Alles sei gut, wenn die Welt still sei, zitiert der amerikanische Essayist Eliot Weinberger eine tradierte chinesische Weisheit; wenn aber der Wind aufkomme, beginne in den Löchern der Erde ein Weinen und Stöhnen. Der Wind wirbele die Dinge durcheinander, er sei mal gut und mal böse, er gelte manchen als die Rache böser Vorfahren und sage dem Herrscher, was die Untergebenen denken. Den Wind sehen könne aber niemand: Man bemerke ihn nur durch das, was er bewegt. Auf wenigen Seiten häuft Weinberger auf, was dem Wind alles nachgesagt oder angedichtet wird; in wenigen Sätzen entsteht ein Eindruck von Formen der Welterfahrung, die der westeuropäisch-rationalen eher fremd gegenüber zu stehen scheinen: „Wind kam aus den Mäulern von Schlangen; Schamanen trugen Schlangen, um sich von ihnen in eine andere Welt blasen zu lassen (…) Das Piktogramm für WIND wurde aus dem Zeichen für Segel und dem für Schlange zusammengesetzt. WIND und KRANKHEIT bedeutete ‚ungesund‘. WIND REINHEIT war sexuelles Verlangen; MANN WIND war Sodomie.“
Zahllos sind die Vorstellungen, die sich mit dem Wind verbinden. Er kann auch „Lied“ bedeuten; „WINDGRUPPE“ steht für unseren Begriff von „Opportunisten“, „WINDMANN“ dagegen für den „Dichter“. Aber zum guten Schluss gelangt, wer den Nuancen der Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen folgt, schließlich doch auch zu einer Redewendung aus unserem eigenen tagtäglichen Repertoire. Dann ist eine Anbindung geschafft, dann kann, wer will, den Weg noch einmal gehen und seine angestammte Weltsicht zu jener aus anderen Weltteilen in Beziehung setzen: „Höre den Wind, und du wirst den Wind erkennen. Der Wind weht, und die Generationen sind seine Blätter. Kein höheres Lob als jenes, das man über Konfuzius sagte: Er weiß, woher der Wind weht.“
Dieses Verfahren hat Weinberger eine gewisse Berühmtheit eingetragen: Überfallsartig, ohne Bemühen um vermittelnde Hinführung, setzt er dem Publikum seine Lesefrüchte vor.
Es ist typisch für die meisten Essays von Eliot Weinberger, dass man als Leser zunächst kaum ahnt, woher der Wind wehen wird. Und wenn man dann, wie in dem zitierten Beispiel, schließlich doch bei etwas Vertrautem angelangt, dann heißt das noch nicht, dass in einem solchen Text auch tatsächlich eine explizite Botschaft übermittelt worden ist. Eliot Weinberger zieht es in seinen Beiträgen meist vor, unbekannte oder wenig erschlossene Materialien zusammen zu stellen, um damit still und leise ein paar Gewissheiten über die Welt zu unterlaufen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Wind, Wirbel und Strudel gleich in mehreren jener Essays eine Rolle spielen, die vor kurzem gesammelt unter dem Titel Das Wesentliche aufgelegt worden sind. Aber es wird dem Leser natürlich auch nahe gelegt, darin so etwas wie eine Absicht zu suchen. Denn auch andere inhaltliche Bezüge vernetzen diese gesammelten Texte – neben dem Themenkreis China wären etwa ausgestorbene südamerikanische Kulturen oder das Verschwinden exotischer Tiere zu nennen – und mehr noch die Konzeption der meisten Beiträge. Eliot Weinberger trägt Informationen und Aussagen über die Dinge zusammen, listet sie scheinbar nur auf, verknappt, verdichtet und sortiert sie dabei aber so, dass sie sich gegenseitig kommentieren. Der Essayist selbst tritt scheinbar hinter seinen aufgewirbelten Fundstücken zurück, ist aber als ordnende und leitende Instanz, als derjenige, der die Aufmerksamkeit lenkt, dennoch immer präsent.
Dieses Verfahren hat Weinberger eine gewisse Berühmtheit eingetragen. Überfallsartig und ohne Bemühen um eine vermittelnde Hinführung setzt er dem Publikum seine Lesefrüchte vor. Wenn man sich darauf einlässt, entwickeln sich die Fragen an Denkweisen, Gewohnheiten oder eigene Rituale ganz von allein. Es sind fast immer Fragen an die Art und Weise, wie wir über etwas sprechen, welche Bilder wir uns von den Dingen machen und was dadurch verborgen bleibt. Es ist die spielerischste Form einer Erkenntniskritik – und auch die poetischste. Sie ist nur auf den ersten Blick harmlos und verliert sich auch nur zum Schein in den weiten Gefilden entlegener und mit Eigenwilligkeit verfolgter Interessen.
Entlarvende O-Töne
Eliot Weinberger, 1949 geboren, hat sich in jungen Jahren als Lyriker versucht, hat schon mit neunzehn die Werke des mexikanischen Literaturnobelpreisträgers Octavio Paz ins Amerikanische übertragen und ist im Jahr 2000 für seine Tätigkeit als Kulturvermittler mit dem höchsten mexikanischen Staatspreis, dem Azteken-Adler, ausgezeichnet worden. Er lebt heute als Essayist, Übersetzer und Herausgeber in New York. Er wäre beinahe auch ein Sinologe geworden – geblieben ist davon, dass er Gedichte aus dem Chinesischen übersetzt, etwa diejenigen seines Freundes Bei Dao, und eine Anthologie klassischer chinesischer Lyrik herausgegeben hat. Er schreibt in der New York Review of Books und in anderen namhaften Blättern. Deutsche Übersetzungen findet man seit Jahren vor allem in Lettre International. Man könnte ihn also leicht als einen Vertreter der traditionellen Höhenkammkultur sehen, wären da nicht auch die vielen Essays, in denen er sich seit dem Regierungsantritt von Georg W. Bush mit amerikanischer Politik befasst hat – aus dem Gefühl heraus, dass man den Amerikanern seit dem 11. September 2001 mit Verschwörungstheorien und verfehlten Großmachtallüren den „letzten Nerv geraubt“ hat, wie er es selbst einmal ausgedrückt hat. Das berühmteste Beispiel dafür ist vielleicht What I heard about Iraq, eine Zusammenstellung regierungsamtlicher amerikanischer Verlautbarungen zwischen 1992 und 2005. Weltweit ist dieser Essay immer wieder abgedruckt und vorgetragen worden – als denkbar höhnischster Kommentar zum weltpolitischen Selbstverständnis der USA seit George Bush senior, als ein Essay, der nur auf die Widersprüche setzt, die in den Soundbites stecken, die er bündelt, der keine spezifischen Fragen an dieses Konvolut heranträgt außer jener nach der Verlogenheit all dessen, was als Rechtfertigung für politisch-militärisches Handeln vorgebracht worden ist.
Eliot Weinberger ist ein streitbarer Mann, der seine literarischen Techniken in den Dienst staatsbürgerlichen oder ganz allgemein kritischen Engagements zu stellen vermag. Er hat 2006 den Zustand der US-Gesellschaft mit dem Bild verglichen, das man sich von einer Al-Quaida-Diktatur zu machen pflegt. Er hat im vergangenen Jahr mit den späten Werken von Susan Sontag abgerechnet und vor langer Zeit auch schon mit jener literarischen Tradition, für die ein Name wie John Updike beispielhaft steht: Es interessiere ihn nicht mehr, Bücher zu lesen, in denen es um Scheidungsfälle in Connecticut gehe.
Kritische Kaskaden
Seine Essays erscheinen weltweit, seine politischen Kommentare aber verbreitet er auch ganz gezielt über das Internet. Es werde Lyrikern wohl nie gelingen, Condoleezza Rice auf bestimmten Seiten der New York Times zu verdrängen, hat er dazu 2003 in einem Statement zu einer „Poetry is News“-Konferenz erklärt, gleichzeitig aber auch angemahnt, dass seinen Schriftstellerkollegen viele andere, wenn auch kleinere und fachspezifischere Medien zur Verfügung stünden, wenn sie denn etwas zu politischen Debatten beitragen möchten. Dass sie das in den letzten dreißig Jahren wohl viel zu selten getan haben, hat er dabei auch angemerkt und gefragt: „Why must poetry magazines always be graveyards of orderly tombstones of poems? How many of them in the 1980’s, for example, even mentioned the name ‚Reagan‘? How many of them today have any political content at all?”
Vor fünf Jahren hat ein Bändchen der Edition Suhrkamp unter dem Titel Kaskaden zum ersten Mal eine repräsentative Auswahl von Essays versammelt. Der aktuelle Band, den Peter Torberg nun für den Berenberg Verlag in Berlin übersetzt hat, verzichtet auf explizit politische Einlassungen, denn solche Texte haben naturgemäß nur eine beschränkte Haltbarkeit, sondern untergräbt die Selbstgewissheit des „gebildeten Lesers“ einmal mehr durch die Anhäufung gänzlich unerwarteter Recherchen zu vergleichsweise „bunten“ Themen. Ganz egal ob sie von der Deutung der in die Hochebene von Nazca eingegrabenen weiträumigen Zeichnungen handeln, von den Wundern und Prüfungen im Leben des Propheten Mohammed oder von dem Bild, das man sich in der frühen Neuzeit vom Nashorn gemacht hat – immer wieder erweist sich sein Verfahren als wirksamste Form zur Durchleuchtung und manchmal zur Verzauberung der Welt. Und vielleicht ist es ein nützlicher, wenn auch gewagter Vergleich, wenn man Eliot Weinbergers Essays für den Moment einmal neben jene des Kunstkritikers und Schriftstellers John Berger hält, dessen Verfahren ganz genau entgegengesetzt zu sein scheint. Wo Berger seine Texte oft an kleinsten Beobachtungen, an Details festmacht – sei es in einem Bild von Modigliani oder im Alltagsleben der Bauern im Jura –, um dann sehr subjektiv und eindringlich nach und nach frei zu legen, was darin alles sichtbar werden kann, wenn man nur genau genug hinschaut, da streut Eliot Weinberger zunächst einmal mit leichter Hand ungeheuer viel aus und grast ab, was Begriffs- und Vorstellungsfelder hergeben. Meister der Sprache sind sie beide, auf beiden Wegen wird die Welt vielfältiger, manchmal auch rätselhafter, beide Vorgehensweisen können unsere Wahrnehmungsgewohnheiten aufbrechen – und beide verlangen dem Leser ein bisschen Mitarbeit ab. Es klingt daher wie ein ironischer Kommentar zu seiner eigenen Arbeit, wenn Eliot Weinberger in Sachen „Strudel und Wirbel“ auch noch folgendes zitiert: „Dem Weisen, der im Strudel der Wörter und unnötigen Details gefangen ist, ist das Mitleid jener gewiss, die das andere Ufer aller Wörter und Formen erreicht haben, aber für seine Hilfe dankbar sind.“