Die Debatte um Zuwanderung und Integration ist bis heute vielfach von Ängsten geprägt: der Angst vor dem Einschleppen von Fundamentalismus und Terrorismus, vor dem Erschleichen von Arbeit oder Sozialleistungen durch Neuankömmlinge oder einfach davor, Zuwanderer könnten die gewohnte Ordnung der Einheimischen hinterfragen, sie verändern und gefährden. Migranten, so die Befürchtung, könnten den Sesshaften etwas wegnehmen. Dass auch die Wandernden vor einer unsicheren Zukunft stehen, wird dabei leicht übersehen.
Diskussionen über Zuwanderung und Integration von Minderheiten sind freilich keine Erfindung der letzten Jahrzehnte. Immigration und Ansiedlung waren nie ausschließlich Fragen von Verordnungen, sondern das Ergebnis komplizierter Aushandlungs- und Abwägungsprozesse. Auch in früherer Zeit hatten sich die Behörden mit der Versorgung von Immigranten zu beschäftigen. Den Interessen der Sesshaften um Sicherheit und Ordnung standen dabei die Hoffnungen und Möglichkeiten der Ankommenden gegenüber: der Wunsch nach einem angemessenen, vielleicht sogar besseren Leben oder zumindest die Aussicht auf Sicherheit vor Verfolgung. Wie man am Zielort konkret das Leben bewältigte, musste ein Migrant erst herausfinden; oft war ein gewisser Erfindungsreichtum nötig, und mancher Lebensweg entsprach kaum der gesellschaftlichen Norm der Sesshaften.
Die historischen Archive in Europa sind voll von Geschichten aus vergangenen Jahrhunderten, in denen sich Migranten mehr oder weniger legal, in jedem Fall aber geschickt durchs Leben schlugen: So etwa ein gewisser Baron von Cien, der im frühen 18. Jahrhundert in Mitteldeutschland unterwegs war. Wo immer er hinkam, gab er an, aus dem Salzburgischen zu stammen, wo er aus religiösen Gründen von Katholiken vertrieben worden war. Nun reiste er durch Sachsen und die Oberlausitz. Allen erzählte er, er sei der Anführer einer großen Gruppe protestantischer Salzburger, die im Nachbarort auf ihn warteten. Die örtlichen Honoratioren hofierten ihn, sie hörten mit leichtem Schauder seine schlimmen Verfolgungsgeschichten an (der Baron berichtete von Peitschenhieben auf die Fußsohlen und anderen unschönen Dingen), man stellte ihm Kost und Logis zur Verfügung, und man schickte ihn möglichst rasch weiter: in der Hoffnung, dass nicht die angekündigte große Gruppe von Salzburgern plötzlich das eigene Dorf oder die Stadt überschwemmte. Wochenlang machte sich niemand die Mühe, die Geschichten des Barons zu überprüfen. Irgendwann aber stellte sich dann doch heraus, dass er ein Schwindler war, der sich die Propaganda der großen Salzburger Emigration anfangs der 1730er-Jahre geschickt zunutze gemacht hatte. Tatsächlich handelte es sich bei ihm nämlich um den außerehelichen Sohn eines Soldaten aus dem sächsisch-böhmischen Grenzgebiet. Der falsche Baron wurde mit Staupenschlägen des Landes verwiesen – fast hätte man ihm zur Strafe eine Hand abgeschlagen.
Die Aufnahmegesellschaft aber half vor allem dann, wenn durch Almosen ihre gewohnte Sicherheit erhalten werden konnte.
Anders verhielt es sich mit elf mittellosen ungarischen Exulanten im Dresden des Jahres 1679. Sie schrieben an den Rat der sächsischen Residenzstadt und baten um Almosen zu ihrer Versorgung. Auch sie seien während der Rekatholisierung aus ihrer Heimat vertrieben worden. Die Unterstützung sollte nur für kurze Zeit sein, denn die meisten von ihnen waren alt und würden nicht mehr lange leben. Der Rat der Stadt Dresden bewilligte den Wunsch zunächst für ein halbes Jahr. Nach Ablauf der Zeit schrieben die Ungarn wieder. Sie erhielten wieder Almosen für ein halbes Jahr. Das Geld wurde durch den Pfarrer der Sophienkirche ausgezahlt. So ging es viele Male. In schöner Regelmäßigkeit erreichten alle sechs Monate immer neue Bittschriften den Dresdner Rat. Jedesmal betonten die Ungarn, sie würden nicht mehr lange zu leben haben. Die Bewilligung erfolgte teilweise noch am selben Tag. Erst nach zehn Jahren schien der Behörde aufzufallen, dass die Ungarn keineswegs langsam ausstarben, sondern dass sie tatsächlich immer mehr wurden: Die Unterzeichner waren nicht mehr elf wie noch am Anfang, sondern inzwischen 16 Personen. Ungerührt schrieben sie weiterhin, sie würden seit Jahren immer weniger, und die Verbliebenen seien ohnehin auch bald tot. Nun aber ging man der Sache nach: Eine Überprüfung ergab, dass sich hinter der Gruppe ungarischer Exulanten auch Menschen aus Böhmen und anderen Regionen verbargen. Einige Leute waren inzwischen tatsächlich verstorben, andere waren weitergezogen, weitere waren hinzugekommen. Die Bittschriften und Zahlungen aus der sogenannten „ungarischen Exulantenkasse“ hielten nichtsdestoweniger noch zwanzig Jahre an. Ganz offensichtlich glaubte die Verwaltung der Stadt, dadurch wenigstens bei einem kleinen Teil der Fremden das unorganisierte Betteln einzuschränken und für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Erfundene Identität
Eine besonders spektakuläre Idee, wie sich Armut und Fremdheit in bare Münze umwandeln ließ, hatte um 1700 ein junger Franzose. Er stammte aus einer katholisch-protestantischen Patchwork-Familie und zog einige Jahre durch Süd- und Westeuropa. Zunächst lebte er von Almosen und schlug sich auf der Straße und im Halbweltmilieu der Städte durch, bis er auf einen englischen Geistlichen traf. Mit dessen Hilfe legte er sich eine neue Identität zu und setzte nach Großbritannien über. In London angekommen gab er sich als Bewohner der ostasiatischen Insel Formosa aus, dem heutigen Taiwan, und zelebrierte diese Rolle bis ins kleinste Detail: indem er eine eigene Sprache erfand, öffentlich Sonne und Sterne anbetete und sich ausschließlich von rohem Gemüse ernährte. Außerdem schrieb er ein Buch über die Sitten und Gebräuche auf Formosa. Insbesondere seine Schilderung der grausamen Praktiken katholischer Missionare sorgten dafür, dass das Buch im katholikenfeindlichen England ein Riesenerfolg wurde. Seinen Verfasser hofierte man in kirchlichen und gelehrten Kreisen – auch wenn einigen die Geschichte reichlich verdächtig vorkam. Der falsche Formosaner speiste mit dem Bischof von London und wurde nach Oxford eingeladen, wo er einen Lehrauftrag für formosanische Sprache und Literatur annehmen sollte. Endgültig flog der Schwindel aber auf, als man ihn einen Text in sein fiktives Formosanisch übersetzen ließ und als bei zwei Übersetzungsversuchen unterschiedliche Ergebnisse herauskamen. Der Schwindler, von dem wir bis heute nur sein Pseudonym „George Psalmanazar“ kennen, schlug sich die nächsten Jahrzehnte mit kleinen schriftstellerischen Aufträgen durch und starb, nach allem was man weiß, verarmt in einer Londoner Dachkammer.
Es gibt Schätzungen, nach denen ein Drittel bis die Hälfte aller Menschen zwischen 1500 und 1800 ein- oder mehrmals im Leben ihren Wohnort wechselten.
Wie lassen sich diese Geschichten nun einordnen? Alle drei Fälle zeigen, dass Migration und prekäre Verhältnisse Hand in Hand gehen konnten. Für die Aufnahmegesellschaft war es dabei aber offenbar das kleinere Übel, arme Fremde zu unterstützen als ihre Herkunft oder Motivation zu erforschen. Man versorgte, ohne nachzuprüfen, ja man hielt sich bei Kontrollen fast schon auffällig zurück. In der ers-ten Geschichte waren es vorwiegend Privatleute, die den falschen Baron mit Geld und Essen unterstützten. Im zweiten Fall war es der Rat einer Stadt. Der falsche Formosaner Psalmanazar wiederum profitierte zunächst vom Londoner Lesepublikum und von hochrangigen Institutionen wie Kirche und Universität. Die Frage drängt sich auf, ob solch mangelndes Interesse an armen Fremden ein Zufall war oder ob die Unterstützer vielleicht gar nicht so genau wissen wollten, wohin ihr Geld ging. Vermuten ließe sich sogar, dass dahinter ein strukturelles Problem in der Beziehung zwischen fremden Armen und frühneuzeitlicher Armenversorgung stand. So klagte ein Beobachter um 1700, es sei „zu betauren daß man nicht auf mittel bedacht ist, dergleichen leute ein wenig zu probiren, und ein unterschied zu machen“, bevor man sie versorgte. Dieser Zeitgenosse bezog sich auf die große Zahl von Fremden, die seiner Meinung nach oft in betrügerischer Absicht und gerade unter dem Deckmantel religiöser Verfolgung Almosen hinterherjagten.
Und hier liegt eine weitere Gemeinsamkeit der drei Fallgeschichten: Alle kreisen um konfessionellen Druck – ob in Salzburg oder Ungarn, in England oder Formosa. Zweifellos ist die Spaltung der christlichen Bekenntnisse im Gefolge der Reformation einer der zentralen Vorgänge in der Geschichte Europas. Das gilt genauso für die Migrationsgeschichte. Der falsche Salzburger Baron spielte auf die Emigration der Salzburger Protestanten an, die Ungarn in Dresden standen im Kontext der Auswanderungen von evangelischen Bewohnern der Habsburgermonarchie, und der falsche Formosaner hatte in Wirklichkeit einen hugenottischen Hintergrund. Religiös motivierte Emigrationen waren den Zeitgenossen wohlbekannt. In diesem Zusammenhang konnten Migranten nicht nur geschickt ihre Position als Fremde ausspielen und auf mangelndes Detailwissen der Einheimischen hoffen. Ebenso kokettierten sie mit dem Bedürfnis nach Ordnung bei den Ortsansässigen. Ziel der Fremden war dabei zunächst einmal Solidarität und Unterstützung für sich selbst. Die Aufnahmegesellschaft aber half vor allem dann, wenn durch Almosen ihre gewohnte Sicherheit erhalten werden konnte. Geld- und Naturalienspenden dienten vor allem der kurzfristigen Versorgung. Sie verbanden sich mit der Hoffnung, die Armen würden rasch weiterziehen. Dass Spenden nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit zusammenkamen, konnte den Almosenempfängern freilich gleichgültig sein.
Handelte es sich nun bei solchen Migranten um Sozialbetrüger – um die „Florida-Rolfs“ der Frühen Neuzeit? Oder sind diese Geschichten, von denen es noch viel mehr gibt, für die sich nur die Historiker lange Zeit nicht interessiert haben, eher Zeichen eines großen Bündels an Möglichkeiten zur Lebensbewältigung? Möglichkeiten, die gesellschaftlich zwar nicht gutgeheißen wurden, die man aber stillschweigend in Kauf nahm oder nehmen musste.
Moralische Maßstäbe
Betrachtet man das Spannungsfeld von frühneuzeitlicher Migration, Armut und Sozialversorgung, dann darf es in der Rückschau nicht darum gehen, solche Fälle als Abweichungen von der Norm zu präsentieren. Ebenso fruchtlos ist es, derartige Migrantenkarrieren nach moralischen Maßstäben von Gut und Schlecht zu messen. Viel eher können sie als ein beredter Ausdruck der Strukturbedingungen frühneuzeitlicher Mobilität dienen – einer Mobilität als temporärer Lebensform, mit all ihren Licht- und Schattenseiten.
Für die Menschen der Vormoderne gehörten Ortswechsel zu den üblichen Optionen der Lebensbewältigung. Für Millionen verband sich damit die Hoffnung auf ein auskömmliches Dasein oder auf die Verbesserung von Zukunftschancen. Wenn es nun aber um eine Verbesserung des Lebens ging, wie kam es dann zu sozialen Abstiegen? Warum kamen so viele Migranten mit der Armenversorgung in Kontakt, die sie zuvor als Sesshafte vielleicht nicht beansprucht hätten?
Es gibt Schätzungen, nach denen ein Drittel bis die Hälfte aller Menschen zwischen 1500 und 1800 ein- oder mehrmals im Leben ihren Wohnort wechselten. Das bedeutet, dass viele Menschen irgendwann in Orten ankamen, wo ihre gewohnten Lebensbedingungen nicht mehr gleichermaßen gültig waren wie in der Ausgangsregion. Der Soziologe Alfred Schütz hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass ein Fremder der ansässigen Bevölkerung deshalb fremd ist, weil er keine ‚Geschichte‘ hat. Gemeint ist: keine Vergangenheit, die er mit den Einheimischen teilt. Was er vorher war und was er für ein Mensch ist, das muss die Aufnahmegesellschaft erst herausfinden. Der Fremde ist gleichsam plötzlich da und muss sich oft mühevoll und langsam das erarbeiten, worüber die Lebenswelt der Ansässigen bereits verfügt. Dazu gehören materielle Dinge genauso wie immaterielle. Vertrauen, Verlässlichkeit, Kreditwürdigkeit und soziale Netzwerke müssen nach einem Ortswechsel jeweils neu ausgehandelt werden. Erst sie ermöglichen die Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben: Man denke nur an Existenzgründungen, an Heiratsmärkte und vieles mehr.
Dass sich aber umgekehrt für Migranten innerhalb dieser kontingenten Situation fast zwangsläufig auch neue Möglichkeiten eröffneten, liegt auf der Hand. Wer über das nötige Vertrauen nicht verfügt, ja wer darüber nicht oder noch nicht verfügen kann, der muss eben sehen, wie er sich durchs Leben schlägt. Die Grauzone war groß zwischen legalen Strategien auf der einen Seite und anderen Formen der Lebensbewältigung, die man als illegal einstufen konnte, weil sie die öffentliche Ordnung erschütterten oder weil die knappen Ressourcen einer Gesellschaft in Gefahr gerieten. Das änderte freilich nichts daran, dass Migranten Geld brauchten und, anders gewendet, Bedürftige häufig mobil waren.
Mobilität war damit eine soziale Herausforderung für die Migranten ebenso wie für die Ansässigen. Und Migrationen erforderten Solidarität. Unter den Migranten, die nicht selten in einer halbweltartigen Subkultur überleben mussten, aber auch unter den Nichtmigranten, die sich mobilen Gruppen gegenüber entweder abschlossen oder, wenn es sich nicht vermeiden ließ, scheibchenweise mit Zugeständnissen entgegenkamen. Durch Almosen oder durch begrenzte soziale und wirtschaftliche Teilhabe, aber eben doch nur so weit wie nötig, um die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung zu gewährleisten. Eine Integration von Migranten in bestimmte sozioökonomische Teilbereiche sollte Unordnung verhindern und Sicherheit erhalten. Erinnern mag dies durchaus an manche Leitlinien aktueller Zuwanderungspolitik. Für die Frühe Neuzeit war das aber auch nichts Ungewöhnliches.
Obhutspflicht
Migranten brauchten Unterstützung, weil Ortswechsel schon immer kostspielig waren und weil die gewohnten Arbeitsmöglichkeiten und Sozialbeziehungen nicht mehr existierten. Es lag daher nahe, dass Neuankömmlinge erst einmal mit den Einrichtungen der Sozialversorgung eines Gemeinwesens in Kontakt kamen. Aber auch hier machte man es ihnen nicht leicht. Schon die Zeitgenossen unterschieden säuberlich zwischen bedürftigen Einheimischen, also sogenannten Hausarmen, und fremden Armen. Hausarme hatten mehr Berechtigung zum Erhalt von Almosen, denn man kannte sie. Man wusste um ihr Schicksal, man teilte ihre Lebensgeschichte. Nicht zuletzt hatte ein Gemeinwesen aber auch eine gewisse Obhutspflicht seinen Bewohnern gegenüber. Oftmals handelte es sich bei Hausarmen dementsprechend um alte, alleinstehende, kranke Menschen, häufig um Frauen. Das deutet darauf hin, dass Bedürftigkeit in der Frühen Neuzeit nicht unterschiedslos jeden traf, sondern eine generationsspezifische, aber auch eine geschlechterspezifische Komponente hatte.
Für bedürftige Migranten galten Unterschiede nach Alter und Geschlecht auch, aber sie wirkten sich anders aus. Anders als bei den Hausarmen scheinen sich unter fremden Armen mehr Menschen zu finden, die weder alt noch weiblich waren. Das kann man zum Beispiel aus Bittschriften an Behörden oder aus Almosenrechnungen schließen. In epochenübergreifender Perspektive hält man gerade jüngere Männer für die mobilste Bevölkerungsgruppe, und es gibt starke Indizien dafür, dass dies in der Frühen Neuzeit nicht anders war. Dementsprechend standen fremde Arme oft zumindest latent im Verdacht, sogenannte „starke Bettler“ zu sein: jung, gesund, arbeitsfähig und nicht auf Almosen angewiesen.
Soziales Leben in der Vormoderne beruhte auf persönlichen Kontakten, auf „Face-to-Face-Beziehungen“. Fremde Arme, die man ja nicht persönlich kannte, mussten sich durch Zeugnisse ausweisen: auf Papier oder „am Leibe“. Letzteres betraf körperlich Versehrte. Wem ein Bein fehlte, der hatte es schwerer bei der Suche einer Arbeit, und man billigte ihm Bedürftigkeit zu. Ein Zeugnis auf Papier brauchten dagegen zum Beispiel sogenannte „Abgebrannte“, die nach einer Feuersbrunst am Heimatort von Stadt zu Stadt zogen, um Geld zu sammeln. Ein Zeugnis auf Papier brauchten theoretisch auch sogenannte Exulanten, die ihre Mobilität mit konfessioneller Verfolgung begründeten. Gerade sie konnten aber gerade im 17. und frühen 18. Jahrhundert oft nichts Entsprechendes vorweisen. Die Obrigkeiten reagierten nach einer gewissen Zeit immer zurückhaltender auf derartige Religionsflüchtlinge. Das bedeutete konkret, dass die Höhe der Almosenzahlungen für Exulanten zurückging, ohne dass aber die Zahl der Menschen zurückging, die sich als Exulanten bezeichneten. Zugleich findet man um das Jahr 1700 städtische Mandate, die besagen, dass man niemanden mehr aufnehmen oder versorgen wollte, der nicht über entsprechende Papiere verfügte oder zuvor schon durch ein sicheres Drittland gezogen war.
Auch die territoriale Gesetzgebung verschärfte anfangs des 18. Jahrhunderts den Druck auf Migranten massiv: Jeder hatte sich bei Eintritt in ein Gemeinwesen an der ersten amtlichen Stelle zu melden und um Zeugnisse anzusuchen, vor allem wenn er Almosen sammeln wollte. Ein Zeugnis aus dem Herkunftsland allein reichte dafür nicht mehr aus.
Eine Integration von Migranten in bestimmte sozioökonomische Teilbereiche sollte Unordnung verhindern und Sicherheit erhalten.
Die Mandatspraxis sagt allerdings wenig aus über den Alltag. Ausweisdokumente waren von Hand geschrieben und ließen sich entsprechend leicht fälschen. Und aufgrund der Offenheit frühneuzeitlicher Grenzen und der Überforderung der Exekutive war nicht zu verhindern, dass Menschen ohne Ausweis oder mit falschen Papieren trotzdem in ein Land oder eine Stadt kamen. Sie zogen dort ungeniert bettelnd von Haus zu Haus oder von Kirche zu Kirche. Besonders gern an Markttagen oder Feiertagen: zum einen, weil die Illegalen dann unter den vielen legalen Fremden weniger auffielen, zum anderen, weil die Chancen auf hohe Almosen an solchen Tagen besonders gut waren. Das führte dazu, dass professionelle Migranten sich bereits vor einer Reise sehr genau überlegten, wann sie an welchem Ort sein wollten. Reiserouten wurden vorab festgelegt, sodass man in sinnvoller Reihenfolge Jahrmärkte bereiste und Feiertage an lukrativen Orten verbrachte. Hierzu musste man auch beachten, dass katholische und protestantische Territorien im 17. Jahrhundert über unterschiedliche Kalender verfügten. Hohe Feiertage wie Ostern konnte man so bei geschickter Reiseplanung und entsprechenden Geografiekenntnissen im Abstand von elf Tagen gleich zweimal ausnutzen.
Der städtischen Obrigkeit entgingen solche Strategien nicht: In Dresden fanden ausgangs des 17. Jahrhunderts die Verhaftungen mobiler Bettler gerne an Samstagen statt. Bedürftige waren an den Wochenenden nämlich besonders zahlreich in Städten anzutreffen, weil sie Markt- und Kirchtage kombinierten und darauf hofften, ihre Spendeneinnahmen dank der vielen Besucher deutlich steigern zu können.
Hier verdeutlicht sich das Spannungsfeld zwischen Migration, Illegalität, Bedürftigkeit und Armenversorgung. Um moralische Wertungen geht es dabei nicht – weder zwischen guten und schlechten Migranten noch zwischen Wandernden mit hehren Motiven einerseits (Pilger, Glaubensflüchtlinge, politische Exulanten) und Wirtschaftsflüchtlingen andererseits, die angeblich nur dem schnöden Mammon hinterherjagten. Eher müsste man wohl unterscheiden zwischen geschickteren und weniger geschickten Migranten: zwischen denen, die fehlendes Vertrauen der Ansässigen durch Informationsgewinnung und Netzwerkbildung auf der Straße ersetzten (und deren Geschichten niemals aktenkundig wurden) und denen, die dabei mit dem Gesetz der Sesshaften in Konflikt gerieten. Letztere mussten in Amtsstuben Auskunft über ihr Vorgehen geben, sie wurden verurteilt oder ausgewiesen, und es sind ihre Fälle, die man heute in den Archiven findet.
Skepsis ist auch angebracht, wenn man legale, offiziell sanktionierte oder instrumentalisierte Wanderungen vorgeblich größerer Gruppen (Hugenotten, Salzburger Emigranten) von ‚illegaler‘ Mobilität trennen will. In vielen individuellen Biografien waren diese Übergänge nämlich fließend und keineswegs irreversibel. So wenig man gute und schlechte Wandernde unterscheiden kann, ebenso wenig kann man zwischen ‚Migranten‘ und ‚Vaganten‘ trennen. In persönlichen Lebensläufen oszillierte eine Wanderung immer wieder zwischen Migration als Ausnahme und Mobilität als Lebensform. In einer solchen Grauzone bewegten sich nicht nur Gaukler und Spielleute, die oft wohl mehr mit Arbeitsmigranten als mit heimatlosen Herumtreibern gemein hatten. Schwer zuzuordnen waren auch reisende „Studiosi“, bei denen es sich oft nicht um Studenten im engeren Sinn handelte.
Spendenwürdiges Schicksal
Gerade das Spannungsfeld von Mobilität und Armenversorgung zeigt, dass auch ‚typische‘ Migranten sich in der Rückschau nicht leicht einordnen lassen. Viele von ihnen waren eben nur zeitweise auf Almosen angewiesen, aber jeder Migrant stand im Moment der Bedürftigkeit zwangsläufig vor dem Problem, sein persönliches Schicksal spendenwürdig zu machen. Er durfte sich selbst nicht als schlechten, sondern musste sich als guten Wandernden darstellen. Nach Ansicht der Zeitgenossen waren ‚gute‘ Migranten diejenigen, deren Wandern Bestandteil der akzeptierten Gesellschaftsordnung war, also zum Beispiel Handwerksgesellen. Andere ‚gute‘ Migranten waren deshalb auf der Straße, weil ihnen unverschuldet ein Unglück zugestoßen war, oder sie waren gleichsam im Auftrag des Herrn unterwegs. Persönliches Unglück und religiöse Motivation verband sich nach dieser Auffassung im Schicksal von Exulanten oder Glaubensflüchtlingen. So begründeten viele Exulanten ihr Leben auf der Straße und ihre Bedürftigkeit genau damit, dass sie Religionsflüchtlinge waren. Sie hatten für die göttliche Wahrheit Haus und Hof verlassen müssen und sich lieber für ein Leben im „Elend“ entschieden (wobei Elend hier sowohl sozial im Sinn von „Armut“ als auch räumlich im Sinn von „Fremde“ verstanden werden muss). Für den Glauben hatten sie die Heimat aufgegeben. Faktisch gelangten auch Exulanten oft nicht gleich an einen konkreten Zielort, wo sie dann sofort sesshaft geworden wären, sondern zogen oft längere Zeit umher. Dabei lebten sie von städtischer oder kirchlicher Armenversorgung oder von mobilen Berufen. Unter ihnen scheint es, dass vor allem die Männer arbeitend oder bettelnd unterwegs waren, während ihre Frauen sich häufig eher an einem Exil-Ort aufhielten. Hier werden nun auch die vermeintlich klar umrissenen Migrantengruppen wie die „Hugenotten“ oder die „Böhmischen Exulanten“ an ihren Rändern ausgesprochen schwer erfassbar. Vor diesem Problem standen die frühneuzeitlichen Obrigkeiten genauso wie heutige Historiker.
Aus Sicht der Aufnahmegesellschaft war auch gegenüber ‚guten‘ Migranten Solidarität und Unterstützung in erster Linie keine moralische oder religiöse Angelegenheit. Vielmehr war sie eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit und in überschaubarem Rahmen schlichtweg oft das kleinere Übel. Es ging darum, dass Fremde die gesellschaftliche Ordnung so wenig wie möglich störten. Wo dies aber den Migranten nicht ausreichte, weil sie an vielen sozialen Zusammenhängen nicht teilhatten, da stieg die Bedeutung von Solidarität unter Migranten: durch Ansiedlung in bestimmten Einwanderervierteln oder in Vorstädten für nicht- beziehungsweise unterbürgerliche Schichten, durch eigene Gottesdienste oder bestimmte Gewerbezweige (die sie teilweise selbst neu schufen), aber eben auch bei der Straßenbettelei. Je selbständiger und zugleich undurchsichtiger ein migrantisches Milieu werden konnte, desto interessierter und zugleich desto hilfloser verfolgten die Obrigkeiten das untere Spektrum der Migration.
Fremde Arme standen oft zumindest latent im Verdacht, sogenannte „starke Bettler“ zu sein: jung, gesund, arbeitsfähig und nicht auf Almosen angewiesen.
Zu betonen ist dabei, dass die Verbindung von Armut und Fremdheit selbst ein Konstrukt ist: konstruiert durch obrigkeitliche Erwartungshaltungen, aber auch durch die Lebensstile und die Lebensorganisation der Betroffenen. So wenig Armut und Fremdheit für sich genommen objektiv messbar sind, so sehr ist ihre Beziehung jeweils nur als Prozess des Aushandelns mit den ‚Etablierten‘, ‚Normalen‘, Sesshaften, Nicht-Armen zu verstehen. Aber wer erst einmal unten angekommen war, dem standen dann doch wiederum eine ganze Reihe von Möglichkeiten offen.
Wie also wurde man zum armen Fremden und was gehörte zu einem Leben im mobilen Prekariat der Frühen Neuzeit? Für solche Fragen begann sich das ordnungspolitische Establishment verstärkt um das Jahr 1700 zu interessieren. Um diese Zeit lässt sich in mehreren deutschen Territorien beobachten, wie die Obrigkeiten die Armengesetzgebung verschärften. Dies betraf insbesondere auch Nichtsesshafte: Arme, Vaganten, Exulanten und Konvertiten sollten besser erfasst werden, sie sollten sich bei den Behörden melden, ein Ausweisdokument beantragen und andernfalls des Landes verwiesen werden – gegebenenfalls unter Anwendung frühneuzeitlicher Ehrenstrafen wie des Staupenschlagens. In diesen Kontext gehört auch die Gründung von Zucht- und Arbeitshäusern, in die man Angehörige mobiler Schichten stecken wollte. Wie sich diese mobilen Bevölkerungsteile bislang durchs Leben schlugen und warum es so schwer war, sie in die Gesellschaft zu integrieren, schilderte zur selben Zeit unter anderem ein lutherischer Geistlicher aus der Kleinstadt Ellrich am Südrand des Harz. Diesen Bericht, der eigentlich mehr eine Klageschrift ist, könnte man aus heutiger Sicht gleichsam als Leitfaden für diejenigen verstehen, die sich im Untergrund durchs Leben schlugen.
Die „Betrügerei der Landbettler“ machte der Ellricher Pfarrer zunächst einmal daran fest, dass die „Landbettler“ mit falschen Ausweispapieren und Attesten unterwegs waren. Erkennen könne man dies an den vielen Rechtschreibfehlern in solchen Dokumenten. Aber auch wer Originalpapiere bei sich trug, der konnte sie sich auf unlautere Weise erschlichen haben, weil die Verwaltungen viel zu überlastet waren, um jeden Antrag genau zu prüfen. Siegel und Wasserzeichen hätten für zusätzliche Glaubwürdigkeit bürgen sollen. Aber auch Siegel – selbst fürstliche – wurden, so der Pfarrer, in Fälscherwerkstätten professionell nachgemacht, und Wasserzeichen im Papier sah sich kaum jemand an: Wenn doch, dann konnte man leicht feststellen, dass das Papier der Dokumente nicht, wie vorgegeben, aus entfernten Gegenden stammte, sondern von nahegelegenen Papiermachern. Außerdem wurden in Wirtshäusern und Herbergen oftmals Atteste und Ausweisdokumente gestohlen, die dann anderen zur Legitimation dienten. In einer Zeit handgeschriebener Personalpapiere war dem Unterschleif Tür und Tor geöffnet.
Bettler hatten allerdings noch eine weitere Möglichkeit sich auszuweisen. Das waren Kollektenbücher, die sie mit sich führten. Dort schrieb man die Orte hinein, die man besucht hatte, und die Spenden, die man erhielt. In diese Kollektenbücher trugen sich auch die Spender selbst mit der jeweiligen Geldsumme und ihrer Unterschrift ein, und dies wiederum sollte dann weitere Spender zu entsprechenden Gaben ermuntern, denen man das Buch vorlegte. Wie der Ellricher Geistliche allerdings klagte, war auch das inzwischen eine wenig vertrauensfördernde Methode: So waren oft viele Einträge frisiert: aus niedrigen Beträgen machte man höhere, damit nachfolgende Spender mehr geben würden, oder die Bettler trugen selbst mit verstellter Schrift Spenden ein, die es nie gegeben habe. Immer wenn man betrügerischen Bettlern auf die Schliche kam, indem man ihre Dokumente genauer prüfte, dann machten sich die Bettler aus dem Staub – und ließen die Papiere einfach liegen. So hatte der Ellricher Pfarrer nach eigener Aussage inzwischen „fast ein Schubkarn“ voll falscher Briefe, Siegel und Kollektenbücher sichergestellt – von den armen Fremden fehlte längst jede Spur.
Institutionalisierung
Dieser wahrhaft ernüchternde Bericht des Pfarrers aus Ellrich findet sich im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle. Und das nicht ohne Grund: Solche Darstellungen dienten an der Wende zum 18. Jahrhundert unter anderem den lutherischen Pietisten dazu, großangelegte Bemühungen um eine Armenversorgung außerhalb von Politik und Institutionenkirche voranzutreiben. Die Unterstützung von Bedürftigen sollte nun nicht mehr nur eine wirtschaftliche und soziale Komponente aufweisen, sondern ging auch mit Erbauung der Betroffenen und einer Erziehung zur Gottesfurcht einher. Dass eine stärkere Institutionalisierung der Armenversorgung zugleich aber auch immer mehr fremde Arme zu produzieren schien, das blieb auch den Halleschen Pietisten nicht verborgen.
Solidarität mit fremden Armen war jedenfalls für den Pietismus nicht immer der selbstlose Wille zur guten Tat. Dahinter stand auch ein höheres Ziel, nämlich der Bau des Reichs Gottes auf Erden. Geschenke und Almosen kamen jedenfalls nie ausschließlich dem Almosenempfänger zugute, sondern immer auch dem Schenkenden, der dadurch im besten Fall Klientelbeziehungen schaffen, Abhängigkeiten herstellen und Macht stärken konnte, allermindestens aber durch gute Taten und fromme Stiftungen etwas für sein Seelenheil tun konnte, indem der Almosenempfänger für ihn betete. Diese Auffassung war relativ konfessionsübergreifend verbreitet, auch wenn sie eher ‚katholisch‘ als ‚evangelisch‘ anmuten mag.
Die Produktion und der Erhalt fremder Armer stellte jedenfalls, genauso wie ihre Versorgung, gleichsam eine gesellschaftliche Notwendigkeit dar. Fremde Bedürftige zu unterstützen, trug in der Epoche der Frühen Neuzeit zur individuellen und kollektiven Selbstvergewisserung bei – von der Hoffnung auf Seelenheil des Spenders bis zum Bau des Reichs Gottes auf Erden; von Ruhe und Ordnung im Gemeinwesen bis zur Festschreibung von Zuordnungen: Für Migranten war eine Solidarität untereinander überlebenswichtig, weil sie soziale Bindungen und Vertrauen ersetzen musste. Aus Sicht der Ansässigen war die Versorgung armer Fremder essenziell, weil sie die Besinnung auf das Eigene stärkte. So gesehen besaßen der falsche Salzburger Baron, die Ungarn in Dresden, die nicht sterben wollten, oder der Formosaner, der Sonne und Mond anbetete, eine gesellschaftsstabilisierende Funktion. Not macht erfinderisch – mit allen Risiken und vielen Chancen.