In der Bibel wurde eigentlich immer schon gesucht. Über die epistemischen und diskursiven Bedingungen einer solchen Suche gibt es freilich kaum Quellen, dafür eine Such- und Versuchgeschichte wie die folgende:
Jesus aber, voll des heiligen Geistes, kam wieder von dem Jordan und ward vom Geist in die Wüste geführt und ward vierzig Tage lang vom Teufel versucht. Und er aß nichts in diesen Tagen; und da sie ein Ende hatten, hungerte ihn darnach. Der Teufel aber sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich zu dem Stein, dass er Brot werde. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es steht geschrieben: „Der Mensch lebt nicht allein vom Brot, sondern von einem jeglichen Wort Gottes.“ Und der Teufel führte ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der ganzen Welt in einem Augenblick und sprach zu ihm: Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit; denn sie ist mir übergeben, und ich gebe sie, welchem ich will. So du nun mich willst anbeten, so soll es alles dein sein. Jesus antwortete ihm und sprach: Es steht geschrieben: „Du sollst Gott, deinen HERRN, anbeten und ihm allein dienen.“ Und er führte ihn nach Jerusalem und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich von hier hinunter; denn es steht geschrieben: „Er wird seinen Engeln deinetwegen befehlen, dass sie dich bewahren. Und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“ Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es ist gesagt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“ Und da der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, wich er von ihm eine Zeitlang. (Luk 4,1-13)
Die Geschichte zeigt, dass es von existenzieller Bedeutung für Leib und Seele sein kann, die richtige Bibelstelle zu finden. Denn die Entgegnungen Jesu, durch die er der Versuchung widerstehen kann, sind Zitate aus der hebräischen Bibel, und nicht einfach irgendwelche. Seine erste Antwort etwa: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, zitiert Deuteronomium 8,3 und ruft damit den Kontext dieser Stelle auf, der nicht nur an die Speisung des in der Wüste umherziehenden Volkes Israel durch Manna erinnert, sondern präzise auch an eine Versuchung: „Und gedenke alles des Weges, durch den dich der HERR, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf dass er dich demütigte und versuchte, dass kund würde, was in deinem Herzen wäre, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht. Er demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich mit Mana, das du und deine Väter nie gekannt hattet; auf dass er dir kundtäte, dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Mund des HERRN geht.“
Indem Jesus gerade diesen Spruch zitiert, zeigt er, dass er seine Situation ganz anders deutet als der Satan: Der Hunger des Erlösers ist kein Zeichen von Machtlosigkeit, sondern eine Prüfung seines Gehorsams. Ein gutes Zitat sagt mehr als sein unmittelbarer Gehalt; unter ihm verbirgt sich eine komplexe Deutung. Diese wiederum beruht auf einer Beziehung zwischen der Geschichte Israels und der Geschichte Jesu, die man als figurale oder typologische Beziehung bezeichnet: Die Versuchung entspricht der Wüstenwanderung und einigen anderen Episoden, etwa dem Aufenthalt Elias in der Wüste oder der Versuchung Adams und Evas. Die heilige Schrift erklärt sich durch eine ganze Fülle von solchen Entsprechungen gewissermaßen permanent selbst, indem jede Stelle potenziell auf alle möglichen anderen Stellen verweist. Auf diesem Prinzip der maximalen internen Verweisungen beruht die religiöse Hermeneutik, und aus ihm speist sich auch der Titel dieses Textes, ein Zitat aus rabbinischen Überlieferung, Mischna Traktat Avot 5,22, über die Tora: „Wende sie um und um, alles ist in ihr“. Je mehr sich in der Schrift finden lässt, um so mehr lässt sich in ihr auch suchen.
Jesus ist nicht der einzige Suchende in unserer Geschichte. Wie wichtig der Rekurs auf die Schrift ist, zeigt die dritte Versuchung, die nach der Logik der Erzählung die schwerste ist. Denn hier versucht der Satan den Herrn nicht mit Brot oder mit Herrschaft, sondern mit eben dem Wort, auf das sich Jesus in seiner ersten Antwort bezogen hatte. Der Satan zitiert selbst die Bibel, nämlich Psalm 91,11f. Woher weiß er aber, auf welche Stellen er zurückgreifen muss? Wenn die typologische Lektüre auf Entsprechungen im erwähnten Sinn beruht, gilt es solche Entsprechungen zu finden – und genau das ist, formal betrachtet, die Suche nach Äquivalenzen bzw. nach dem Auftauchen von bestimmten Mustern in der Zeichenmenge. Die verschiedenen Ebenen der Äquivalenz bestimmen dann auch die verschiedenen Hilfsmittel bzw. Suchmaschinen. Zwar behauptet unsere Geschichte, dass hier gar keine solchen Instrumente zum Einsatz kommen – und es ist tatsächlich auffällig, dass die großen Interpretationstraditionen der Patristik und des rabbinischen Judentums auf einem phänomenalen Gedächtnis zu beruhen scheinen. Aber es ist zumindest nicht auszuschließen, dass Jesus, der Satan oder Lukas sich eines sogenannten Testimonienbuches bedient haben, in dem die wichtigsten messianisch zu deutenden Stellen der hebräischen Bibel gesammelt und topisch geordnet werden. Unter dem Stichwort Brot würde Jesus hier also Deuteronomium 8,3 finden, unter dem von Stein oder Schutz fände der Satan seinen Psalm. Eine solche Sammlung, die manche Forscher für die älteste christliche Literaturgattung überhaupt halten, ist gewissermaßen der Vorläufer eines sehr viel einfacheren Hilfsmittels, der Konkordanz.
Verse finden
Bibelkonkordanzen werden erst erheblich später erstellt: Die erste Konkordanz der Vulgata entsteht Mitte des 13. Jahrhunderts unter der Leitung des Dominikaners Hugo von St. Charo und wird dann mehrfach erweitert und gekürzt. Im 15. Jahrhundert wird sie noch einmal auf die dictiones indeclinabiles beschränkt und schließlich 1496 das erste Mal zusammen gedruckt. Die sprachliche Basis der Vulgata wird jedoch bald problematisch: Mitte des 15. Jahrhunderts erstellt Isaak Nathan ben Kalonymus auch eine Konkordanz des hebräischen Textes als Hilfsmittel für jüdisch-christliche Disputationen. Sie wird 1523 in Venedig und dann noch einmal von Reuchlin 1556 in Basel gedruckt. Eine griechische Konkordanz wird in der Ostkirche bereits im 14. Jahrhundert erstellt, bleibt aber im Westen unbekannt.
1546 veröffentlicht Sixtus Birken eine Konkordanz des griechischen Neuen Testaments. In seiner Widmung erklärt er, dass die lateinischen Konkordanzen trotz ihres großen Nutzens nicht mehr ausreichten, weil die verschiedenen Übersetzungen voneinander abwichen; er habe daher die große Mühe der Sammlung und die noch größere der Anordnung auf sich genommen, um die verschiedenen widerstreitenden Ansichten miteinander zu versöhnen.
Auffällig ist, dass diese Konkordanz nur Kapitelangaben enthält, keine Versnummern, die tatsächlich erst ungefähr gleichzeitig eingeführt werden. Der allgemeine Verweis auf die Kapitel ist nicht nur unpraktisch, um die zitierte Stelle – oft nur eine Redewendung – zu finden. Sie entspricht auch nicht wirklich der Exegesepraxis, wo der Vers im Mittelpunkt steht, wie ja schon unsere Suchgeschichte zeigte. Der ganze Effekt des Schriftgespräches bestand ja darin, dass einzelne Verse aus dem Zusammenhang gelöst werden. Die entsprechenden Instrumente werden aber erst eineinhalb Jahrtausende nach der Szene in der Wüste entwickelt, zeitgleich mit dem neuen Medium des Drucks.
Bereits im Hochmittelalter, also zeitgleich mit der ersten Konkordanz, werden die Kapitel der biblischen Bücher unterteilt und nummeriert, 1484 werden diese Kapitel erstmals mit Buchstaben in Unterabschnitte unterteilt, die dann jeweils fünf bis zehn Verse enthalten. 1528 tauchen dann das erste Mal Versnummern in einem französischen Druck auf. Eine Weile setzt sich diese Erfindung nicht durch: Zunächst erscheint keine weitere Ausgabe mit Versnummern und auch Luther übernimmt sie nicht in seine Ausgaben. Sein Korrektor Christoph Walter verhindert noch bis 1586, dass sie in Ausgaben der Luther-Bibel aufgenommen wird.
Symptomatisch spielen hier mediengeschichtliche und religionsgeschichtliche Faktoren zusammen: die Entwicklung der Drucktechnik und die reformatorischen Kontroversen um die Schrift.
Der Schlüssel für den endgültigen Triumph ist die Genfer Bibel, die der Verleger Robert Estienne 1551 (NT) bzw. 1553 (Vollbibel) erstmals mit Versnummerierung herausgibt. Die Legende besagt, dass manche Versabteilungen deshalb so wenig passend seien, weil Estienne sie auf dem Pferd, nach dem Rhythmus eines leichten Trabes vorgenommen habe. Wie dem auch sei, der Verleger ist eine in mehrfacher Hinsicht paradigmatische Gestalt: Er ist Drucker, und seine Ausgaben sind in Layout und Typographie bestimmend für den Bibeldruck. Und er reitet nicht zur Freude, sondern ist 1550 auf der Flucht von Paris nach Genf, um der Verfolgung als Protestant zu entgehen und zu einem der wichtigsten protestantischen Drucker zu werden.
Symptomatisch spielen hier mediengeschichtliche und religionsgeschichtliche Faktoren zusammen: die Entwicklung der Drucktechnik und die reformatorischen Kontroversen um die Schrift. Erst der Druck macht eine Normierung des Textes möglich – zugleich aber auch notwendig. Denn zumindest im Falle des Neuen Testaments weichen nicht nur die Übersetzungen, sondern auch die verschiedenen Handschriften des Textes nicht unwesentlich voneinander ab, oft gerade in der Reihenfolge der Verse. Deren Nummerierung setzt daher eine Stabilität des Textes voraus, die durch die verbreiteten Ausgaben zunächst des Erasmus, dann Estiennes und später Elzeviers Veröffentlichung des sogenannten textus receptus erreicht wird: derjenigen Ausgabe, die sich in der protestantischen Kirche bis ins 19. Jahrhundert als die verbindliche durchsetzt. Das protestantische Schriftprinzip, also die Forderung, alle Wissensansprüche und Handlungsgründe aus dem Bibeltext abzuleiten, verändert auch den Umgang mit diesem; und hier erweist sich die Versnummerierung als höchst effizientes Hilfsmittel. Denn erst jetzt kann die theologische Reflexion ständig auf die Schrift verweisen, ohne dass dadurch der Gang der Argumentation unterbrochen werden muss: Während etwa die erste Ausgabe von Melanchthons Loci von 1521 noch relativ spärlich die Bibel zitierte, werden in späteren Ausgaben in Marginalnoten mehr und mehr Stellen nachgetragen, auf die sich die Argumentation explizit oder implizit beziehen könnte. Diese Form bestimmt bis heute die Form theologischer Argumentation, die immer mit Reihen von Sigeln durchschossen ist: Schreibt man etwa „Same“, kann man durch eine ergänzende Klammer (Gen 3,13; Gal 4,4; 1 Joh 3,8; Hebr 2,14; Röm, 16,20) präzisieren, in welchem Sinne man das meint. Diese höchst effiziente Form der Textadressierung dringt bald auch selbst in Gestalt der Parallelstellen in die Bibel ein; noch heute ist es vollkommen übliche Praxis, dass selbst in reinen Textbibeln ohne Anmerkungen oder Erklärungen diese Verweise angegeben sind, als hätten sie im „ursprünglichen“ Text gestanden. Für eine oberflächliche Lektüre ersparen einem solche Querverweise dann auch den Gebrauch der Konkordanz – der Text hat sozusagen seine Suchmaschine in sich integriert.
Parallele Sprachen und Schriften
Die Konkordanz sucht nach der Rekurrenz bestimmter Worte – eine einfache und ziemliche unkomplexe Suche. Aber es gibt auch andere, weniger leicht zu findende und darzustellende Rekurrenzen. Schon bei der Entstehung der Konkordanzen haben wir gesehen, dass im 16. Jahrhundert die Mehrsprachigkeit der Bibel eine entscheidende Rolle zu spielen beginnt. Tatsächlich ist die Heterogenität der christlichen Bibel wesentlich auch eine sprachliche: Sie ist halb hebräisch, halb griechisch und im Kontext der Westkirche dann auch insgesamt noch einmal in einer anderen Sprache kanonisiert, sei es das Latein der Vulgata oder die Volkssprachen in den klassischen Übersetzungen. Ein Hilfsmittel, um nach sprachlichen Äquivalenzen zu suchen, ist die Polyglottenbibel. Deren erste, die Biblia polyglotta complutensa, entsteht seit 1500 unter der Leitung des spanischen Kardinals und späteren Generalinquisitors Francisco Ximenes de Cisneros und stellt einen der ersten Höhepunkte humanistischer Bibelkritik dar. Ein ganzer Stab von Mitarbeitern, Philologen, Theologen, Setzern arbeitet an dem Projekt, dessen erster Band 1514 erscheint und das erst 1522 abgeschlossen werden kann. Wohl angeregt durch die Hexapla-Handschrift des Origenes, in der das Hebräische Original mit fünf verschiedenen Übersetzungen ins Griechische nebeneinander gestanden haben soll, wird hier die Vulgata in der Mitte, der hebräische Urtext jeweils auf der äußeren Kolumne, die Septuaginta auf der inneren Kolumne gedruckt; den Fuß der Seite bildet der Targum Onkelos, eine aramäische Paraphrase des Alten Testaments mit lateinischer Übersetzung, übrigens alle noch ohne Versnummerierung.
Die Übersetzungen stehen dabei nicht einfach nebeneinander, sondern sind durch verschiedene Hilfsmittel verknüpft, etwa durch eine lateinische Interlinear-Übersetzung der Septuaginta und durch ein kompliziertes Verweissystem für den hebräischen Text: Weil dieser bekanntlich von rechts nach links geschrieben ist, kann hier keine lesbare Interlinearübersetzung angefertigt werden, stattdessen wird jedes hebräische Wort mit einem kleinen Buchstaben versehen, der auf das entsprechende Wort im Vulgata-Text sowie auf die am äußeren Rand notierten Wortwurzeln verweist. Eine ausgefeilte Drucktechnik, ein Verbund verschiedener Zeichensysteme und ein komplexes Layout ermöglichen es so, eine Fülle von Wissen darstellbar und benutzbar zu machen, und eröffnen eine Fülle von Lektüreweisen.
Auch die Anordnung der Texte hat Bedeutung: Im Vorwort wird die Ausgabe mit Christus verbunden, der am Kreuz von zwei Übeltätern flankiert wird, offensichtlich in Anspielung auf die ungläubigen Juden und die schismatische griechische Kirche. Für den Benutzer bildet die Vulgata die stabile Mitte, auf die alles zuläuft, während die anderen Texte von recto nach verso ihre Positionen wechseln. So wird ein Wissens-, Erfahrungs- und Anschauungsraum konstruiert, ein Tableau, das eine bestimmte ideologische Tendenz mit ästhetischer Prägnanz darstellt und damit eine bestimmte Leserichtung nahelegt – aber natürlich auch immer die Möglichkeit anderer, nicht geplanter Lektüren eröffnet, die sich etwa auf die Nichtübereinstimmung der verschiedenen Übersetzungen konzentriert.
Tabellen und Modelle
Die typologische Beziehung verschiedener Texte und das Nebeneinander verschiedener Sprachen sind nicht die einzigen internen Rekurrenzen, die sich im Text der Bibel finden lassen. Ein moderner Exeget würde angesichts der Versuchungsgeschichte im ersten Schritt wohl nicht ins Alte Testament zurückblättern, sondern nachsehen, wie sie von den anderen Evangelisten behandelt wird: Markus erwähnt nur mit zwei Versen, dass Jesus vierzig Tage in der Wüste war und vom Satan versucht wurde, Matthäus erzählt die Geschichte ähnlich, vertauscht aber die Reihenfolge der letzten beiden Versuchungen; bei Johannes kommt sie nicht vor. Diese Nähe und Abweichung der einzelnen Evangelien voneinander, das sogenannte synoptische Problem, haben nicht nur eine ganze Reihe von Theorien, sondern auch die wohl interessantesten Hilfsmittel und Suchmaschinen hervorgebracht: Wie findet man jeweils, was die anderen Evangelien sagen?
Den mittelalterlichen Evangelienhandschriften sind oft die sogenannten Kanontafeln vorangestellt, die Eusebius von Cäsarea Anfang des vierten Jahrhunderts entwickelt hatte. Nach Wolfgang Kemp handelt es sich um das erste Modell eines Textes überhaupt. Eusebius hatte jedes Evangelium in unterschiedlich lange Abschnitte eingeteilt, deren Nummer zusammen mit einem Verweis auf eine bestimmte Kanontafel an den Rand des Textes geschrieben wurde. Schlägt man diese Tafel auf, findet man eine Tabelle mit den parallelen Stellen der anderen Evangelien oder erfährt, dass es sich hier um „Sondergut“ handelt, das nur ein Evangelist bringt. Die Versuchungsgeschichte etwa ist innerhalb des Lukasevangeliums Abschnitt 15 und verweist auf Tafel fünf, die wiederum den Abschnitt 16 des Matthäusevangeliums Mat 4,2-10 als Parallele ausweist. Die Kanontafeln ermöglichen es so, die einander entsprechenden Passagen außerhalb des Textes aufeinander zu beziehen. Anders als andere Zugaben zum Text, etwa Zwischenüberschriften, bezieht sich Eusebius’ Nummerierung nicht auf den Inhalt des Textes, sondern stellt rein funktionale Indices dar, die – über den Umweg eines Modells, der Tabellen – auf die anderen Abschnitte verweisen. Die Kanontafeln sind funktional bestens angepasst für die Selbstauslegung der Schrift und für das Medium, für das sich das Christentum früh und vehement entschieden hatte: den Codex, für den es – im Unterschied zur Schriftrolle – wesentlich ist, dass man in ihm hin und herblättern kann.
So wird ein Wissens-, Erfahrungs- und Anschauungsraum konstruiert, der eine bestimmte ideologische Tendenz mit ästhetischer Prägnanz darstellt und eine bestimmte Leserichtung nahelegt.
Über diese reine Funktionalität hinaus haben die Tafeln auch ein ästhetisches Moment. Indem sie den Evangelienhandschriften vorausgeschickt werden, veranschaulichen sie, dass es sich um einen besonderen Text handelt, der eine spezielle innere Ordnung hat. Vor allem werden nicht die blanken Tabellen abgebildet, sondern sie werden künstlerisch gestaltet, meist mit architektonischen Motiven, die offensichtlich auf die Darstellung des Tempels anspielen. Das drückt nicht nur die Einheit und Ausgewogenheit der Schrift aus und betont ihren sakramentalen Charakter, sondern ist auch anschließbar an andere Bildprogramme, so dass etwa innerhalb der Kanontafeln typologische Szenen aus dem Alten oder Neuen Testament abgebildet sein können.
Die wohl bekannteste der sogenannten Evangelienharmonien ist Andreas Osianders Harmoniae Evangelicae libri quator (1537), die als konsequente Umsetzung des protestantischen Schriftprinzips betrachtet werden kann. Osiander produziert einen durchgängigen griechischen Text, eine Erzählung der Taten und Worte Christi, die sozusagen komplett aus den Evangelien zusammengesetzt wird, nebst dessen lateinischer Übersetzung. Dabei weist bei jedem Wort oder jeder Wendung ein Index darauf hin, aus welchem Evangelium – oder, eventuell, bei exakten Parallelen: aus welchen Evangelien – die jeweilige Wendung stammt. Am Rand sind mit weiteren Sigeln solche Parallelen angegeben, die nur minimal variieren und daher nicht in den Text der Harmonie aufgenommen werden. Aber das sind nur sehr wenige, denn weil es in den heiligen Schriften nicht nur nichts Widersprüchliches, sondern auch nichts Nebensächliches geben kann, sind selbst die geringsten Abweichungen bedeutungstragend. Daher werden parallele Erzählungen „dissimuliert“, d.h. auf verschiedene Ereignisse bezogen. Es gibt eben drei Tempelreinigungen, zwei Sturmstillungen, vier Blindenheilungen etc. Alle Evangelien werden also ineinander geschoben, wobei jedes seine Chronologie behält – mit ein wenig Übung kann man daher auch aus Osianders Text den Text jedes einzelnen Evangeliums vom Blatt lesen.
Den Text vor sich sehen
Ähnlich von Aussehen, aber anders in Absicht und Funktion ist die erste Synopse, die Johann Jacob Griesbach 1774 als Beigabe zu einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments veröffentlicht. Griesbach verneint ausdrücklich das Interesse an einer Harmonie, lässt das insgesamt eigenständigere Johannesevangelium aus und beschränkt sich auf die – von nun an so genannten – synoptischen Evangelien. Vor allem verbindet er die Evangelien nicht mehr miteinander zu einem einzigen Text oder auch nur einer eindeutigen Reihenfolge, sondern stellt parallele Texte nebeneinander. Allerdings erweist es sich als gar nicht so einfach, die einander entsprechenden Texte parallel zu drucken. Da die Texte ja auch im Buch irgendeine Art von Reihenfolge haben müssten, gibt es theoretisch verschiedene Synopsen, die entweder die markinische, die matthäische, lukanische oder johanneische Reihenfolge zugrundelegen. Griesbach folgt meist der Abfolge von Markus und der ähnlichen von Lukas, Matthäus wird „versetzt“ – seine Perikopen erscheinen also nicht in der ursprünglichen Reihenfolge –; darüber hinaus wird am Anfang und Ende jedes Abschnittes angemerkt, in welchem anderen Abschnitt der anschließende Text der jeweiligen Evangelien zu finden ist.
Tatsächlich trifft die Synopse permanent Entscheidungen, etwa wenn sie die abweichenden Berichte der Versuchung bei Lukas und Matthäus nebeneinander abdruckt, dagegen der Bergpredigt bei Matthäus nicht die lukanische Feldrede insgesamt gegenüberstellt, sondern nur einzelne, teils „versetzte“, teils nur als lokale Parallele aufgefasste Stellen: Das suggeriert, es habe eine Versuchung, aber zwei große Reden über das Vaterunser gegeben. Wie schon erwähnt, speisen sich daraus auch eine ganze Reihe von Theorien, wie es zu dieser eigenartigen Ähnlichkeit gekommen ist: ob einer vom anderen abgeschrieben hat oder sie eine gemeinsame Quelle haben. Wie auch immer diese Theorien zu bewerten sind, die Synopse bleibt bis heute ein wichtiges Hilfsmittel der Exegese und veranschaulicht das Gewebehafte der Texte ebenso wie die Spannung zwischen der Parallelität der verschiedenen Evangelien und der linearen Verkettung der Ereignisse in jedem einzelnen.
Das Mosaik des Textes
Das Prinzip der Synopse lässt sich aber nicht auf unterschiedliche Texte anwenden. Auch ein einzelner Text wird durch interne Rekurrenzen und Äquivalenzen gegliedert und kann als Tabelle, Synopse oder Diagramm abgebildet werden. Eines der seltsamsten und interessantesten Hilfsmittel der Bibelexegese beruht auf der Annahme, dass nicht nur die Evangelien vier Mal jeweils Ähnliches berichten, sondern dass auch manche Erzählungen des Alten Testaments aus einzelnen Berichten zusammengesetzt sind, die grundsätzlich parallel laufen, im Einzelheiten aber abweichen. Es war zuerst Jean Astruc, der 1753 die Theorie aufstellte, Moses habe bei der Abfassung des Buches Genesis auf ältere Urkunden zurückgegriffen, die er stückweise zusammenmontiert habe, wodurch die auffälligen Inkohärenzen des Buches ebenso erklärt werden können wie seine Wiederholungen. In Umkehrung des Vorgehens der Evangelienharmonie werden im biblischen Text verschiedene jeweils in sich kohärente „Quellen“ unterschieden, und diese „Quellenscheidung“ wird im 19. Jahrhundert zum Steckenpferd der alttestamentlichen Kritik und zur wohl komplexesten und detailliertesten Theorie der Textgenese vor der genetischen Edition. Bald bedarf es nicht nur der Diagramme, die die Abfolge der Quellen erklären, sondern auch weiterer Tabellen, die die Aufteilungen der einzelnen Forscher nebeneinander stellen. Und es gibt auch erneut eine Suchmaschine, die es erlaubt, die einzelnen Stücke der postulierten Texte schnell zu finden: die analytische Synopse, die den Bestand der einzelnen Quellen in parallelen Spalten nebeneinander abbildet. Er erscheint hier nicht mehr als Gewebe: „Der Hexateuch“, schreibt ihr Herausgeber Otto Eißfeldt, „besonders etwa die Kapitel Ex, 3, 4, gleichen ja einem Durcheinander von Mosaiksteinchen, die Teilchen mehrerer Bilder sind. Gelingt es, die Steinchen so zu ordnen, daß drei, vier Bilder von überzeugender Klarheit herauskommen, so trägt diese Ordnung die Gewähr ihrer Richtigkeit in sich selbst. Die Spalten der hier gebotenen Hexateuch-Synopse möchten den so wiederhergestellten Bildern gleichen.“ Es ist nicht nur aufschlussreich, dass an dieser Stelle das Bild des Mosaiks und die beschworene Klarheit der synoptischen Zusammenschau an die Stelle einer Theorie des Textes tritt. Mindestens ebenso wichtig ist, dass dabei die Analyse letztlich Echtes produziert: Die Mosaiksteinchen sind ja wirkliche Überreste, echte Überlebsel alter Überlieferungen, die nur vermischt worden sind, aber nichts von ihrer Authentizität eingebüßt haben. Die Synopse ist daher auch hier nicht nur ein Verfahren, um nach den Texten der jeweiligen Quelle zu suchen und sich ihre Parallelen vor Augen zu führen – sie produziert auch Echtes, sie macht die Schrift.