Vor drei Jahren legte der Publizist und Philosoph Luc Ferry das Buch Leben lernen: Eine philosophische Gebrauchsanweisung vor. – Es wurde zum Bestseller, in Frankreich und auch bei uns. Cineasten wissen, dass ein Film, der zum Blockbuster avanciert, Filme mit ähnlichem Inhalt nach sich zieht, die ebenso erfolgreich sein sollen. In der Buchbranche ist das heute nicht anders. So hat auch Luc Ferry nachgelegt und das Buch Leben lernen: Die Weisheit der Mythen herausgebracht. Der Autor spricht seine Leser mit dem familiären „Du“ an. Der Grund hierfür liegt darin, „dass ich diese großen griechischen Erzählungen an meinen eigenen und ein paar anderen Kindern aus meinem Freundeskreis sozusagen ,getestet‘ habe. An sie richte ich mich in erster Linie.“
Luc Ferry, der zwei Jahre lang Frankreichs Erziehungsminister gewesen ist, muss äußerst gebildete Kinder um sich geschart haben. Im Kapitel über Ödipus – wobei in der Kapitelüberschrift fälschlicherweise Antigone als „Tochter“ des Odysseus bezeichnet wird! – ist über dessen mythisches Schicksal zu lesen: „Es macht den Sinn und vor allem die Grenzen dieser berühmten kosmischen Harmonie deutlich, die im Zentrum der griechischen Weltsicht steht, zumindest jener, die Theogonie und Mythologie an einen großen Teil der antiken Philosophie vermachen werden.“
Die Weisheit der Mythen ist alles andere als ein schnell zu lesendes Handbuch.
Solche Formulierungen tauchen in Ferrys Text öfters auf, und sie sind nicht nur für ein waches Kindergehirn rätselhaft, sondern auch ganz allgemein erklärungsbedürftig. Wenn man auf seriöse Weise Luc Ferrys Die Weisheit der Mythen an Leser empfehlen möchte, so wären dies Jugendliche etwa ab 16 Jahren und Erwachsene, die einen grundlegenden, gescheiten, manchmal auch vergnüglichen Nachhilfekurs in griechischer Mythologie benötigen.
Doch genau an dieser Stelle tut sich ein prinzipielles Problem auf. Die Klage, dass es mit der Allgemeinbildung – ob in Frankreich, Österreich oder Deutschland – nicht zum Besten steht, ist mittlerweile ins Alter gekommen, ohne dass sich daran etwas wesentlich geändert hätte. Das Wissen um den Anfang der abendländischen Kultur, also um Mythos, Philosophie, Rechtswesen und Lebensart im antiken Griechenland und Rom, ist heutzutage sehr oft ein marginales. Das kann man beklagen. Es gibt aber auch Bildungspolitiker und Wissenschaftler, die etwas ganz anderes beklagen. Nämlich, dass naturwissenschaftliche Fächer, Informatik und logisches Denken in den Schulen zu kurz kämen. Restaurative Humanisten wie zeitgeistige Aufklärer stehen sich da unversöhnlich gegenüber. Das Einzige, was hilft, ist der „Nachhilfekurs“ außerhalb schulischer Einrichtungen, via Buch. Deswegen sind in den letzten Jahren populärwissenschaftliche Bücher in geradezu unnatürlicher Vielfalt aus dem Boden geschossen. Fraglich ist allerdings, ob eine Publikation, die etwa damit wirbt, dass auf ihren knapp hundert Seiten die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie Albert Einsteins total und glasklar erklärt wird, hält, was sie verspricht.
Leider führt Luc Ferry noch einen ganz persönlichen Kreuzzug, nämlich den gegen das Christentum.
Da ist Luc Ferrys Die Weisheit der Mythen weitaus seriöser. Es ist sozusagen alles andere als ein schnell zu lesendes „Handbuch“ in Sachen Mythos. Auf rund 400 Seiten wird der Anfang von allem, das kosmische Chaos beschrieben, so dann der Machtkampf mit den Titanen, die Inthronisierung des Zeus und der anderen olympischen Götter, das Werden des Menschen und schließlich die Heldensagen von Odysseus bis zu Ödipus. Wie gesagt, das alles ist populärwissenschaftlich klug und streckenweise unterhaltsam geschrieben. Leider führt Luc Ferry im Buch noch einen ganz persönlichen Kreuzzug, nämlich den gegen das Christentum – und somit auch gegen das „Buch der Bücher“, die Bibel: „Das Ziel der menschlichen Existenz ist es nicht, wie die Christen bald glauben werden, durch alle Mittel, auch die moralischsten und langweiligsten, das ewige Heil, die Unsterblichkeit, zu erlangen, denn das gelungene Leben eines Sterblichen steht weit über dem misslungenen Leben eines Unsterblichen!“
Mit solchen Aussagen ist Ferrys Mythen-Buch reich garniert. Natürlich hat der Autor ein Recht auf seine persönliche Welt- und Glaubensanschauung, und natürlich kann er diese in Buchform gießen. Aber müssen „Kinder“, Jugendliche, an die das Buch sich in erster Linie richtet, ideologisch aufgeladen werden? Und auf noch etwas vergisst Ferry geflissentlich hinzuweisen. Seit der Renaissance haben Dichter und Denker immer wieder versucht, die griechische Götter- und Mythenwelt mit dem christlichen Weltbild harmonisch zu verbinden – auch die Versuche Hölderlins und Heideggers gehören hier her.
Nach Luc Ferry ist das Ziel des griechischen Mythos und damit auch das Ziel der Philosophie eines: „das gelungene Leben“. Das Ziel eines Autors ist das gelungene Buch. Beides ist nicht leicht zu haben.