Wer in Deutschland über die Vertriebenen schreibt oder nachdenkt, begegnet sich selbst: seiner Familie, Nachbarn oder Freunden. Noch für die jüngere Generation sind Vertriebene spürbare Gegenwart oder lebendige Vergangenheit. Die Präsenz der Vertriebenen selbst hat sich indessen in den vergangenen Jahrzehnten gravierend verändert. Als ich in den sechziger und siebziger Jahren in Lübeck aufwuchs, hörte ich sonntags das Ostpreußisch der Fischer an der Ostsee, es klang vertraut, unsere masurisch-ostpreußische Großmutter sprach es. Allenstein, Tilsit und Kolberg kannte ich von Straßennamen in Lübeck und entdeckte die Orte wieder auf der Landkarte im Schulzimmer – „zur Zeit unter polnischer Verwaltung“ oder unter sowjetischer. Mit dem rätselhaften Wort „Verwaltung“ zog sich ein grauer Schleier über das Familienland, das ich erst Jahre später, 1984, bereisen sollte. Gustav Heinemann wurde im März 1969 in der Ostpreußenhalle in Berlin von der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten gewählt, was eine Protestnote des Botschafters der Sowjetunion in Bonn und Behinderungen der Grenzkontrollen der DDR auf den Wegen in die geteilte Stadt nach sich zog. Das Ostpreußisch ist verklungen und mit ihm die vielen Erinnerungen an die „kalte Heimat“ der Großeltern, wie wir sie liebevoll spöttisch, beide Worte dabei lange dehnend, nannten.
Wer die Geschichte der deutschen Vertriebenen schreibt, begibt sich von Beginn an auf ein vermintes Gelände, auf dem alle Kategorien der Beschreibung den Sprengstoff vergangener politischer Kämpfe, Schuldzuweisungen, ideologischer Verzerrungen bergen und verbergen. Welche Begriffe auch immer die His-toriker dieser Geschichte wählen, sie müssen deren politische Semantik und deren Wandlungen bedenken. Der Begriff der „Vertriebenen“ ist nur scheinbar neutral. In der DDR nannte man sie euphemistisch „Umsiedler“. Andere nannten sie im Laufe der Zeit „Flüchtlinge“, sie selbst sich „Heimatvertriebene“. Man hat sie auch aus der Begriffswelt vertrieben.
14 Millionen Deutsche wurden 1944/45 vertrieben, zwei Millionen kamen auf der Flucht ums Leben, wurden getötet, starben an Entkräftung oder nahmen sich aus Gram, oft Jahre später, das Leben. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein einschneidendes Kapitel in der Geschichte des 20. Jahrhunderts und hatte bislang keine umfassende Darstellung gefunden. Ein Menschenleben später legt sie nun Andreas Kossert mit seinem Buch Kalte Heimat vor. Der jüngere Historiker hat die schwierige Aufgabe mit Bravour gemeistert – durch eine scheinbar einfache, aber nicht einfach zu gewinnende Prämisse: Er nimmt das Schicksal Millionen Vertriebener auswählend und abwägend in Augenschein und erschließt die Geschichte der politischen Deutung dieses Bevölkerungsschicksals aus dem einzelner Menschen. Denn auf dem Ganzen lastet die Hypothek der Nachkriegszeit, dass die Vertreibung die gerechte Folge des vorangegangenen nationalsozialistischen Völkermords, der Shoah, sei. Einzeluntersuchungen zur Vertreibung Deutscher gibt es etliche; eine Gesamtdarstellung müsste eben die folgenschwere Verwechslung von historischer Kausalität mit deren Legitimität aufnehmen, das Verschweigen von Unrecht, Raub und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Andreas Kossert zeigt eindrucksvoll die Geschichte des Verkennens, Umdeutens, legt offen, wie die politischen Parteien, allen voran die SPD, aber auch die CDU, die Vertriebenen als Wähler instrumentalisierten und doch der Geschichte, das heißt dem millionenfachen Leid und Unrecht auswichen, die ihren Mitbürgern widerfahren waren. 1974 ließ die sozialliberale Bundesregierung eine groß angelegte Dokumentation über Verbrechen an Deutschen während ihrer Vertreibung unveröffentlicht. Sie passte nicht ins Konzept der Annäherung von Ost und West. Das ließ die einzelnen Vertriebenen stumm und verbittert zurück. Das Tabu spiegelt sich auch in der deutschen Literatur: „Diese, wie immer du es nennen willst, Vertreibung, Flucht, Umsiedlung – ein ungeheurer Einschnitt in europäische Geschichte (…) kommt nicht vor in der deutschen Nachkriegsliteratur, nur bei Konsalik, nur in der Trivialliteratur“, schreibt Heiner Müller am Ende seines Lebens 1994. Das Buch Im Krebsgang von Günter Grass hat hernach einen anderen großen Maßstab gesetzt.
Eine Gesellschaft, die den staatlich verordneten Völkermord exekutiert hat, kann keine Humanität sich selber gegenüber entwickeln.
Andreas Kossert hat 2001 seine viel beachtete Geschichte über das vergessene Masuren und vor einigen Jahren ein Buch über Ostpreußen als Mythos und Wirklichkeit veröffentlicht. Er hat das besondere Nebeneinander verschiedener Völker, Sprachen und Kulturen im Grenzland Masuren gezeigt, die harte historische Realität Ostpreußens und den später so verklärenden Mythos, der sich damit verbindet. Andreas Kossert ist mit der vielgestaltigen Welt der Herkunft der deutschen Vertriebenen vertraut, mit dem kulturellen Reichtum Schlesiens, seinen Dialekten, mit der Geographie der Banater Schwaben, dem Pietismus der Bessarabiendeutschen wie mit dem Standesgefüge des baltischen Adels.
In seinem dritten Buch zeigt er den leidvollen Weg in den Westen, in die mitteldeutschen Länder oder in die drei westlichen Zonen, wo Vertriebene nach strengen, teilweise auf dem Lande sehr hohen Quoten aufgenommen wurden und hier wie dort nur eine kalte, frostig abweisende Heimat fanden. Einheimische nannten sie „Polackenpack“, „Zigeunergesindel“, Dithmarscher Bauern riefen, die ihnen zugewiesenen Vertriebenen vor Augen: „In de Nordsee mit dat Schiet“, der hessische Weingutbesitzer Dr. Wilhelm Kiedrich sagte: „Ihr Flüchtlinge gehört alle nach Auschwitz in den Kasten“. Das Wiesbadener Landgericht verhängte dafür eine Strafe von 1000 DM. Auf die Unwirtlichkeit unserer Städte blickend hat Alexander Mitscherlich 1965 von der „Herzlosigkeit“ in Deutschland gesprochen. Sie ist ein durchgreifendes Prinzip in der Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945.
Stärker noch als die Chronologie schildert Kossert die Geografie und Topographie der neuen kalten Heimat: den schiefen Lastenausgleich, die Rolle der Vertriebenenpartei bis 1953, Denkschriften, Predigten und Plädoyers der beiden großen Kirchen, die „Ostkunde“, ein um 1950 neu eingeführtes Unterrichtsfach, das man später wieder abschaffte, die ungarndeutsche Siedlung Sankt Stephan im südhessischen Griesheim, die Verpflanzung einer ganzen Lebenswelt. Allzu kurz behandelt Andreas Kossert dagegen die Geschichte der Ostverträge. „Mit diesem Vertrag geht nichts verloren, was nicht längst verspielt worden war“, hatte Willy Brandt am 12. August 1970 in seiner Fernsehansprache aus Moskau gesagt und vier Monate später in Warschau als Bundeskanzler mit dem Kniefall vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos ein Zeichen für alle Welt gesetzt. Die innenpolitische Debatte, die offiziellen Verlautbarungen der Vertriebenenverbände zu jener Zeit hätten ausführlich dokumentiert gehört, um deren Anachronismus offenzulegen.
Ihren Wert und ihre Wichtigkeit gewinnt diese Geschichte der Vertriebenen aus ihrer Einfühlsamkeit. Man spürt die kenntnisreiche Liebe Andreas Kosserts zur Welt der Vertriebenen, zu ihren Traditionen, ihren Liedern, zu ihren regionalen Küchen. Aber an keiner Stelle dieser leidvollen, traurigen Geschichte gibt er die Disziplin des Historikers preis. Er zeigt, wie die Vertriebenen ein Ferment der Modernisierung vor allem in der festgefügten ländlichen Welt Westdeutschlands wurden, wie sehr es Vertriebene waren, die der neuen Ostpolitik in den späten siebziger, den achtziger Jahren ein menschliches Gesicht gaben, indem sie als erste nach Polen reisten, Freundschaften schlossen, tatkräftig in ihrer alten Heimat halfen.
Andreas Kosserts Kalte Heimat zeigt, dass eine Gesellschaft, die den staatlich verordneten Völkermord exekutiert hat, keine Humanität sich selber gegenüber entwickeln kann. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945 beginnt 1933. Und Rassismus, Ausgrenzung anderer und Erbarmungslosigkeit Fremden gegenüber setzten sich in der Nachkriegszeit fort. Wer immer für ein europäisch akzentuiertes Zentrum der Vertriebenen plädiert; nach Andreas Kosserts Buch wird er die singuläre Geschichte der deutschen Vertriebenen darin genauer, umfassender, tiefer verorten können. 1951 reiste eine Delegation von Bundestagsabgeordneten und Ministerialbeamten, auf Anregung und auf Kosten der USA, von Deutschland nach Finnland, um sich über den Lastenausgleich für die vertriebenen finnischen Karelier zu informieren. Die deutsche Delegation fragte den Reichstagsabgeordneten Vennamo, wie viele Vertriebene bei der Verabschiedung der Gesetze im Parlament gewesen seien. Der finnische Abgeordnete gab die Antwort: „1945 waren wir alle Karelier.“