Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur

Aleida Assmann über den Holocaust als neuen Gründungsmythos und den schwelenden „Bürgerkrieg der Erinnerungen“ in Europa.

Online seit: 25. September 2019

Vor 130 Jahren machte sich der französische Philosoph Ernest Renan Gedanken über die Zukunft des Nationalstaats. Dabei kam er zu dem Ergebnis: „Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal begonnen, sie werden einmal enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen.“1 Ende des 19. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt der nationalstaatlichen Entwicklung, konnte sich Renan bereits eine andere Entwicklung vorstellen. Heute, nach annähend 60 Jahren Geschichte der europäischen Konföderation, müssen wir Renan recht geben, aber nicht uneingeschränkt. Die Nationalstaaten haben sich nicht aufgelöst; sie sind, wie man auf englisch sagt, ‚alive and kicking‘. Es gibt sogar Stimmen wie die von Tony Judt, die wieder auf die Nationalstaaten setzen und der EU keine Zukunftschancen einräumen. Das Buch dieses Europessimisten, wie er sich selbst tituliert, trägt den Titel: Große Illusion Europa.2

Von Benedict Anderson haben wir inzwischen alle gelernt, dass wir Nationen nicht als naturhafte Gebilde, sondern als wandelbare historische Konstrukte und ‚vorgestellte Gemeinschaften‘ verstehen müssen. Die Überzeugungs- und Wirkungskraft von Nationalstaaten liegt also nicht allein in ihrer politischen Verfassung, in ihrer Wirtschaftsorganisation oder Verwaltungsstruktur, sondern gerade auch in einem gefühlsmäßigen Vorstellungsgehalt, den die Bewohner eines Landes miteinander teilen. Genau hundert Jahre vor Benedict Anderson sprach Renan 1882 noch in der ihm verfügbaren Sprache des 19. Jahrhunderts von einer „Seele“ der Nation, aber auch bereits von einer Erinnerungs- (und Vergessens-)Gemeinschaft: „Was die Nation ausmacht, ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes von Erinnerungen.“3 Der Inbegriff eines solchen die einzelnen Regionen des Landes und seine Bewohner miteinander verbindenden symbolischen Vorstellungsgehalts ist ein nationaler Mythos. Dieser Mythos kann ebenso auf die Vergangenheit gegründet wie auf die Zukunft ausgerichtet sein. Der Literaturkritiker Leslie Fiedler hat zum Beispiel betont, dass die amerikanische Nation im Gegensatz zu der englischen oder französischen nicht durch ein gemeinsames Erbe, sondern durch einen gemeinsamen Traum zusammengehalten wird. „Als Amerikaner“, so drückte er sich aus, „sind wir Bewohner einer gemeinsamen Utopie und nicht einer gemeinsamen Geschichte.“4

Die Europäer, so könnte man mit Fiedler weiterdenken, sind beides: Bewohner einer gemeinsamen Utopie und einer gemeinsamen Geschichte. In Europa ist beides untrennbar miteinander verbunden. Der amerikanische Traum besteht bekanntlich darin, dass ein jeder, eine jede es in der Gesellschaft ohne Ansehen der Person, ihrer Klasse, ihres Geschlechts oder ihrer Rasse zu etwas bringen kann. Mit Barack Hussein Obama, dem 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten, ist dieser Traum in eindrucksvollster Weise eingelöst worden. Der europäische Traum ist aber nicht weniger beeindruckend: Er besteht in der Überzeugung, dass aus ehemaligen Todfeinden friedlich koexistierende und sogar eng miteinander kooperierende Nachbarn werden können. Da wir in den letzten Jahrzehnten an vielen erschütternden Beispielen gesehen haben, wie schnell immer wieder das Umgekehrte passiert und aus friedlichen Nachbarn Todfeinde und Massenmörder werden, ist gerade auch der europäische Traum ein Kulturgut von höchster Bedeutung und ungebrochener Aktualität.

Europäische Parlamentarier auf der Suche nach der korrekten Bezeichnung für Auschwitz: „Polnisches Vernichtungslager“ oder „Hitlers Nazi-Todeslager“?

So weit, so gut, aber wir sind in Europa noch nicht am Ziel. Den Europäern fehlt es noch am Selbstbewusstsein, sie sind noch nicht wirklich die Bewohner ihres Traumes und ihrer Geschichte. Was ihnen fehlt, ist jene mobilisierende und identitätsbildende Kraft, die Nationalstaaten in einer integrierenden Symbolik finden. Die Bindungskraft in Europa ist nicht nur schwach, die Nachbarschaften stehen auch immer wieder unter komplexen und mehr oder weniger ausgesprochenen Spannungen. Dabei sind seit längerem viele kluge Köpfe damit beschäftigt, die imaginäre Gemeinschaft Europas zu imaginieren. Wie könnte man sich diese Gemeinschaft vorstellen? Aus was für Vorstellungen könnte sich dieses gemeinsame Selbstbild Europas zusammensetzen, das die Differenz der unterschiedlichen Nationalstaaten anerkennt und überwölbt? Ganz anders als die Amerikaner sind die Europäer die Erben einer sehr langen Geschichte, die bis in die griechische und römische Antike zurückreicht und über die Bibel auch Überlieferungsströme des Vorderen Orients mit aufgenommen hat. Wo immer man hinreisen mag- in West- oder Ost ebenso wie Süd- oder Nord-Europa ist der Boden gesättigt mit archäologischen Spuren und Geschichten, ob es sich nun um die der Römer oder der Kelten, der Hunnen, der Langobarden oder der Wenden handelt. Die Europäer sind aber auch die Erben einer gemeinsamen Geschichte, die wesentlich kürzer zurückliegt. Das ist die Geschichte zweier Weltkriege von ungekanntem Ausmaß, die Europa in Trümmer gelegt haben. Während die Amerikaner von dem Versprechen eines Neubeginns ausgehen, gehen die Europäer von dieser gemeinsamen Erfahrung der Zerstörung aus. Bevor sie sich zur Einheit und Vereinigung ihrer Nationen bekannten, haben sie die bittere Erfahrung einer ungekannten Entfesselung von Gewalt machen müssen. Die europäische Utopie ist deshalb nicht jenseits der Geschichte entstanden, sondern eine direkte Antwort auf die Geschichte. Wenn wir also fragen, was Europa im Innersten zusammenhält, dann müssen wir bei dieser Geschichte und ihrer Verarbeitung ansetzen. Europa als vorgestellte Gemeinschaft – das kann dann auch heißen: Europa als Erinnerungsgemeinschaft und Erbe einer traumatischen Geschichte. Ich möchte drei Fragen dazu stellen und genauer diskutieren:

1) ob Europa auf dem Wege zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur ist
2) welche Hindernisse auf diesem Wege liegen und
3) wie diese Hindernisse möglicherweise aus dem Weg geräumt werden können.

Der Holocaust als europäischer Gründungsmythos

Die Geschichte des vereinigten Europas hat 1950 mit der Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion begonnen. Diese Maßnahme, die ursprünglich als Kriegsprävention gedacht war, wurde zur Keimzelle einer sich stetig ausweitenden Wirtschaftskooperation. Der gemeinsame wirtschaftliche Wiederaufbau bewährte sich aber nicht nur als Kriegsprävention, sondern auch als Anästhesierung der Erinnerung an die traumatische Geschichte. Nach dem Zusammenbruch Europas 1945 stand überall die Nachkriegszeit zunächst im Zeichen der praktischen Bewältigung von Lebensproblemen, sowie der sozialen und politischen Integration. Der Kalte Krieg war zugleich eine Eiszeit der Erinnerung. Es dauerte 20 Jahre, bis der Holocaust aus seiner Überlagerung und Verdeckung durch den Zweiten Weltkrieg allmählich (wieder) zum Vorschein kam, weitere 20 Jahre, bis diesem Menschheitsverbrechen im Weltbewusstsein ein Platz zugewiesen wurde, und dann noch einmal 20 Jahre, bis dieses Ereignis in die Form einer transnationalen Kommemoration überführt wurde.

Nach dem Fall der Mauer und dem darauf folgenden Zusammenbruch der Sowjetunion war die sich rapide nach Osten erweiternde Europäische Union auf der Suche nach einer neuen Identität. Auf welche Basis sollte diese Identität gestellt werden? Der Historiker Dan Diner hat bereits in den 1990er Jahren betont, dass es auf die Frage nach einem gemeinsamen europäischen Bezugspunkt in der Vergangenheit nur eine Antwort geben könne: der Holocaust. Der historische Schauplatz dieses ‚Zivilisationsbruchs‘, wie wir seither dieses Menschheitsverbrechen nennen, überziehe ganz Europa. Der Tatort des Holocaust war ja nicht nur Auschwitz, sondern dehnt sich über ganz Europa aus. „In erster Linie“, schreibt Dan Diner, „kontaminiert Auschwitz das Gedächtnis von Juden und Deutschen. Aber auch andere europäische Gedächtnisse werden in den Orbit des Ereignisses gezogen.“5 Deshalb sei der Holocaust der paradigmatische ‚lieu de mémoire‘ Europas und jede kulturelle Identitätskonstruktion Europas müsse von diesem Gedächtnismittelpunkt ausgehen.

Ein Jahrzehnt später können wir feststellen, dass Diners Einschätzung bestätigt und weitgehend umgesetzt worden ist. Die Entscheidung für den Holocaust als Gedächtnismittelpunkt Europas schlägt sich in der gedächtnispolitischen Einführung eines neuen Gedenktages nieder. Der 27. Januar 1945, Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, war 1996 durch eine Initiative des deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog als ein neuer gesamtdeutscher Gedenktag eingeführt worden. Vier Jahre später ist ihm der schwedische Präsident Göran Persson gefolgt, der im Rahmen einer internationalen Holocaust-Konferenz im Januar 2000 in Stockholm ein transnationales Erinnerungsnetzwerk ins Leben rief. Die Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF) setzte sich ein doppeltes Ziel; es bestand darin,

1. die Erinnerung an den Holocaust über die Schwelle des neuen Millenniums zu tragen und in ein Langzeitgedächtnis zu verwandeln, das die zeitliche Begrenzung des lebendigen Zeitzeugengedächtnisses überwindet und
2. die Erinnerung an den Holocaust über die nationalen Grenzen zu tragen und eine transnational-europäische Erinnerungsgemeinschaft zu gründen mit einer ausgedehnten Infrastruktur von Institutionen, Finanzen und Netzwerken.

Die zeitlich wie räumlich ausgedehnte Erinnerungsgemeinschaft der ITF umfasst inzwischen 26 Staaten, zu denen neben den USA, Israel und Argentinien ausschließlich europäische Länder gehören. In diesem Zuge wurde der 27. Januar als neuer Holocaust-Gedenktag in vielen europäischen Ländern eingeführt. Nicht selten ersetzte er dabei bestehende Gedenktage.6 Am 27.1.2005, fünf Jahre nach der Stockholm-Konferenz, gedachte zum ersten Mal das Europäische Parlament in Brüssel der Befreiung von Auschwitz mit einer Schweigeminute und verabschiedete eine Resolution, in der Holocaust-Gedenktag als Präventiv gegen ein Erstarken von Antisemitismus in Europa und den Aufstieg rechter Parteien eingeführt wurde. Darin heißt es:

„Das Europäische Parlament (…) bekräftigt seine Überzeugung, dass Gedenken und Aufklärung wesentliche Elemente sind, um Intoleranz, Diskriminierung und Rassismus auszumerzen, und fordert den Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, Antisemitismus und Rassismus verstärkt zu bekämpfen, indem insbesondere bei jungen Menschen das Bewusstsein für die Geschichte und die Lehren aus dem Holocaust geschärft wird, indem das Gedenken an den Holocaust gefördert wird und zu diesem Zweck der 27. Januar in der gesamten Europäischen Union zum Europäischen Holocaustgedenktag erklärt wird.“7

Man teilt die gemeinsame Erinnerung an die Gedächtnis-Ikone Auschwitz und hofft gleichzeitig, die eigene nationale Identität nicht zu kontaminieren.

Die Resolution wurde mit 617 Stimmen und zehn Enthaltungen ohne Gegenstimmen angenommen. Ganz einfach war der Abstimmungsprozess indessen nicht. Das zeigt eine Kontroverse um die richtige Formulierung, in der unterschiedliche nationale Perspektiven aufeinander trafen. Ein polnischer Parlamentarier, der Anstoß daran genommen hatte, dass von Auschwitz als einem „polnischen Vernichtungslager“ die Rede war, schlug die Formel des „von den Deutschen“ erbauten Vernichtungslagers vor. Der deutsche Vertreter wiederum wehrte sich gegen diese Formel und schlug dagegen die Formulierung „Hitlers Nazi-Todeslager“ vor. Schließlich wurde eine Kompromissformel angenommen, die Auschwitz als „Nazi-Deutschlands Todeslager“ bezeichnet. Das Bekenntnis zur Holocaust-Erinnerung als gemeinsamem negativen Gründungsmythos Europas führt immer wieder, wie diese Debatte zeigt, zu Selbstschutz-Mechanismen der ‚Externalisierung‘ (Rainer M. Lepsius), das heißt zum Wunsch nach einem Sicherheitsabstand von dem Ereignis: Die europäischen Nachbarn verweisen auf die Deutschen, und die Deutschen verweisen auf Hitler. Man teilt die gemeinsame Erinnerung an die Gedächtnis-Ikone Auschwitz und hofft gleichzeitig, die eigene nationale Identität nicht zu kontaminieren.

Seit 2005 gehört der Eintritt in die Holocaust-Erinnerungsgemeinschaft zu den Beitrittsauflagen der EU. Die Übernahme der Verpflichtungen innerhalb des Netzwerks der ITF einschließlich der Einführung des neuen Gedenktages bildet damit gewissermaßen das Eintrittsbillett für die Aufnahme in die Europäische Union. Im selben Jahr schloss sich der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, dieser Initiative an und bestimmte den 27. Januar als Jahres-Gedenktag für die Opfer des Holocaust. Damit erweiterte sich der Horizont des Gedenkens von einer europäischen zu einer globalen Erinnerungsgemeinschaft. Der Tag wurde definiert als ein Appell an das Weltgewissen und als ein dringender Aufruf, frühzeitig und entschieden gegen Intoleranz, Fanatismus, Vorurteile, Ignoranz und Hass vorzugehen. Mit dieser Erweiterung und Verallgemeinerung über die europäischen Schauplätze hinaus verstärkte sich der moralische und verdünnte sich gleichzeitig der historische Gehalt dieser Erinnerung. Die Verwandlung des Holocaust von einem paradigmatisch europäischen ‚lieu de mémoire‘ zu einer universalistischen Gedächtnisikone ist von Dan Diner kritisiert worden, der darin eine Verlustgeschichte sieht; durch Universalisierung und Anthropologisierung verliere das Ereignis seine historische Spezifizität und werden aus seinen konkreten lokalen Bezügen, Geschichten und Verantwortungen gelöst. Wir brauchen hier nicht den (im Wortsinne) europäischen ‚Erinnerungsort‘ Auschwitz gegen die universale Gedächtnisikone des Holocaust auszuspielen. Das Ausmaß dieses Verbrechens an den europäischen Juden, sowohl was die Durchführungsform als auch seine lange Vorgeschichte angeht, ist absolut einmalig und drängt von daher bereits über nationale und europäische Grenzen hinaus wo nicht in ein Weltbewusstsein, so doch in ein ‚westliches Bewusstsein‘, das nicht mehr hinter diese Erfahrung zurück kann und sich von hier aus neu definiert. Allerdings müssen wir anerkennen, dass die Qualität dieser Erinnerung in Europa notwendig eine andere ist als in Regionen, die mit dieser Geschichte nicht unmittelbar in Berührung gekommen sind. Die Gefahr besteht genauer gesagt darin, dass in Europa die abstrakte Erinnerung die historisch spezifische überlagert und sich damit wie ein Schleier des Vergessens nicht nur über die konkreten Spuren und materiellen Relikte, sondern auch die historische Verantwortung legt. Volkhart Knigge hat deshalb vor einem naiven (im Sinne von pauschalen) „Import von Konzepten, etwa dem der Holocaust-Education“ gewarnt.8

Um noch einmal Dan Diner zu zitieren: „In erster Linie kontaminiert Auschwitz das Gedächtnis von Juden und Deutschen. Aber auch andere europäische Gedächtnisse werden in den Orbit des Ereignisses gezogen.“9 Das Mega-Verbrechen, das von den Deutschen konzipiert, angestoßen und mit größtem Einsatz durchgeführt wurde, hätte ohne die aktive Kollaboration und Duldung anderer nicht ganz so effektiv verwirklicht werden können. Deshalb beruht die Qualität und Lebendigkeit der europäischen Erinnerung gerade auf ihrer Konkretheit und damit auf den lokalen und persönlichen Bezügen, die sich in einer nur noch rituell aktivierten globalen Gedächtnisikone auflösen. Die authentischen historischen Orte können als begehbare Geschichtsbücher aufgefasst werden, zu denen freilich der jeweilige Text immer erst noch geschrieben werden muss, und dieser Text kann auch gleich noch die Geschichte des Vergessens und Erinnerns an diesem Ort mit umfassen. Die Qualität dieser Erinnerung beruht eben nicht nur auf staatlichen Vorgaben, Verordnungen und rituellen Vollzügen, sondern auch weitgehend auf der Entfaltung von Aktivitäten im Rahmen eines zivilgesellschaftlichen Engagements. Es spiegelt sich in der Gründung von Bürgerinitiativen, Förder- und Trägervereinen, in der Benennung von Gremien, Häusern, Schulen und Straßen, die die traumatische Geschichte ins Bewusstsein der örtlichen Gemeinden zurückholen. Es spiegelt sich ebenso in Ausstellungen, denkmalschützerischen Aktivitäten, baulichen Rekonstruktionen, Geschichtslehrpfaden und der Einrichtung von Gedenk- und Begegnungsstätten. Seit einem Jahrzehnt wird dieses Erinnern immer mehr zu einer gemeinsamen Aufgabe, die die Ansässigen vor Ort mit den von weit her anreisenden Familien der Opfer zusammenführt. Bürgerinitiativen und Arbeitskreise, Geschichtswerkstätten und heimische Spurensuche kreuzen sich hier mit den Suchbewegungen der Angehörigen der Opfer und ihrem Wunsch, entscheidende Orte der Familiengeschichte zu besichtigen, zu markieren, mit aufzubauen und durch Spenden zu unterstützen. Die Erinnerung geht in dieser Zusammenarbeit von den bereits verstorbenen Überlebenden und Zeitzeugen auf die nächste Generation über; Kinder und Enkel der Betroffenen lernen sich kennen, lernen voneinander und rekonstruieren gemeinsam die Orts- und Familiengeschichte. Diese wichtige gemeinsame Erinnerungsarbeit ist eine ausschließlich lokale Angelegenheit, von der wir in den überregionalen Medien wenig erfahren. Die authentischen Orte werden aber immer wichtiger als ein Korrelat und Gegengewicht zu einer standarisierten Holocaust-Erziehung amerikanischer Prägung, die die lokalen Gegenwartsbezüge weitgehend ausblendet.10

Das gespaltene Gedächtnis Europas

Das nach amerikanischem Muster komponierte transnationale Gedächtnis des Holocaust trifft in den Ländern Europas auf unterschiedliche nationale Erinnerungskonstellationen und -konflikte. Nach 1989 und dem Aufbrechen des bipolaren politischen Rahmens des Kalten Krieges kam es, wie oft betont worden ist, zu einer eruptiven Wiederkehr von Erinnerungen. Diese Entwicklung nahm im Westen und Osten Europas allerdings einen unterschiedlichen Verlauf. In den westlichen Nationen Europas kehrte die Erinnerung an den Holocaust zurück, in den östlichen Nationen Europas kehrte die Erinnerung an den Stalinismus zurück. Das führte unter den Intellektuellen damals zu erheblichen Irritationen. Man diskutierte die beiden Erinnerungen ausschließlich im Lichte der Frage, ob ein Vergleich zwischen den Massenverbrechen Hitlers und denen Stalins statthaft sei. Mit der Frage regte sich zugleich der Verdacht, die eben erst im Aufbau begriffene Holocaust-Erinnerung solle unter der neuen Gedächtnisschicht des Stalinismus schon wieder zum Verschwinden gebracht werden.11 Über der leidigen Frage, ob man die beiden gewaltigen Menschheitsverbrechen nun vergleichen dürfe oder nicht, geriet gänzlich aus den Augen, dass natürlich diese beiden Erfahrungen ins europäische Gedächtnis aufzunehmen sind. Das ist bisher aber nicht geschehen. Während die jüdischen Opfer seit den 80er Jahren eine stetig anwachsende öffentliche Anerkennung ihrer Leiden erfuhren, erhielten die Opfer des Stalinismus, die massenhaft deportiert, gefoltert, durch Zwangsarbeit ausgebeutet und ermordet worden waren, keinen entsprechenden Platz im moralischen Weltbewusstsein. Trotz Solschenizyn und anderer Berichte und Darstellungen blieben diese Erinnerungen weitgehend auf die Opfer selbst, ihre Familien und kleine Gruppen beschränkt. Vor allem aber bestand eine wesentliche Asymmetrie zwischen der Erinnerung der Opfer und dem Vergessen der Täter. Nach einer kurzen Phase der Anerkennung unter Gorbatschow hat man in Russland dieses Verbrechen wieder aus dem historischen Gedächtnis getilgt. Der Hüter dieses Gedächtnisses ist das Netzwerk Memorial, eine NGO, die aber in Russland nicht nur auf keine staatliche Unterstützung rechnen kann, sondern im Gegenteil als Stimme einer unliebsamen Opposition selbst der Zensur und Repression des Staates ausgesetzt ist. Wir brauchen uns nur einmal den Unterschied zwischen den beiden NGOs der International Task Force einerseits und Memorial andererseits vor Augen zu stellen, um die enorme Status-Diskrepanz dieser beiden Erinnerungen an Menschheitsverbrechen wahrzunehmen.

Eine europäische Geschichtserinnerung im Zeichen der Menschenrechte ist unglaubwürdig, wenn sie diese osteuropäische Erfahrung mit dem Verweis auf ‚the lesser evil‘ herunterspielt oder ganz verdrängt.12 Die von den Tätern verdrängte und von den Westeuropäern nicht aufgenommene Erinnerung an die Opfer des Stalinismus wurde unter diesen asymmetrischen Bedingungen immer heißer und rückte ins Zentrum der nationalen Gedächtnisse ehemaliger Ostblockstaaten. Durch selbstbezügliche Kultivierung ihres Opferstatus entfernen sich diese immer mehr von ihrer europäischen Identität, werden unempfindlich für andere Opfer und stellen zum Teil eine Bedrohung für ihre eigenen Minderheiten dar.

Janusz Reiter, ehemaliger polnischer Botschafter in Deutschland, hat das gespaltene europäische Gedächtnis auf den Punkt gebracht: „Was seine Erinnerungen angeht, so ist die Europäische Union ein gespaltener Kontinent geblieben. Nach seiner Erweiterung verläuft die Grenze, die die EU einst von den östlichen Staaten getrennt hatte, nun mitten durch sie hindurch.“ Dieses gespaltene Gedächtnis steht im Spannungsfeld zweier Erinnerungsbrennpunkte: des Holocaust und des Gulag, die dem Zusammenwachsen einer europäischen Gedächtniskultur vorerst noch im Wege stehen. Diese Schattenlinie, die durch die europäische Gedächtnislandschaft verläuft, ist inzwischen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. In einem Vortrag über „Das Gedächtnis der Shoah als mémoire croisée der verschiedenen politischen Systeme“ hat Eva Kovács die unterschiedliche Matrix west- und osteuropäischer Erinnerungskonstruktionen genauer herausgearbeitet.13 Sie wirft westlichen Historikern und Politikwissenschaftlern vor, dass sie ausschließlich westliche Gesellschaften und diese in einer rein westlichen Perspektive untersuchen. Dafür zieht sie eine Metapher des Historikers Charles S. Maiers aus der Kernphysik heran, mit der dieser den Unterschied zwischen dem Gedächtnis des Nationalsozialismus und dem des Kommunismus beleuchtet hat: Das „heiße“ Gedächtnis des Nationalsozialismus habe, wie Plutonium, eine lange Halbwertzeit in der Geschichte, während das „kalte“ Gedächtnis des Kommunismus wie Tritium eine wesentlich kürzere Halbwertzeit habe.14 Sie kommentiert die Situation in Osteuropa mit folgenden Worten: „Soweit ich abschätzen kann, trat in den postsozialistischen Staaten gerade der umgekehrte Fall ein: Das Gedächtnis des Kommunismus wurde zu einem heißen Topos, der sogar Massen mobilisieren kann, während das Gedächtnis des Nationalsozialismus kalt geblieben ist.“

Ich möchte hier noch einen weiteren Aufsatz anführen, in dem Emmanuel Droit zwei Gedächtnisaktivistinnen einander gegenübergestellt hat. Sie können jeweils als Galionsfiguren des westlichen Holocaust-Gedächtnisses und des östlichen Stalinismus-Gedächtnisses gelten.15 Die eine ist Simone Veil, Holocaust-Überlebende, überzeugte Europapolitikerin und seit 2000 Vorsitzende der französischen Stiftung für das Gedenken der Shoah. Sie wiederholt bei ihren öffentlichen Auftritten den Leitsatz „Die Shoah ist unser aller Erbe“, den sie zum basalen Erinnerungsimperativ der westlichen Zivilisation erklärt.16 Die andere ist Sandra Kalniete, Gulag-Überlebende, aktive Schlüsselfigur im Unabhängigkeitskampf Lettlands von 1990 und frühere lettische Außenministerin. Sie kämpft ihrerseits für die Anerkennung der Opfer des stalinistischen Terrors im europäischen Gedächtnis. Sie macht geltend, dass auch ein Siegergedächtnis sich gegen diese Verbrechen nicht immunisieren dürfe, die in die Verantwortung des heutigen Russlands fallen, und betont: Der Kampf und Sieg „gegen den Faschismus kann nicht als etwas gesehen werden, das die Sowjetunion, die zahllose Unschuldige im Namen einer Klassen-Ideologie unterdrückte, für immer von ihren Verbrechen entschuldet.“17

Die doppelte Last der Geschichte hat in der politischen Arena die Form einer Erinnerungskonkurrenz angenommen.

Anders als im Nachkriegsdeutschland gab es in Russland keinen Identitätswechsel des politischen Regimes. Im Gegenteil konnte sich die Siegernation mit den anderen Alliierten moralisch auf der richtigen Seite wissen. Ohne eine solche Zäsur und einen entsprechenden Außendruck besteht aber kein inneres Bedürfnis, die dunklen Episoden der eigenen Geschichte aufzuarbeiten und zu erinnern. Solange sich jedoch zwischen den Nachfolgern der Opfer und Täter kein dialogisches Anerkennungsverhältnis über die schuldhafte Geschichte einstellt, wie dies im Verhältnis zwischen Juden und Deutschen geschah, wird dieses Opfer-Gedächtnis im Höchstgrad der Erhitzung verbleiben und anderen „kalten“ Erinnerungen den Einlass versperren. Anstelle eines Erinnerungskonsenses und der Aufnahme beider Menschheitsverbrechen ins europäische Gedächtnis hat diese doppelte Last der Geschichte in der politischen Arena die Form einer Erinnerungskonkurrenz und gelegentlich auch die eines Erinnerungskampfes angenommen.

Etwa zur gleichen Zeit, als die Frage nach dem Vergleich der beiden Massenverbrechen noch aus der Sorge heraus tabuisiert wurde, die Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus könnte die Erinnerung an das Verbrechen des Holocaust relativieren, wurde eine salomonische Formel gefunden, die es erlaubt, der Sorge des Vergleichs explizit zu begegnen und das Gespenst der Relativierung zu bannen. Die Formel sollte ursprünglich ein deutsches Problem lösen, aber sie kann sich auch bewähren im Umgang mit Hindernissen auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur. Sie entstand in einer Historikerkommission, die über der Frage der Gewichtung der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen zu zerbrechen drohte. Bernd Faulenbach löste damals den Konflikt mit zwei salomonischen Sätzen:

1. Die Erinnerung an den Stalinismus (wir können dafür auch einsetzen: an die Verbrechen und Leiden des Zweiten Weltkriegs) darf die Erinnerung an den Holocaust nicht relativieren.
2. Die Erinnerung an den Holocaust darf die Erinnerung an den Stalinismus (bzw. an die Verbrechen und Leiden des Zweiten Weltkriegs) nicht trivialisieren.18

Dieses Beispiel zeigt, dass Erinnerungskonflikte dialogisch überwunden werden können, wenn es gelingt, einen Konsens im Dissens auszumachen. In diesem Falle wird durch Hierarchisierung die Integration und Koexistenz unterschiedlicher Erinnerungen möglich. Gleichzeitig verwandelt sich ein unversöhnliches, auf Verdrängung ausgerichtetes Entweder Oder in ein Sowohl als Auch.

Dialogische Erinnerungskultur

Es gibt aber nicht nur Gegensätze, es gibt auch merkwürdige Asymmetrien im europäischen Gedächtnis. Während sich die Holocaust-Erinnerung inzwischen weit über die europäischen Grenzen ausgedehnt hat, tut sich innerhalb Europas eine signifikante Leerstelle auf. In Russland ist nicht nur das Gedächtnis des Stalinismus gänzlich verdrängt, auch das Gedächtnis des Holocaust findet dort keinen Anhaltspunkt. Das ist jedoch paradox. Am 27. Januar wird inzwischen in immer mehr Nationen jährlich der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Jahre 1945 gedacht, doch die Befreier selbst gehören nicht zu dieser ständig wachsenden Erinnerungsgemeinschaft. Dabei ist die Rote Armee im postsowjetischen Russland durchaus Gegenstand intensiver nationaler Kommemoration. In deren Zentrum steht der ‚Große Vaterländische Krieg‘, in dem Hitler durch Stalin überwältigt wurde. Diese Leistung, das schlechthin Böse mit großen Verlusten heroisch überwunden zu haben, bildet heute im postsowjetischen Russland den Kern des historischen Selbstverständnisses und nationalen Gedenkens. Die Russen erinnern sich an den 9. Mai 1945, und also nicht an das Ende des Massenmords an den europäischen Juden, sondern an das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Sieg der ruhmreichen Roten Armee samt der zivilen Opfer.

In seinem Buch über Gegenläufige Gedächtnisse erkennt Dan Diner im „Auseinandertreten von Krieg und Holocaust“ die Tendenz eines „ohnehin diagnostizierbaren Verfalls des geschichtlichen Denkens und des ihn begleitenden Verlustes historischer Urteilskraft“.19 Dieses Auseinandertreten von Krieg und Holocaust hatte bereits das Geschichtsbild des Kalten Krieges bestimmt, als die Erinnerung an den Krieg die Erinnerung an den Holocaust gänzlich verdeckte. Dafür ist das heutige russische nationale Gedächtnis ein deutliches Beispiel: Es konstruiert über den problematischen, image-schädigenden Systemwandel von 1990/91 hinweg eine lange historische Kontinuität von russischer Ehre und russischem Leid. Das ehemalige internationalistische Selbstbild ist dem affirmativen Selbstbild einer imperialen Nation gewichen.20 Dieses Selbstbild versperrt sich der Aufnahme eines Gedächtnisses, das nicht die eigenen, sondern fremde Opfer betrifft. Für das tiefgründig negative Holocaust-Gedächtnis, das mit einem positiven Bekenntnis zu und Einsatz für Menschenrechte verbunden ist, hat das heroisch nationale Kriegsgedächtnis des heutigen Russland keinen Platz.

Wie können diese Asymmetrien und Grenzen überwunden werden und Europa von einer gespalten zu einer integrierten und gemeinsamen Gedächtniskultur finden? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich den Begriff des „dialogischen Erinnerns“ einführen. Darunter verstehe ich eine Erinnerungspolitik zwischen zwei oder mehreren Staaten, die durch eine gemeinsame Gewaltgeschichte miteinander verbunden sind, und die gegenseitig ihren eigenen Anteil an der traumatisierten Geschichte des anderen anerkennen und empathisch das Leiden des anderen ins eigene Gedächtnis mit einschließen. Dialogisches Erinnern steht deshalb auch für die wechselseitige Verknüpfung und Aufrasterung allzu einheitlicher Gedächtniskonstruktionen entlang nationaler Grenzen.21 Der Weg zu einem dialogischen Gedächtnis ist freilich ein weiter, denn in aller Regel ist das nationale Gedächtnis monologisch organisiert; es hat die Aufgabe, die nationale Identität zu stützen und zu zelebrieren. Das Prisma des nationalen Gedächtnisses tendiert deshalb stets dazu, die Geschichte auf einen akzeptablen Ausschnitt zu verengen. Angesichts einer traumatischen Vergangenheit gibt es üblicherweise überhaupt nur drei Rollen, die das nationale Gedächtnis akzeptieren kann: die des Siegers, der das Böse überwunden hat, die des Widerstandskämpfers und Märtyrers, der gegen das Böse gekämpft hat, und die des Opfers, das das Böse passiv erlitten hat. Was jenseits dieser Positionen und ihrer Perspektiven liegt, kann gar nicht oder nur sehr schwer zum Gegenstand eines akzeptierten Narrativs werden und wird deshalb auf der offiziellen Ebene ‚vergessen‘.

Nach Ende des Kalten Krieges und der Öffnung der Archive kompliziert sich das Geschichtsbild Europas. Es kam zu mehreren Erinnerungsschüben, die den Holocaust ins allgemeine Bewusstsein rückten und positive nationale Selbstbilder ins Wanken brachten. Aufgrund neuer Dokumente über Vichy und die Geschichte des Antisemitismus in Ostdeutschland waren Frankreich und die DDR nicht mehr ausschließlich Widerstandskämpfer, nach Waldheim und Jedwabne waren Österreich und Polen nicht mehr ausschließlich Opfer, und selbst die Schweizer mussten entdecken, dass sich die Banken und Grenzen in Erinnerungsorte verwandelten. Erinnerungen kamen in Schüben hoch und wurden debattiert, die die Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit der herrschenden Narrative unterminierten. Während im Westen Europas neue Daten über Kollaboration und Indifferenz gegenüber dem Generalverbrechen des Holocaust zu einer Krise nationaler Gedächtniskonstruktionen führte und deren teilweisen Umbau in Richtung größerer Komplexität zur Folge hatte, entstand im Osten Europas nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein politisches Vakuum, das mit neuen nationalen Gedächtniskonstruktionen gefüllt wurde, die sich auf die eigene Opfergeschichte konzentrierten. Es herrscht offensichtlich Platzmangel im nationalen Gedächtnis: Das eigene Leid beansprucht sehr viel mehr Platz als das Leid, das man anderen zugefügt hat.

Den monologischen Charakter des nationalen Gedächtnisses hat Marc Bloch bereits in den 20er Jahren kritisiert. Er schieb: „Hören wir doch endlich damit auf, uns ewig von Nationalgeschichte zu Nationalgeschichte zu unterhalten, ohne uns gegenseitig zu verstehen.“ Er sprach von einem „Dialog unter Schwerhörigen, bei dem jeder völlig verkehrt auf die Fragen des anderen antwortet.“22 Mit Blick auf den Holocaust ist das monologische Gedächtnis der Deutschen und Österreicher auf bestem Wege, einem dialogischen Gedächtnis zu weichen. Nicht nur ist die nationale Gedenkstätte Mauthausen der Ort eines gemeinsamen Gedächtnisses von Tätern und Opfern geworden, es gibt inzwischen auch ungezählte Erinnerungsinitiativen, die die Überlebenden und ihre Familien zurückholen und mit ihnen gemeinsam die Erinnerung an ihre Geschichte und die ihnen widerfahrenen Leiden pflegen. Entsprechendes ist für Europa erst teilweise in Sicht. Das nationale Gedächtnis existiert heute keineswegs mehr in Isolation, sondern ist mit anderen nationalen Gedächtnissen eng verbunden. Der Zweite Weltkrieg ist Teil eines europäischen Gedächtnisses, das von den Mitgliedstaaten nur gemeinsam und dialogisch getragen werden kann. Die Europäische Integration kann nicht wirklich fortschreiten, solange die monologischen Gedächtnis-Konstruktionen sich weiter verfestigen. Bei dem, was ich hier mit ‚dialogischem Erinnern‘ umschreibe, handelt es sich zwar noch keineswegs um eine allgemein praktizierte Form des Umgangs mit einer geteilten Gewaltgeschichte, aber doch um eine große kulturelle und politische Chance, die in dem Projekt Europa enthalten ist. Die Konstellation der Europäischen Union bietet einen einmaligen Rahmen für die Überführung von monologischen in dialogische Gedächtnis-Konstruktionen. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich sprach einmal von der „so lange aufgeschobenen Bearbeitung der Vergangenheit unter dem Realitätsprinzip“, die heute unter der Bedingung des Zusammenrückens in Europa umgesetzt werden kann.23

Richard Sennett hat betont, dass es einer Vielfalt widerstreitender Erinnerungen bedarf, um unangenehme historische Fakten anzuerkennen.24 Genau darin liegt das besondere Potential, das der europäische Erinnerungsrahmen bereithält und das bisher erst ansatzweise genutzt worden ist.

Es wird immer offenkundiger, dass das traumatische Erbe dieser verschränkten Gewaltgeschichte nicht länger in der beschränkten Grammatik traditioneller nationaler Gedächtniskonstruktionen bearbeitet werden kann. In dieser Geschichte gibt es vieles, was die Historiker wissen, was jedoch keinen Platz im nationalen Gedächtnis erhält, weil bisher der Druck eines persönlichen Bedürfnisses oder politischen Imperativs fehlte. Dazu gehören auch viele Gräuel des Zweiten Weltkrieges, die etwa die Deutschen an ihren Nachbarn verübt haben, was dort meist in sehr guter Erinnerung behalten wird. Während die jüdischen Opfer im Rahmen einer internationalen Erinnerungskultur ins allgemeine Bewusstsein gedrungen sind, wissen in Deutschland die nachwachsenden Generationen so gut wie nichts von den polnischen oder russischen Opfern der deutschen Kriegsführung. Während die Bombardierung Dresdens fest im deutschen nationalen Gedächtnis verankert ist, weiß man in Deutschland kaum etwas von der Zerstörung Warschaus durch die Deutschen oder von den Opfern des polnischen Aufstands, der meist mit dem durch Willy Brandts Kniefall berühmt gewordenen Ghetto-Aufstand verwechselt wird. Auch die Leningrader Blockade 1941-1944 durch die Wehrmacht, eine der längsten und destruktivsten ‚Belagerungen‘ der neueren Geschichte, bei der annähernd eine Million Russen verhungerten, hat keinen Platz im deutschen historischen Gedächtnis.25 Diese Ereignisse machen einen erheblichen Teil der Last der Vergangenheit aus und verformen nachhaltig die europäische Binnenkommunikation. Diese europäischen ‚lieux de mémoire‘ bilden keinen Schulstoff, finden keine Erwähnung in Diskursen und keine symbolische Repräsentation im öffentlichen Raum.

Es herrscht offensichtlich Platzmangel im nationalen Gedächtnis: Das eigene Leid beansprucht sehr viel mehr Platz als das Leid, das man anderen zugefügt hat.

An anderer Stelle habe ich „Regeln für einen kommunikativen Umgang mit Erinnerungen“ zusammengestellt. Hier möchte ich nur eine davon nennen. Unter Kontextualisierung verstehe ich die Fähigkeit, das Erlebte und Erinnerte in größere Zusammenhänge einzuordnen. Das kann immer nur nachträglich geschehen und ist eine kognitive Leistung der historischen Bildung und des historischen Bewusstseins. Die nachträgliche Einsicht in einen historischen Zusammenhang braucht die Wahrheit der standortgebundenen Erfahrungen nicht mundtot zu machen. Sie können jedoch, nachdem sie artikuliert und anerkannt wurden, in einen weiteren Horizont eingeordnet werden. Durch Einordnung in größere Zusammenhänge können Erinnerungen umgedeutet und auf diese Weise mit anderen Erinnerungen kompatibel gemacht werden. Das hat nichts mit Umfälschung zu tun, aber viel mit Horizonterweiterung. Während die monologische Erinnerung die eigenen Leiden ins Zentrum stellt, nimmt die dialogische Erinnerung das den Nachbarn zugefügte Leid mit ins eigene Gedächtnis auf. Dialogisches Erinnern mündet nicht in einen auf Dauer gestellten ethischen Erinnerungspakt, eine Form, die ausschließlich für die Holocaust-Erinnerung geprägt worden ist. Dialogisches Erinnern mündet in ein gemeinsames historisches Wissen um wechselnde Täter- und Opfer-Konstellationen. In dieser geteilten traumatischen Gewaltgeschichte sind beide Erinnerungen ‚aufgehoben‘. Ein vereinigtes Europa braucht kein einheitliches, wohl aber ein kompatibles europäisches Geschichtsbild. Das möchte ich hier deutlich unterstreichen: Es geht mir nicht um ein vereinheitlichtes europäisches Master-Narrativ, sondern um die dialogische Bezogenheit und gegenseitige Anschlussfähigkeit nationaler Geschichtsbilder. Die italienische Oral-History-Forscherin Luisa Passerini hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Unterscheidung eingeführt. Sie spricht von ‚shared narratives‘ (oder gemeinsamen Geschichten) und ‚shareable narratives‘ im Sinne von anschlussfähigen Geschichten.26 Dialogisches Erinnern ist im nationalen Gedächtnis verankert, überschreitet jedoch den Horizont der Nationen durch eine transnationale Perspektive. Erst auf der Basis der wechselseitigen Anerkennung von ehemaligen Opfern und Tätern kann sich der Blick auf eine gemeinsame Zukunft öffnen. Solange allerdings die verengten nationalen Geschichtsbilder dominieren, herrscht in Europa weiterhin ‚ein Dialog unter Schwerhörigen‘, um nicht zu sagen: ein schwelender ‚Bürgerkrieg der Erinnerungen‘. Aus der Sackgasse heroischer Mythen und Opferkonkurrenz führt allein, um mit Peter Esterhazy zu sprechen, „ein geteiltes europäisches Wissen über uns selbst als Täter und Opfer“.27 Das Prinzip des transnationalen dialogischen Erinnerns in Europa hat ein weiterer ungarischer Schriftsteller, nämlich György Konrad, auf den Punkt gebracht: „Es ist gut, wenn wir Erinnerungen austauschen und erfahren, was die anderen von unseren Geschichten denken. (…) Die gesamte europäische Geschichte ist zusehends Allgemeingut, das für einen jeden ohne die Verpflichtung nationaler oder anderer Befangenheiten zugänglich ist.“28 Auch damit hat Konrad noch keinen Ist-Zustand beschrieben, aber noch einmal das besondere Potential beim Namen genannt, das der kulturelle Rahmen der EU für seine Mitgliedstaaten bereithält.

Für meine Generation ist die unerwartet lange Friedensphase in Europa ein unwahrscheinliches und unverdientes Geschenk. Ich bin den Europäern zutiefst dankbar dafür, dass sie ihr Geschichtstrauma in einen Traum verwandelt und diesen weitgehend verwirklicht haben. Sie haben eine besondere Geschichtslast und damit auch ein besonderes Erinnerungspensum. Das gilt zunächst für das Trauma des Holocaust, das eine nationale, europäische und transeuropäische Erinnerung hervorgebracht hat. Da der Wert der Menschenwürde aus der äußersten Vernichtung der Menschenwürde gewonnen wurde, bleibt die positive Geltung dieses Wertes an seine negative Genese gebunden.29 Es gilt aber auch für die Traumata des Krieges und Nachkrieges, denn die gemeinsame Erinnerung an eine Gewaltgeschichte ist die wirksamste Methode, um die Voraussetzungen, die sie möglich gemacht haben, zu überwinden. Die Gewaltgeschichte hat die europäischen Nationen gespalten, die dialogische Erinnerung kann sie zusammenführen. In dem Maße, wie die Europäer Bewohner ihrer gemeinsamen Geschichte werden, festigt sich das Haus Europa. Genau das ist die unvollendete Utopie Europas.

1 Ernest Renan, „Was ist eine Nation?“, Vortrag, gehalten an der Sorbonne am 11. März 1882; in: Was ist eine Nation? und andere politische Schriften, Wien, Bozen 1995, 57.

2 Tony Judt, Große Illusion Europa. Gefahren und Herausforderungen einer Idee, München 1996. Original: The Grand Illusion? An Essay on Europe, New York 1996. Ähnlich hatte sich zuvor schon Alan Milward in seiner klassischen Studie ausgesprochen: The European Rescue of the Nation-State, London 1992.

3 Renan (wie Anm. 1), 56.

4 Leslie Fiedler, „Cross the Border, Close the Gap”, in: Wolfgang Welsch, Hg., Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, 57-74; hier: 73.

5 Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Toldot 7, Göttingen 2007, 39.

6 In Luxemburg verdrängte der neue Gedenktag, der 2007 zum ersten Mal begangen wurde, den 10. Oktober, den Jahrestag des Referendums von 1941. In Frankreich besteht der 27. 1. neben dem 16. Juli, dem Tag der größten Judenrazzia unter deutscher Besatzung („Rafle du Vel‘ d’Hiv”, 16./17. Juli 1942), an das sich die Franzosen seit 1995 erinnern, indem sie der „Opfer der rassistischen und antisemitischen Verbrechen der Vichy-Regierung“ gedenken und die französischen „Gerechten“ ehren. In den USA und in Israel hat der 27.1. als Gedenkdatum keine Geltung. In beiden Staaten findet das Holocaustgedenken im Frühjahr in Entsprechung zum 27. Nissan statt, dem Ende der 60er Jahre eingeführten israelischen Holocaust-Gedenktag.

7 (Amtsblatt der Europäischen Union vom 27. 1. 2005; /eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2005:253E:0037:0039:DE:PDF)

8 Volkhard Knigge, Nachwort in: ders., Norbert Frei, Hgg. Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, 445. Besonders deutlich hat sich dazu Reinhart Koselleck geäußert: „Schon gar nicht dürfen wir uns hinter Opfergruppen verstecken, etwa den Juden, als gewönnen wir damit ein Holocaustdenkmal wie andere Länder auf dem Globus auch.“, in: ebd., 28.

9 Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Toldot 7, Göttingen 2007, 39.

10 Die standardisierte Holocaust-Erziehung bringt noch ein anderes Problem mit sich, und das besteht in der strukturellen Entprivilegierung anderer Opfergruppen (um hier den Ausdruck ‚Verdrängung’ zu vermeiden). Da Erinnerung und (politische) Identität eng aufeinander bezogen sind, hat sich die größte Aufmerksamkeit bei der größten Opfergruppe der Juden verdichtet, die sich neben einem nationalen Gedächtnis in Israel auch auf die subnationalen Gedächtniskulturen der Diaspora stützen kann. Die Opfergruppe der Sinti und Roma dagegen, die bis heute zu einer nicht privilegierten und teilweise sogar noch immer verfolgten Minderheit gehört, kann sich auf keine entsprechenden Gedächtnisfundamente stützen. Auch ihr gebührt ein besonderer Platz im europäischen Gedächtnis.

11 Dan Diner zum Beispiel hat sich besonders emphatisch gegen einen Vergleich ausgesprochen, bzw. das Anliegen als solches bereits als ideologisch falsch diffamiert. Er vermutet, dass der Vergleich die insgeheime Annahme bestätige, „die Verbrechen Stalins seien verwerflicher als die der Nazis.“ Dan Diner, Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin 1995, 53.

12 Über das Problem der Hierarchisierung von Menschheitsverbrechen fand unter dem Titel ‚The Lesser Evil‘ vom 1.-3. April 2001 an der New York University in New York eine Historiker-Konferenz statt.

13 Die Veröffentlichung ihres Vortrags, den sie im Oktober 2005 auf der Konferenz ‚Do States need a Memory?‘ am internationalen Zentrum Kulturwissenschaften in Wien gehalten hat, findet sich unter der Adresse: http://www.eurozine.com/articles/article_2007-04-18-kovacs-de.html.

14 Charles S. Maier, „Heißes und kaltes Gedächtnis: Über die politische Halbwertszeit von Nazismus und Kommunismus“, in: Transit Nr. 22 (Winter 2001/2002).

15 Emmanuel Droit, „Die Shoah: Von einem westeuropäischen zu einem transeuropäischen Erinnerungsort?“, in: Kirstin Buchinger, Claire Gantet, Jakob Vogel (Hg.), Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt a.M., New York 2009, 257-265.

16 Ihre Holocaust-Autobiographie ist soeben auf deutsch erschienen: Simone Veil, Und dennoch leben. Die Autobiographie der großen Europäerin, Berlin 2009.

17 Zit. Nach Droit, 159. Sandra Kalniete hat ihr Schicksal in dem Buch Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie, München 2005, erzählt.

18 Bernd Faulenbach, „Probleme des Umgangs mit der Vergangenheit im vereinten Deutschland. Zur Gegenwartsbedeutung der jüngsten Geschichte“, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.): Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, 190.

19 Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse, 9.

20 Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse, 58.

21 Dazu ausführlicher: Aleida Assmann, „Europe: A Community of Memory?“ Twentieth Annual Lecture of the GHI, November 16, 2006, in: German Historical Institute Bulletin, No. 40 (Spring 2007), 11- 25.

22 Matthias Middell, Hg., Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992, Leipzig 1994, 159.

23 Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, Nachwort 1970, München 1977, 365.

24 Richard Sennett, „Disturbing Memories“, in: Patricia Fara, Keraly Patterson, Hgg., Memory, Cambridge UP 10-26; hier: 14.

25 Peter Jahn, „27 Millionen“, in: Die ZEIT Nr. 25 vom 14. Juni 2007.

26 Luisa Passerini, „Shareable Narratives? Intersubjectivity, Life Stories and Reinterpreting the Past“, Berkeley Ms. (August 2002), 5, 14.

27 Peter Esterhazy, “Alle Hände sind unsere Hände”, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 236, 11. Oktober 2004, 16.

28 György Konrad, „Aufruhr“. Rede zur Eröffnung des 50-jährigen Bestehens der Aktion Sühnezeichen am 3. Mai 2008 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. (www.asfev. de/fileadmin/asf_upload/aktuelles/Jubilaeum2008/gyoergy.pdf)

29 Vgl. Dazu Hans Joas, Gewalt und Menschenwürde. Wie aus Erfahrungen Rechte werden (Ms. 2009)

Der hier abgedruckte Text basiert auf einem Vortrag, der anlässlich der Verleihung des Paul-Watzlawick-Ehrenringes im Rahmen der Wiener Vorlesungen gehalten wurde.

Aleida Assmann, geboren 1947 in Gadderbaum bei Bielefeld, studierte Anglistik und Ägyptologie in Heidelberg und Tübingen. Seit 1993 ist sie Professorin für Anglistische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören seit geraumer Zeit die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung und die deutsche Erinnerungsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Zuletzt erschien Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen (Erich Schmidt Verlag, 2008) und Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (C.H. Beck, 2009).

Quelle: Recherche 2/2009

Online seit: 25. September 2019

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