes nicht um ein akademisches Spezialproblem dekonstruktivistischer Ansätze handelt, sondern um ein sehr praktisches Anliegen der Gesellschaftsbeschreibung, zeigt sich etwa daran, dass das Statistische Bundesamt der Bundesrepublik Deutschland vor wenigen Jahren für den Mikrozensus den Familienbegriff aufgegeben hat; die Datenerhebungen zu diesem Bereich firmieren nun unter „Lebensformen“. Aber nur auf den ersten Blick ist das eine schlichte Überwindung falscher Perspektiven, zu deutlich sind die Passungen zwischen der handlungstheoretischen Wende in diesem Forschungsgebiet und der Aktivierungspolitik des neuen und verstärkten staatlichen Rückgriffs auf Familie und Verwandtschaft am Ende der fordistischen Wohlfahrtsregulation: ‚Familie‘ ist nun nicht mehr das private Komplement des öffentlichen Staates, sondern wird politisch als Ressource angerufen: Frauen und Mütter, die im fordistischen Arrangement allenfalls Teilzeitkräfte im Kommen und Gehen konjunktureller Schwankungen waren, sind nun nicht mehr das stützende Andere des männlichen „Normallebenslaufs“, sondern mit ihren historischen Erfahrungen wie vielfach unterbrochener Erwerbsarbeit, instabilen und nicht existenzsichernden Beschäftigungsverhältnissen und einer Entgrenzung von Arbeit, Nicht-Arbeit und (auch rassistisch geteilter) care-work die ungewollten Protagonistinnen neuer, „prekär“ genannter Arbeits- und Lebensformen. Auch im Subjekt entdeckt die Wissenschaft nun ungeahnte Reserven: Die new childhood studies definieren Kinder als „kompetente Akteure“ (Jens Qvortrup), und in den psychologischen und medizinischen Disziplinen interessiert man sich für „Resilienz“ – das ist etwas grundsätzlich anderes als das Drama, welches Vater-Mutter-Kind bisher aufführen mussten, und dessen Dynamik alle Hauptrollen für immer zeichnete, sei es als „Ödipuskomplex“, sei es als „Kastrationskomplex“.
Dabei darf die Forschungsperspektive, nach der es Verwandtschaft „nicht gibt“ (David Schneider), der zufolge diese aber ebenso „gemacht“ wird, wie Subjekte sich selbst hervorbringen sollen, nicht mit einem simplen Voluntarismus verwechselt werden. In der Gegenwartsbeschreibung geht hier die Ethnologie empirisch und theoretisch voran: Sie untersucht seit den späten 1990er-Jahren die Nutzung von Reproduktionsmedizin, ethnographiert Samenbanken, spricht mit Selbsthilfegruppen homosexueller Eltern mit Kinderwunsch, folgt den Politiken und Praktiken transnationaler Adoption (z.B. Maren Klotz, Michi Knecht) (in den Einführungswerken der Familiensoziologie gibt es dazu allerdings bis heute kein Kapitel). Die Natur-Kultur-Dichotomie ist hier nicht mehr Basis der Analyse, sondern Untersuchungsgegenstand geworden, mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (Bruno Latour) oder als agencement (Gilles Deleuze, Félix Guattari, Michel Callon) wird das Verhältnis aller menschlichen, nicht-menschlichen, materiellen, immateriellen Beteiligten am Zustandebringen von beispielsweise „unser Kind“ detailliert beschrieben. In meiner Forschung zur populären Genealogie, der weltweiten Massenbewegung der Ahnenforschung, untersuche ich, wie die Aktiven dieser Szene mit digitalen Instrumenten alle verwandtschaftlichen Verbindungen enthüllen und verknüpfen, vor welche die nach Orten und Geburt, Taufe, Hochzeit, Tod teilende Systematik der kirchlichen und staatlichen Bevölkerungsdokumentation den Vorhang gezogen hatte. Dadurch wird aus dem Archiv eine öffentliche Einrichtung. Die „archontische Macht“ (Jacques Derrida) des Archivs muss nun – auch, weil die öffentlichen Gelder zurückgefahren und Kooperationen notwendig sind – Leute als „Kundschaft“ ansprechen und einlassen, die jahrhundertelang niemals an Akten gekommen sind. Die Kirchenbuchleser in den Pfarreien und die Transkripteurinnen der nichtehelichen Geburten aus einem jahrhundertealten liber arcanum, in das der Pfarrer die ihm bekannten Vaterschaften der Kinder lediger Mütter separat des regulären Geburtenbuchs eintrug, finden nicht nur heraus, von wem sie sind, sondern erzeugen mit ihren relationalen Datenbanken eine Verwandtschaft, in der das Lösen von Rätseln nur noch eine Frage der Zeit und des kollektiven Recherchefleißes ist. Kulturanthropologisch darf man die Frage vernachlässigen, ob die empirische Grundlage dieser digitalen Beziehungsreiche mit manchmal vielen Tausend „verwandt“ genannten Personen auf einem seriösen Umgang mit den Quellen im historisch-kritischen Sinne beruht. Relevant ist vielmehr, dass sich Verwandtschaft hier nicht in Bezug auf Abstammung, Blut und Gene manifestiert, sondern am Quellenbeleg, also letztlich an etwas Menschengemachtem. Verwandtschaft ist in der populären Genealogie von heute tatsächlich Wahlverwandtschaft, aber eben keine Wahl im voluntaristischen Sinne oder im philosophischen Sinn einer freien Entscheidung, sondern eine Wahl, die sich ihre sozialen Erfindungen als historische Funde plausibel macht.
„Epistemisches Objekt“
„Weißt du, von wem du bist?“ fragt der Seher Teiresias in Sophokles’ Drama König Ödipus. Diese Frage, wer von wem ist, ist in Wissenschaft und Alltag in vielen Variationen, aber niemals zufällig beantwortet worden. Eines allerdings haben auch unterschiedliche Antworten gemeinsam: Sie schaffen durch die Dichotomie von ‚gemacht‘ und ‚gegeben‘ den Raum, in dem ‚die Familie‘ erscheint, eines der sehr produktiven „epistemischen Objekte“ (Hans-Jörg Rheinberger) des Sozialen wie des Natürlichen in der Moderne. Das realisiert sich wissenschaftlich und alltäglich als Duett: auf der einen Seite die Utopie der „freien Synthese“ (Gilles Deleuze, Félix Guattari) des Subjekts und seiner Wünsche, und die Hoffnung, eine Antwort ohne Referenz auf diese Frage zu finden („to produce humanity through something more and less than kinship“, Donna Haraway); seitwärts dieser Utopie der Ontologieverdacht, mit dem sich das Begehren in einer endlosen Suche nach Vorgefundenem artikuliert, repräsentiert und ordnet: Blut, Gene, Muttermilch, Sperma, Eizellen, gesetzliche Regelungen, Kontrakte, ökonomische Strukturen, Reisemöglichkeiten, Kommunikationsmittel, Gefühle, ein Quellenbeleg aus dem Archiv, Verknüpfungswerkzeuge wie Datenbanken, Geschenke, materielle und immaterielle Objekte und Bilder, Rituale wie Familienessen, die Taufe – diese Liste endet hier nicht aus Platzgründen, sondern logischerweise mit einem etc.