Dämonischer Mammon

Zum modernen Fetischismus und Antisemitismus. Von Christine Blättler und Falko Schmieder

Online seit: 10. Oktober 2019

Die ‚dunklen‘ Seiten des Geldes stehen quer zum Verständnis vom Geld als praktischem Steuerungsmedium, das die Verteilung von Waren auf dem Markt regelt – das ist sozusagen die ‚kalte‘ Sichtweise der Betriebswirtschaft. Dem gegenüber steht das Bild vom Geld als einer rätselhaften und geheimnisvollen Macht, das die Gemüter gerade in Krisenzeiten erhitzt. Diese Seiten von der Macht und dem Eigenleben des Geldes lassen sich mit dem Konzept des Fetischismus thematisieren. Im Antisemitismus werden sie auf eine unheilvolle Weise praktisch wirksam. Wie Fetischismus und Antisemitismus über das Geld miteinander verbunden sind, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.

Sexueller und religiöser Fetischismus

Beim Stichwort Fetischismus denken heute viele zuerst an sexuelle Praktiken, bei denen das Augenmerk auf bestimmten Kleidungsstücken (Pelzmäntel, Schuhe), auf bestimmten Utensilien (Peitsche, Gürtel) und auf bestimmten Materialien (Latex, Leder) liegt. Diese Gegenstände und Accessoires sind es zuerst, die anziehend wirken, nicht die Person, die sie trägt. Einst standen diese Dinge für eine Fetisch-Szene, die damit mehr oder weniger im Verborgenen und durchaus mit subkulturellem Anspruch sexuelle Vorlieben praktizierte. Mittlerweile sind diese Praktiken weit verbreitet, besonders im sogenannten Sadomasochismus1. Und innerhalb von 20 Jahren sind Zitat und Spiel mit den typischen Elementen, den speziellen Dingen wie Maske, Peitsche etc., zu einem popkulturellen Gemeinplatz geworden, der auch Eingang in die Werbung gefunden hat.2

Wenn von psychologischer Seite, so auch noch von Sigmund Freud, sexueller Fetischismus als krankhafte Abweichung oder Perversion bezeichnet wurde, haben das diese Inszenierungen weit hinter sich gelassen. Und doch findet sich heute noch der sexuelle Fetischismus in der internationalen Klassifikation der Krankheiten, unter der Rubrik „Störungen der Sexualpräferenz“: „Gebrauch toter Objekte als Stimuli für die sexuelle Erregung und Befriedigung“3. Tote Objekte müssen für Medizinerinnen und Psychologen nicht Gummimasken sein wie in der erwähnten Fetisch-Szene, was für sie zählt ist, ob jemand unter einem Zwang gegenüber bestimmten Objekten leidet oder eine andere Person dadurch zu Schaden kommt. Zu toten Objekten gehören auch Kleider aller Art, auch sie können jemanden abhängig machen. Sie können aber genauso gut einen erotischen Zauber ausüben und magisch wirken – dies ist bekanntlich ein großes Thema der Mode.

Mit Zauber und Magie sind nun die Stichworte gefallen, die am Anfang der Kulturgeschichte des Fetischismus stehen. Zuerst wurde das Konzept des Fetischismus im Bereich des Religiösen angewendet – ein Punkt, der auch beim Geld wieder wichtig wird. Ethnologen haben von Fetischismus gesprochen, um religiöse Praktiken von archaischen Kulturen zu beschreiben, bei denen Dinge als Sitz von Dämonen und Geistern angesehen und allgemein als heilig verehrt wurden. Es handelt sich hier um sakrale Objekte, die im Mittelpunkt kultischer oder magischer Handlungen stehen. Auch wenn das Wort Fetischismus heute in der Ethnologie nicht mehr verwendet wird, weil es eine herabsetzende Wertung enthält,4 geht es weiterhin um einen bestimmten Mechanismus zwischen Menschen und Dingen in einem religiösen Zusammenhang, der jedoch nicht an eine bestimmte Religion gebunden ist. Wichtig ist, dass die Dinge als wirkmächtige behandelt werden. Indem ein Mensch einem Ding Kräfte zuschreibt, verkörpert das Ding Glauben, Normen und Werte des Menschen. Plötzlich scheinen Dinge nicht nur Objekte menschlicher Handlungen zu sein, sondern eine eigene Macht und Gewalt über die Menschen auszuüben. Diese Erfahrung, den Dingen ausgeliefert zu sein, hat in der Moderne keineswegs an Bedeutung verloren – im Gegenteil scheinen Phänomene, die traditionell mit dem Fetischbegriff problematisiert worden sind, in der Moderne eine neue Relevanz zu gewinnen.

Genau darauf baut eine neue Kulturtheorie des Fetischismus, die Hartmut Böhme vorgelegt hat. An der Mehrdeutigkeit des Fetischs – bis jetzt wurden der sexuelle und der religiöse angesprochen, der ökonomische folgt sogleich – schätzte Böhme gerade seine „eigentümliche begriffliche Unruhe“5, die er positiv und kulturtheoretisch wendete. Böhme ging davon aus, dass menschliche Gruppierungen Erfahrungen benötigen, die über sie selbst als einzelne Menschen hinausgehen und Bindekräfte zwischen ihnen mobilisieren, und zwar in religiöser, ökonomischer, psychologischer und sexueller Hinsicht. Diese Bindekräfte fand er in fetischistischen Praktiken und Erfahrungen, mit denen die Menschen ihre Welt begeistern und magisch werden lassen können, und zwar, auch wenn sie vernünftige Wesen sind. Im Fetischismus machte er ein menschliches Verhalten aus, das neben der Vernunft praktiziert werde und nicht notwendig gegen sie gerichtet sei. „Fetische wie Idole sind immer materiell; doch beide gehen darin nicht auf. Das Besondere an ihnen ist es, dass sie Materie sind, die etwas ‚anderes‘ eingekörpert hat: Bedeutungen, Symbole, Kräfte, Energien, Macht, Geister, Götter usw.“

Böhme verwendet hier einen sehr weiten Fetischbegriff. Unter den vielen Dingen, mit denen es Menschen zu tun haben, ist das Geld ein ganz spezieller Gegenstand. Wenn hier mit dem Fetischismus eine dunkle Seite des Geldes zum Thema gemacht wird, geschieht dies nicht im Rahmen einer umfassenden Kulturtheorie des Fetischismus, auch wenn Beziehungen zu kulturellen Vorstellungen und Praktiken bestehen. Vielmehr zielt der Ansatz auf eine bestimmte Art des Fetischismus, nämlich denjenigen der Ware allgemein, und des Geldes im Besonderen.

Warenfetisch

Karl Marx hat den Fetischismus der Ware in seinem berühmten Kapitel im Kapital beschrieben. Dort ging er von der grundlegenden Fragestellung aus: Was ist eine Ware? Die charakteristischen Besonderheiten, die Marx am Gegenstand der Ware darlegte, gelten auch für das Geld, in das sich die Waren verwandeln. „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“6 Mit den theologischen Mucken sprach Marx etwas an, was er bei den Menschen in ihrem Verhältnis zu Waren beobachtet hatte: einen Glauben, wie er ihn aus religiösen Zusammenhängen kannte. Marx versuchte nun, das Phänomen dieses Glaubens in der Warenwelt zu beschreiben, indem er den Fetischbegriff von der religiösen in die ökonomische Sphäre übertrug. Was bei dieser Übertragung passiert, und auch was sich verändert, wird sich noch zeigen.

Auf den ersten Blick erscheint an der Ware nichts verdächtig. „Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, daß sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding.“ Aber sobald dieser Tisch „als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding“.

Bereits bei Luther sind wichtige Aspekte der Personalisierung des Geldes versammelt, wie sie die Kulturgeschichte des Antisemitismus auszeichnen.

Sinnlich übersinnlich: Die mit den Sinnen wahrnehmbare Dimension des Tisches verschwindet also nicht, man kann ihn immer noch anfassen und ihn benutzen – als Schreibtisch, Esstisch, als Ablagefläche etc. – das ist seine nützliche Dimension, die seinen Gebrauchswert ausmacht. Dazu kommt nun eine weitere Dimension, die Marx „übersinnlich“ nennt, und womit er auf den Tauschwert zielt. Eine Ware ist genau besehen etwas Doppeltes, sie hat einen spezifischen Doppelcharakter: Neben dem Gebrauchswert, den der Gegenstand behält, kommt ihm als Ware auch ein Tauschwert zu. Um das zu veranschaulichen, lässt Marx seinen Tisch tanzen. Mit dem Beispiel des tanzenden Tisches gibt er ein Bild für die ‚verrückten‘ gesellschaftlichen Verhältnisse – verrückt im übertragenen, aber auch direkten Sinn. Marx diente dieses Bild dazu, dem übersinnlichen Charakter der Ware auf die Schliche zu kommen.

„Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“ Marx beschreibt das Erscheinen der Ware als einen Auftritt. Die Beschreibung hat etwas Theatralisches, entwickelt eine Szene, in der der Tisch sich in eine Ware verwandelt. Die Beschreibung hat aber auch etwas Gespenstisches, man könnte an spiritistische Seancen denken, in denen Tische gerückt wurden. Jedenfalls scheint es so, dass die Ware in dem Ding spukt, wie ein böser Geist im Tisch. Diese Dimension des Spuks hat Jacques Derrida schön formuliert: „Das Gespenst der Ware sucht den Gebrauchswert heim.“7 In seinem Buch Marx’ Gespenster ging Derrida verschiedenen Spukgestalten bei Marx nach, so auch dem „Gespenst des Kommunismus“, mit dem bekanntlich das Kommunistische Manifest anfängt.

So geheimnisvoll und gespenstisch die Warenform auch anmuten mag – dies macht nur eine Seite des Phänomens aus. Nach dem Beispiel des tanzenden Tisches kommt Marx direkt auf den für ihn wesentlichen Punkt: Das Geheimnisvolle an der Warenform besteht darin, dass sie den gesellschaftlichen Charakter der Arbeit als gegenständlichen Charakter der Arbeitsprodukte zurückspiegelt, nämlich dass die von Menschen in einen Gegenstand investierte Arbeit eine Eigenschaft des Gegenstandes selbst zu sein scheint. Es findet eine Vertauschung (quidproquo) statt: Gesellschaftliche Beziehungen werden zu gegenständlichen Eigenschaften – und gerade die sind übersinnlich, da sie sich nicht sinnlich erfassen lassen, sie sind nicht physisch, sondern trügerisch und phantasmagorisch, wie Marx auch schreibt. Es geht hier zunächst darum, einen Sachverhalt zu konstatieren, noch nicht, ihn zu begründen. Die Formulierung bei Marx lautet:

„Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. […] Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“ (86) Das Geheimnisvolle an den Waren macht Marx daran fest, dass historisch entstandene gesellschaftliche Beziehungen als natürliche gegenständliche Eigenschaften erscheinen – so vermischt sich etwas sinnlich Wahrnehmbares mit etwas Übersinnlichem, das Übersinnliche klebt quasi dem Sinnlichen an, es ist nicht nur eingebildet.

An dieser Stelle führt Marx den Fetisch ein. Marx schließt an die Tradition der Religionskritik an, wenn er anführt, dass die Götter der verschiedenen Religionen als verselbständigte Produkte des menschlichen Kopfes auftreten. Diesen Mechanismus vergleicht er mit den verselbständigten Produkten der menschlichen Hand, nämlich den Waren. Indem Marx hier den Fetisch in den Bereich der Ökonomie hinüberträgt, konstatiert er, dass in der modernen Gesellschaft, trotz Vernunft und Aufklärung, Irrationales weiterlebt – allerdings in einer neuen Form, nämlich der Warenform. „Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, unter einander und mit den Menschen im Verhältnis stehende selbstständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.“

Der Vergleich mit dem religiösen Fetischismus läuft über einen zweifachen Prozess: Erst wird ein Ding hergestellt, und dann wird es als unabhängiges Wesen angesehen. Ernst genommen wird der religiöse Fetischismus in der Hinsicht, dass sich in ihm eine Ohnmacht der Menschen gegenüber einer übermächtigen Natur ausdrückt – so lässt er sich verstehen als Versuch, die Natur doch irgendwie beherrschen oder beeinflussen zu können. Das Gefühl der Ohnmacht ist auch in der Warenwelt verbreitet, die Menschen fühlen sich den marktwirtschaftlichen Mechanismen ausgeliefert, und diese abstrakten Mechanismen finden in den Waren ihren ganz konkret erfahrbaren Körper. Der Warenfetisch funktioniert nicht wie ein harmloses Amulett, in das hinein man sich Kräfte vorstellt, ob man nun daran glaubt oder daran zweifelt. In seiner Macht hat er etwas vom mythischen Fetisch, der den Menschen in eine bestimmte Erzählung einbindet, oder deutlicher gesagt in einen bestimmten Zusammenhang zwingt. Denn als fremde Macht und Zwang, als Sachzwang wie Systemzwang wird dieser Warencharakter erfahren, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint, und mit dem nur ein Umgang gefunden werden kann.

Jacques Derrida: „Das Gespenst der Ware sucht den Gebrauchswert heim.“

An dieser Stelle wird nun ein fundamentales Problem der Marx’schen Übertragung des Fetischkonzepts von der religiösen in die ökonomische Sphäre deutlich. Auf dem Feld der Ökonomie projizieren die Menschen nicht nur – als Einzelne oder im Kollektiv – etwas in die Dinge hinein. Vielmehr stehen diese Dinge oder, wie wir richtiger sagen müssen: die dinglich vermittelten gesellschaftlichen Verhältnisse, den Menschen tatsächlich als eine ‚fremde Macht‘ gegenüber: Sie haben etwas Objektives, sie wirken unverrückbar wie die Natur, aber sind eben nicht Natur, weder ein Naturphänomen wie ein Erdbeben, noch im Sinn einer Wesensnatur, die ewig gilt. Vielmehr sind die Dinge als Waren etwas geschichtlich Entstandenes, die Dinge sind unter ganz bestimmten geschichtlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu Waren geworden, und zwar mit der bürgerlichen Ökonomie. Aus diesem Grund ist ihre Macht über die Menschen auch nicht durch eine bloße Aufklärung über den gesellschaftlichen Charakter gebrochen. Es handelt sich nicht nur um einen Aberglauben oder eine Bewusstseinsfrage, sondern um eine höchst reale Herrschaft der Produktionsbedingungen über die Produzenten, oder, in historischer Perspektive formuliert: um die Herrschaft toter Arbeit über die lebendige, der Vergangenheit über die Gegenwart, die in Zeiten der ökologischen Krise zu einer existenziellen Frage zu werden beginnt.8 Gerade an diesem Punkt unterscheidet sich der Fetischismus der Ware am markantesten vom religiösen Fetischismus. Der ökonomische Fetischismus bezeichnet kein Verhältnis der Menschen zu einem Naturgegenstand oder einem als natürlich vorgestellten Gegenstand, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, in das die Menschen mit den Dingen eingebunden sind. Michael Heinrich brachte diese sachlich-soziale Vermittlung folgendermaßen auf den Punkt: „Der Fetischismus ist (…) die notwendige Folge einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis, der Warenproduktion, die sich dann auch im Bewusstsein niederschlägt. Erst wenn diese Praxis verschwindet, wird auch der Fetischismus verschwinden.“9

Bei Marx steht der Fetischismus allerdings nicht im Zentrum seiner Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft; der Fetischcharakter der Ware, aber auch derjenige des Geldes und des Kapitals, stellt vielmehr den Ausgangspunkt für seine Analyse dar, mit der er versuchte, die historisch spezifische Dynamik der modernen Gesellschaft zu beschreiben. So ist der ökonomische Fetisch kein archaisches, aber auch kein mythisches, ewiges Phänomen, sondern trägt die Spuren einer bestimmten Epoche, der modernen Gesellschaft.

Geldfetisch

Im Geld nun wird der Fetischismus noch verstärkt, Geld stellt selbst einen Spezialfall des Warenfetischs dar. Denn in ihm sind Gebrauchs- und Tauschwert nicht mehr wie in den anderen Waren zusammen vorhanden. Im Geld fällt vielmehr der Gebrauchswert weg, ganz zugunsten des Tauschwerts. Der durch Arbeit geschaffene und vergegenständlichte Wert, der in jeder Ware enthalten ist, ist im Geld vollständig unsichtbar. Es ist ein reines Medium.10 Marx spricht von der „Metamorphose der Waren“, einem eigentlichen Zirkulations- und ganzen Verwandlungsprozess, in dem sich die Ware in Geld und wieder Ware (W-G-W), aber auch das Geld in Ware und wiederum in Geld (G-W-G) verwandelt.

„Erste Metamorphose der Ware oder Verkauf. Das Überspringen des Warenwerts aus dem Warenleib in den Goldleib ist der Salto mortale der Ware. Mißlingt er, so ist zwar nicht die Ware geprellt, wohl aber der Warenbesitzer.“11 W-G-W zeigt „eine Bewegung, worin die Ware zuerst als besonderer Gebrauchswert existiert, dann diese Existenz abstreift, eine von allem Zusammenhang mit ihrem naturwüchsigen Dasein losgelöste Existenz als Tauschwert oder allgemeines Äquivalent gewinnt, diese wieder abstreift und schließlich als wirklicher Gebrauchswert für einzelne Bedürfnisse zurückbleibt. Das Ganze der Zirkulation W-G-W ist daher zunächst die Gesamtreihe der Metamorphosen, welche jede einzelne Ware durchläuft, um unmittelbarer Gebrauchswert für ihren Inhaber zu werden. (…) die ganze Zirkulation bildet das curriculum vitae ‚den Lebenslauf‘ der Ware.“12

Was passiert nun zwischen dem Geld und den Menschen? „Das Rätsel des Geldfetischs ist (…) nur das sichtbar gewordne, die Augen blendende Rätsel des Warenfetischs.“13 Diesem Fetischismus sah Marx noch die modernen ökonomischen Theorien unterliegen. „Der Gegensatz der modernen Nationalenökonomen zu dem Geldsystem ist nur der, dass sie das Geldwesen in seiner Abstraktion und Allgemeinheit gefasst, und daher aufgeklärt sind über den sinnlichen Aberglauben, der an das exklusive Dasein dieses Wesens im edlen Metall glaubt. Sie setzen an die Stelle dieses rohen den raffinierten Aberglauben.“14 Wie bei der Ware handelt es sich auch beim Geld nicht um einen natürlichen Gegenstand: „Die Natur produziert kein Geld, so wenig wie Bankiers oder einen Wechselkurs. Da die bürgerliche Produktion aber den Reichtum als Fetisch in der Form eines einzelnen Dings kristallisieren muß, sind Gold und Silber seine entsprechende Inkarnation. Gold und Silber sind von Natur nicht Geld, aber Geld ist von Natur Gold und Silber.“15

Das Geld wird wegen seiner quasi-magischen Wirkungsmacht verehrt, damit wird ihm eine Macht zugeschrieben. Dies erschöpft sich nicht in reiner Projektion, denn die Macht des Geldes wird ganz konkret als solche erfahren: Beim Zusammenhang der verschiedenen Formen des Werts (Ware, Geld, Kapital, Zins etc.), handelt es sich um eine verselbständigte, materialisierte gesellschaftliche Struktur, in die die Menschen eingebunden sind. Dem Geld wird nicht nur eine eigene Macht und höhere Kraft zugeschrieben, sondern auch ein eigenes Leben. Dies kommt auch in der Sprache zum Ausdruck. Gilt das Geld einerseits als ein universelles Tauschmittel und neutrales Medium zur Vermittlung der Arbeiten und Bedürfnisse auf dem Markt, so kann es andererseits „schmutzig“ sein und „gewaschen“ werden, es kann „stinken“ – und vor allem kann es „sich vermehren“. Das Kapital kann sich in der Form des Zinses scheinbar wie von selbst vermehren und sich fortpflanzen. Marx nannte das zinstragende Kapital „Geld heckendes Geld“. „Nun wird aber das Geld, soweit es als Kapital verliehen wird, eben als diese sich erhaltende und sich vermehrende Geldsumme ausgeliehen, die nach einer gewissen Periode mit Zusatz zurückkehrt und stets von neuem denselben Prozeß durchmachen kann. Es wird weder als Geld noch als Ware ausgegeben, also weder ausgetauscht gegen Ware, wenn es als Geld vorgeschossen wird, noch verkauft gegen Geld, wenn es als Ware vorgeschossen wird; sondern es wird ausgegeben als Kapital.“16

Mit dem zinstragenden Kapital sah Marx den Geldfetisch sich noch einmal steigern und zum im wahrsten Sinn des Wortes kapitalen Fetisch werden: „Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form.“ „In der Form des zinstragenden Kapitals erscheint dies unmittelbar, unvermittelt durch Produktionsprozeß und Zirkulationsprozeß. Das Kapital erscheint als mysteriöse und selbstschöpferische Quelle des Zinses, seiner eignen Vermehrung.“ „Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst.“ „Als zinstragendes Kapital, und zwar in seiner unmittelbaren Form als zinstragendes Geldkapital (…) erhält das Kapital seine reine Fetischform, G – G´ als Subjekt, verkaufbares Ding.“ Darin sah Marx die „Kapitalmystifikation in der grellsten Form“.

„Oftmals kommt es mir vor, als wäre das, was wir unterm Aspekt des Proletariats zu sehen gewohnt waren, heute in furchtbarer Konzentration auf die Juden übergegangen.“

Neben der Verdinglichung der Produktionsverhältnisse im Geld ist nun auch eine Personifizierung dieses speziellen Objekts Geld zu beobachten, es erhält die Eigenschaften einer Person und erscheint als selbsttätiges Subjekt: „die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das unmittelbare Zusammenwachsen der stofflichen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit (ist) vollendet: die verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben.“ Von dieser Personifizierung ist es ein kleiner Schritt zur Personalisierung,17 wenn mit einem Typus wie dem Wucherer oder Banker gesellschaftliche Strukturen auf die gezielte Aktivität von Personen reduziert werden. Die verhängnisvollste Personalisierung zeigt sich im Antisemitismus. Und genau hier liegt die systematische Scharnierstelle von modernem Fetischismus und Antisemitismus.

Der Weg dahin verläuft über die skizzierten Schritte, die zugleich Aspekte des Fetischs ausmachen: Am Anfang steht eine Enthistorisierung bzw. Naturalisierung; beim Fetisch handelt es sich nicht um ein Ding mit und in der Geschichte, es beansprucht vielmehr eine mythische, ewige Zeit, es trägt keine besondere geschichtliche Signatur. Dann findet eine Verkehrung statt: Gesellschaftliche Bestimmungen werden für natürliche Eigenschaften des Geldes gehalten; diese verkehrte und im direkten Sinn verrückte Form kann übertragen als Wiederkehr des Irrationalen, als Spuk bezeichnet werden. Dazu kommt der Aspekt der Verdinglichung: Es handelt sich nicht um ein körperloses Gespenst, sondern um einen realen strukturellen Zusammenhang, der sich im Verlauf der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zum Weltmarkt totalisiert hat. Die fremde Macht ist demgemäß als umfassender Sachzwang, als objektiver Zwang erfahrbar. Die Mystifikation liegt darin, dass diese Macht als eine höhere, quasi autonome Macht wahrgenommen wird, die unabhängig vom Handeln der gesellschaftlichen Akteure ist. Im Unterschied zur Personifikation, bei der eine Person nur der Logik einer Sache gehorcht – wie der Kapitalist als Personifikation des Kapitals – geht es bei der Personifizierung um eine gegenläufige Bewegung: In ihr wird ein gesellschaftliches Verhältnis wie das Kapital als Person vorgestellt und mit einem Eigenleben ausgestattet. In der Personalisierung schließlich wird dieser kausale Zusammenhang umgedreht; nun soll eine Person bestimmte gesellschaftliche Strukturen verursachen.

Personalisierung des Abstrakten

Der Zusammenhang von ökonomischem Fetischismus und Antisemitismus zeigt sich am Phänomen der Personalisierung der ökonomischen Macht in der Gestalt ,des Juden‘. Diese Form der Reaktion auf die unverstandenen und problematischen, Angst machenden Aspekte des Geldes hat die bürgerliche Gesellschaft von Beginn ihrer Entstehung an begleitet. Ihre Geschichte kann als eine „Kulturgeschichte der Barbarei“18 dargestellt werden. Durch diese Kulturgeschichte zieht sich wie ein roter Faden der Versuch, den rätselhaften Charakter des Geldes und die negativ bewerteten sozialen Wirkungen desselben in populären Bildern zu fassen. Die Personalisierung der Geldmacht kann dabei zunächst als ein Versuch verstanden werden, das Fremde an Bekanntes anzuschließen und ihm so etwas von seiner Fremdheit zu nehmen. Die Vielgestaltigkeit der Bilder, in denen das Wesen des Geldes zu bannen versucht wurde, verweist aber ebenso wie die mythologischen und fabelhaften Gehalte dieser Bilder auf die Schwierigkeiten einer solchen Assimilierung, die Marx im Medium der philosophischen Reflexion über das Geld zum Ausdruck gebracht hat. Zur Problemgeschichte der Personalisierung des Abstrakten gehört es, dass die bildvermittelte Adressierung einer sozialen Problematik niemals unschuldig ist, denn die Personalisierung ist immer auch die Identifikation einer Problemursache, die als solche implizit eine politische „Lösung“ nahelegt.

Beispielhaft lässt sich diese Problematik an den Personalisierungen des Geldes verdeutlichen, die sich in den Schriften von Martin Luther finden. Das Geld erscheint bei ihm als eine Art dämonische Gegen-Gottheit; ihr willfährigster Diener ist der Wucherer, der von Luther als eine Verderben und Tod bringende Gestalt geschildert wird: „Also ist kein größerer Menschenfeind auf Erden, nach dem Teufel, denn ein Geizhals, denn er will über alle Menschen Gott sein. […] Denn Wucherer ist ein groß ungeheurer Monstrum, wie ein Beerwolf, der alles wüstet […] Darum ist ein Wucherer und Geizhals wahrlich nicht ein rechter Mensch, sündiget auch nicht menschlich, er muss ein Beerwolf seien über alle Tyrannen, Mörder und Räuber, schier so böse als der Teufel selber.“19 Schon im Bildgebrauch Luthers scheint die Problematik auf, die für die weiteren Personifizierungsversuche charakteristisch bleiben wird: In vielen seiner Bilder hält Luther die unmenschliche, überpersönliche Dimension des Geldes fest, für die es keine anthropomorphen Entsprechungen gibt. Als konkreter Repräsentant dieser überpersönlichen Macht erscheint dann aber der Wucherer, den Luther mit hasserfüllten Tiraden und Todesdrohungen bedenkt: „Denn ein Wucherer ist ein Erzdieb und Landräuber, der am Galgen siebenmal höher als andere Diebe hängen sollte“ „Und so man die Straßenräuber und Mörder rädert und köpft, wie viel sollt man alle Wucherer rädern […], und alle Geizhälse verjagen, verfluchen und köpfen.“20 Der Wucherer aber wird bei Luther häufig mit „dem Juden“ identifiziert, der für die Auflösung der gemeinschaftlichen Bindungen und für die Unterminierung der ständischen Gemeinschaft verantwortlich gemacht wird.

Damit sind bereits bei Luther wichtige Aspekte der Personalisierung des Geldes versammelt, wie sie die Kulturgeschichte des Antisemitismus auszeichnen. Es muss zu denken geben, dass in dieser Kulturgeschichte auch die Namen von Philosophen, Künstlern und Schriftstellern auftauchen, die im Bewusstsein der Gegenwart in hohem Ansehen stehen: Der Hinweis auf Immanuel Kant und Richard Wagner soll hier genügen. In diesem Sinne hat Gerhard Scheit in seiner umfangreichen Studie zu diesem Thema gezeigt, dass nicht nur die Volkskultur, sondern auch noch die sogenannte „höhere Kultur“ von antisemitischen Stereotypen durchdrungen ist und diese in ihren Werken reproduziert – selbst Marx steht noch zuweilen in ihrem Bann, wenn er der Verlockung nachgibt, die Verhältnisse abstrakt gewordener, über das Geld vermittelter Herrschaft in eingängigen Bildern zu illustrieren. Heute fällt besonders auf, dass der Antisemitismus als soziales Phänomen in den Überlegungen von Marx nur eine geringe Rolle spielte. Etwas anders verhält es sich bei seinem Freund und theoretischen Weggefährten Friedrich Engels, der ihm größere Beachtung schenkte. Allerdings konnte Engels im Rahmen seiner evolutionistischen Geschichtsauffassung den Antisemitismus nur als Erscheinung einer „zurückgebliebenen Kultur“ begreifen, die mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft zum Verschwinden gebracht wird.21 Engels hatte hierbei wohl besonders den traditionellen Antijudaismus vor Augen, der auf dem Gegensatz von christlicher und jüdischer Religion beruht. Dass der Antisemitismus aber durch die Entwicklung der modernen Gesellschaft eine völlig neue Bedeutung gewinnen könnte, lag noch ganz außerhalb seines Blickfelds. Gerade im Hinblick auf diese neue Bedeutung des Antisemitismus hatte Adorno unter dem Eindruck der Erfahrung des Nationalsozialismus in einem Brief an Horkheimer eine grundlegende Neubestimmung der Kritischen Theorie für notwendig gehalten: „Mir geht es allmählich so […], dass ich mich von dem Gedanken an das Schicksal der Juden überhaupt nicht mehr losmachen kann. Oftmals kommt es mir vor, als wäre das, was wir unterm Aspekt des Proletariats zu sehen gewohnt waren, heute in furchtbarer Konzentration auf die Juden übergegangen. Ich frage mich, ob wir nicht […] die Dinge, die wir eigentlich sagen wollen, im Zusammenhang mit den Juden sagen sollten, die den Gegenpunkt zur Konzentration der Macht darstellen.“22

Gerade auch die linke globalisierungskritische Bewegung war an der Fabrikation personalisierender Stereotypen mitbeteiligt.

Der moderne Antisemitismus – der Begriff taucht erstmals im Jahre 1879 auf, und zwar in der antisemitischen Hetzschrift Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum von Wilhelm Marr – unterscheidet sich vom traditionellen Antijudaismus zunächst durch seinen Charakter als verwissenschaftlichte Ideologie.23 Dieser resultiert aus der Fusion mit modernen Rassentheorien, die Versatzstücke aus Darwins Evolutionstheorie auf das Feld der Kultur und des Sozialen übertragen. Ein zweiter Unterschied ist der totalitäre Charakter des modernen Antisemitismus, der deshalb nicht zufällig auch als „eliminatorischer“24 Antisemitismus bezeichnet worden ist. Seine extremste Gestalt hatte er im Nationalsozialismus gefunden, dessen Ziel die vollständige Vernichtung der zur „Gegenrasse“ erklärten Juden gewesen ist.

Antisemitismus als „besonders gefährliche Form des Fetischs“

Moishe Postone hat im Rückgriff auf Kategorien der Marx’schen Fetischkritik den modernen Antisemitismus als eine „besonders gefährliche Form des Fetisches“ dargestellt.25 Die Besonderheit dieser Form lässt sich an der Darstellung der den Juden zugeschriebenen Macht ablesen. Ihre „qualitative Andersartigkeit […] wird mit Attributen wie mysteriöse Unfassbarkeit, Abstraktheit und Allgemeinheit umschrieben. […] Weil diese Macht nicht konkret gebunden, nicht ,verwurzelt‘ ist, wird sie als ungeheuer groß und schwer kontrollierbar empfunden. Sie steht hinter den Erscheinungen, ist aber nicht identisch mit ihnen. Ihre Quelle ist daher verborgen: konspirativ. Die Juden stehen für eine ungeheuer machtvolle, unfassbare, internationale Verschwörung.“ Anhand eines Naziplakates verdeutlicht Postone den spezifischen Charakter näher: Es zeigt Deutschland – dargestellt als starken, ehrlichen Arbeiter –, das im Westen durch einen fetten, plutokratischen John Bull bedroht ist und im Osten durch einen brutalen, barbarischen, bolschewistischen Kommissar. Jedoch sind diese beiden feindlichen Kräfte bloße Marionetten. Über den Rand des Globus, die Marionetten fest in der Hand, späht der Jude. Die Juden stehen demnach für eine fremde, global agierende destruktive Macht, die noch hinter den beiden großen politischen Widersachern steht und sich ihrer für ihre eigenen Zwecke bedient.

Im Rückgriff auf die Marx’sche Fetischtheorie lässt sich Postone zufolge der Antisemitismus der Nazis als Angriff auf die in Erscheinung tretende abstrakte Dimension des Kapitalismus verstehen: „Meiner Deutung nach wurden die Juden also nicht nur mit dem Geld, das heißt der Zirkulationssphäre, sondern mit dem Kapitalismus überhaupt gleichgesetzt. […] Die Juden wurden nicht bloß als Repräsentanten des Kapitals angesehen […], sie wurden vielmehr zu Personifikationen in der unfassbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals. Bestimmte Formen antikapitalistischer Unzufriedenheit richteten sich gegen die in Erscheinung tretende abstrakte Dimension des Kapitals in Gestalt des Juden“.

Postones Interpretation kann überzeugender als andere Ansätze erklären, was es mit dem von den Nazis proklamierten Gegensatz von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital, ehrlicher Arbeit und „parasitärem“ Wucher auf sich hat und warum sich die Angriffe der Nazis gegen die abstrakte Dimension des Kapitalismus, nicht aber gegen die Formen des Industriekapitals und die modernen Produktivkräfte richteten. Eine Schwäche von Postones Erklärungsansatz ist jedoch in seinem deterministischen Konzept des Antisemitismus als einer gleichsam reflexartigen kollektiven Reaktion auf die ökonomischen Formen zu sehen. Ein solcher Ansatz reicht zur Erhellung der subjektiv-psychologischen und kulturellen Dimensionen nicht hin, die verständlicher machen könnten, warum sich der moderne Antisemitismus gerade in Deutschland hat herausbilden können, während er in anderen hoch entwickelten Nationen, die auf derselben ökonomischen Grundlage beruhen, weniger verbreitet oder sogar verpönt gewesen war. Wenn Postone schreibt, dass die abstrakten Dimensionen des Kapitals „in Gestalt des Juden wahrgenommen“ wurden, so ergibt sich diese Wahrnehmung keinesfalls zwangsläufig aus den ökonomischen Formen selbst – an Marxens Analyse, auf die sich Postone zentral stützt, war ja gerade die Abwesenheit der Problematik des Antisemitismus aufgefallen. Dass die Wahrnehmung so, wie Postone sie beschrieben hat, erfolgen kann, lässt sich offenbar nur im Durchgang durch die Kulturgeschichte der Barbarei erklären, in der kulturelle, psychologische, staatlich-politische etc. Parameter in ihrem Zusammenspiel zu berücksichtigen sind. In diesem Zusammenhang ist strikt festzuhalten, dass der Antisemitismus selber nichts über die Geschichte der Juden selber aussagt – als Form einer kollektiven Paranoia verweist er vielmehr auf diejenigen zurück, die das Bild „vom Juden“ konstruiert haben. Adorno und Horkheimer haben diese Problematik in der Dialektik der Aufklärung vermittels des Konzepts der „pathischen Projektion“ näher dargestellt. Als drastischer Beleg für diese These kann die Beobachtung dienen, dass antisemitische Stereotypen auch dort reproduziert werden, wo es gar keine jüdische Bevölkerung gibt, weshalb man auch von einem Antisemitismus ohne Juden spricht.

Antisemitismus als Alltagsreligion

Ein theoretischer Ansatz, der das Zusammenspiel verschiedener Faktoren besser zu erhellen vermag, ist von Detlev Claussen entwickelt worden. Der moderne Antisemitismus wird von ihm als eine „Alltagsreligion“, als eine Art Medium begriffen, worin der ökonomische Fetischismus in jeweils historisch und kulturell spezifischer Weise weiter bearbeitet wird.26 Claussen macht deutlich, dass Marx mit dem ökonomischen Fetisch, der Verkehrung von Gesellschaft und Natur, nur eine Stufe im Ideologiebildungsprozess aufgezeigt hat. Der Waren- und Geldfetisch wird aber sowohl individualpsychologisch im Vor- und Unbewussten als auch massenmedial durch die Instanzen der Kulturindustrie und die staatlichen Apparate weiterverarbeitet. Claussen lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die jeweils konkreten Formen, in denen die Erfahrung der Subsumtion unter die abstrakte Herrschaft kulturell inszeniert und politisch-praktisch ausagiert wird.

Besonders in Zeiten gesellschaftlicher Krisen wird die Frage nach den Ursachen für den Zusammenbruch der Ökonomie, die drohende Geldentwertung, den massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen virulent. In der zurückliegenden Finanzkrise konnte beobachtet werden, dass sich in unserer Gegenwart die Problematik der Personalisierung des Abstrakten keineswegs erledigt hat. Im Visier der jüngsten Kritik standen vor allem die Banker und Vorstände des Finanzwesens. Im populären Diskurs wurden die Heuschrecken zum Symbol einer unersättlichen Machtgier, die zum Zusammenbruch der Ökonomie geführt habe. Gerade auch die linke globalisierungskritische Bewegung war an der Fabrikation personalisierender Stereotypen mitbeteiligt. Auf einem Titelbild der Zeitung der IG Metall war unter der fett gedruckten Überschrift Die Aussauger ein breit grinsender, schadenfroher Banker zu sehen, der seinen Zylinderhut zieht und sich anschickt, mit einem Köfferchen in die Lüfte davon zu fliegen. Der Zylinder war in den Farben der amerikanischen Flagge dargestellt; das Gesicht des Bankers war durch eine überlange Nase charakterisiert. Ob sie sich dessen bewusst waren oder nicht – mit dieser Repräsentation knüpften die Verantwortlichen dieser Ausgabe an eine lange Tradition antisemitischer Hetzbilder an, denn die Stereotype, die hier aufgerufen wurden, sind aus der Kulturgeschichte der Barbarei nur allzu sehr vertraut.

1 Heute wird übergreifend von BDSM (Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism) gesprochen.

2 Z.B. Madonna, vgl. das Video zu ihrer Platte Erotica von 1992; „Mode made by Madonna“, in: Stern, 15.2.2007.

3 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification, Version 2010, Code F65.0.

4 Karl-Heinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, S. 14.

5 Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek b. Hamburg 2006, S. 34.

6 Karl Marx, Das Kapital, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (MEW), Bd. 23, S. 85.

7 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 1995, S. 207.

8 Vgl. Iring Fetscher, Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten?, Berlin 1991.

9 Michael Heinrich, Wie das Marxsche Kapital lesen?, Stuttgart 2008, S. 171.

10 Vgl. Jochen Hörisch, Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt a.M. 1996. Hörisch erörtert aus medientheoretischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive das Geld als ‚ontosemiologisches Leitmedium‘.

11 Marx, Das Kapital, Bd. 1, in: MEW 23, S. 120.

12 Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW 13, S. 70, 77.

13 Marx, Das Kapital, Bd. 1, in: MEW 23, S. 107f.

14 Marx, Auszüge aus James Mills Buch „Éléments d’économie politique“, in: MEW Ergänzungsband 1, S. 447f.

15 Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW 13, S. 130f.

16 Marx, Das Kapital, Bd. 3, in: MEW 25, S. 357.

17 Zum Unterschied von Personifikation, Personifizierung und Personalisierung s. Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 2007, S. 187.

18 Gerhard Scheit, Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus, Freiburg 1999, S. 16.

19 Martin Luther, zit. n. Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. 3, Berlin 1962, S. 531f.

20 Ebd., S. 532.

21 Vgl. dazu Falko Schmieder, Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Zum Verhältnis von anthropologischem und Historischem Materialismus, Berlin, Wien 2004, S. 286f.

22 Theodor W. Adorno, Brief an Horkheimer vom August 1940, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 16, S. 764.

23 Theodor W. Adorno, Brief an Horkheimer vom August 1940, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 16, S. 764.

24 Vgl. Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.

25 Moishe Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Michael Werz (Hg.): Antisemitismus und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995, S. 29–43, hier S. 40.

26 Vgl. Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt/M. 1987 sowie ders. Die antisemitische Alltagsreligion. Hinweise für eine psychoanalytisch aufgeklärte Gesellschaftskritik, in: Werner Bohleber, John S. Kafka (Hg.), Antisemitismus, Bielefeld 1992.

Christine Blättler, Philosophin und Slawistin, ist Lise Meitner Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, Dozentin am Institut für Philosophie der Universität Potsdam und Leiterin des Projekts „Die Phantasmagorie als Brennpunkt der Moderne“. Arbeitsschwerpunkte: Technik, Politik und die Formierung der gesellschaftlichen Wahrnehmung; Serialität und Epistemologie; Spekulation und Geschichtlichkeit. Wichtige Veröffentlichungen: Delikt: Extremer Realismus. Philosophie zwischen Theologie und Politik im vorrevolutionären Prag (St. Augustin, 2002); (Hg.) Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten (Paderborn, 2010); „Social Dissatisfaction and Social Change“, in: Allen Wood (Hg.), Cambridge History of Nineteenth Century Philosophy (Cambridge, 2010).

Falko Schmieder ist Kommunikations- und Kulturwissenschaftler und leitet das Forschungsprojekt „Übertragungswissen-Wissensübertragungen. Zur Geschichte und Aktualität des Transfers zwischen Lebens- und Geisteswissenschaften (1930/1970/2010)“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Zum Verhältnis von anthropologischem und Historischem Materialismus, (Berlin/Wien, 2004); „Von der Methode der Aufklärung zum Mechanismus des Wahns. Zur Geschichte des Begriffs ,Projektion’“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Jg. 47 (Hamburg, 2005); (Mithg.) Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte (Berlin/New York, 2008.)

Quelle: Recherche 1/2010

Online seit: 10. Oktober 2019