RECHERCHE In Ihrer neuesten Publikation wagen Sie Ausblicke auf die „nächste Gesellschaft“. In Ihrer Kernthese folgen Sie der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann, der den Übergang von einer Gesellschaft zur nächsten als „Katastrophe“ bezeichnet. Darunter versteht er den „Austausch eines Stabilitätssystems gegen ein anderes“. Was genau wird jetzt ausgetauscht und wie sieht die Katastrophe aus?
DIRK BAECKER Es wird mathematisch gesprochen nicht ein Stabilitätssystem gegen ein anderes ausgetauscht, sondern ein dynamischer Zustand des Systems gegen einen anderen dynamischen Zustand desselben Systems. Der Unterschied ist wichtig, weil man so von derselben Gesellschaft in einem anderen Zustand ihrer selbst sprechen kann. Und der Punkt beim Übergang von der modernen Gesellschaft zur nächsten Gesellschaft ist, dass mit dem Auftreten des Computers und seiner Derivate, vor allem des Internets, aber auch der Supercomputing Grids, die Strukturen der Gesellschaft, die dabei halfen, den Schock der Einführung des Buchdrucks zu verdauen, überfordert sind und in einem mühsamen und undurchsichtigen Prozess durch neue Strukturen ausgetauscht werden müssen, mühsam und undurchsichtig schon deswegen, weil man die nicht mehr ausreichenden Strukturen zum Teil jetzt erst kennen lernt. Zuvor hatte man sie ja für selbstverständlich gehalten und nicht eigens thematisiert. Das steckt hinter der These von der Umstellung von der Differenzierung der Gesellschaft in einzelne Funktionssysteme wie Kunst und Wissenschaft, Recht und Religion, Politik und Wirtschaft auf eine Differenzierung in wesentlich durchmischtere Netzwerke. Und, Hand aufs Herz, sind die Muster unserer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung nicht vielfach sogar noch die der antiken Schriftgesellschaft mit ihrer Differenzierung in soziale Schichten?
RECHERCHE In den einzelnen Beiträgen Ihrer Studie untersuchen Sie die Übergangseffekte der „nächsten Gesellschaft“ anhand der unterschiedlichsten Organisationsformen – Unternehmen, Universität, Familie –, aber auch in Bezug auf die Felder Arbeit, Architektur oder Theater. Sehen Sie sich konsequenterweise als einen „nächsten Wissenschaftler“, dessen Aufgabe in einer ebenso umfassenden wie spezifischen Beobachtung gesellschaftlicher Transformationen besteht?
BAECKER Ja, das kann man so sagen; ich stehe mit dem Standbein in der Moderne und mit einem durchaus zögerlichen Spielbein in der nächsten Gesellschaft, zumal ich natürlich beobachten muss, dass viele der möglicherweise für die nächste Gesellschaft wichtigen Strukturmerkmale bereits in der Moderne entwickelt worden sind. Aber ich bin Systemtheoretiker und der Systembegriff in seiner heutigen operationalen Fassung ist ein Zeitgenosse des Computers, der ihn von Anfang an vermutlich nicht zufällig begleitet.
RECHERCHE Ihre Texte formulieren oft „anstößige“ Beobachtungen zur Zukunft von Organisationen. Das Unternehmen der Zukunft etwa beschreiben Sie als „high reliability organization“ – in Anspielung auf Karl Weicks Untersuchungen zu Flugzeugträgern oder Intensivstationen. Unternehmen müssen sich also an Organisationsmodellen orientieren, die dauerhaft unter hohem Druck agieren. Wird der Ausnahmezustand zum Normalfall?
BAECKER Nicht wirklich. Aber es wird eine Umstellung von den Routinen der Standardisierung auf Routinen der Fehlerbeobachtung geben, aus denen raschere und zielgenauere Vorgaben für Erfolg versprechende Entscheidungen gewonnen werden können.
RECHERCHE Ein bemerkenswerter Satz in Ihrem Buch lautet: „All das klingt schlimmer, als es ist.“ Sie beschwören darin gewissermaßen die Kräfte individueller und gesellschaftlicher Selbstorganisation jenseits rationaler Planbarkeit. Der Satz fällt im Zusammenhang mit Überlegungen zu der für das Computerzeitalter signifikanten Transformation des Kontrollbegriffs. Werden wir in Zukunft in einer Gesellschaft leben, in der Kontrolle zur kommunikativen Grundtechnik avanciert?
BAECKER Ja, aber ich verwende hier den kybernetischen Kontrollbegriff (mit dem auch Gilles Deleuze in seinen viel zitierten Überlegungen zur Kontrollgesellschaft durchaus zu spielen wusste). Der kybernetische Kontrollbegriff stellt nicht auf Unterwerfung und Herrschaft, sondern auf wechselseitige Kontrolle, also auf „Kommunikation“ ab, getreu der Einsicht, dass man nur kontrollieren kann, wovon man sich kontrollieren lässt. Ich rede also von der Kontrolle, der Kevin Kelly 1990 sein nach wie vor lesenswertes Buch Out of Control gewidmet hat.
RECHERCHE In welchem Verhältnis wird die nächste Gesellschaft zur Kultur stehen? Niklas Luhmann führt einmal aus, dass die einzige Form, von Kultur zu sprechen, in der „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem“ liege. Könnte man die gegenwärtige Rede vom „Kampf der Kulturen“ als einen „Synchronisationsprozess“ der Weltgesellschaft bezeichnen?
BAECKER Ich zögere immer noch, mich auf einen Kulturbegriff festlegen zu lassen. Aber im Moment spiele ich mit dem Gedanken, die Kultur 1.0 der Stammesgesellschaft als rituelle Kultur, die Kultur 2.0 der antiken Hochkultur als Pflege (agri cultura), die Kultur 3.0 der Moderne als Vergleichskultur (historisch und regional unterschiedlicher Lebensformen) und die Kultur 4.0 der nächsten Gesellschaft als Ambivalenzkultur zu beschreiben. Denn an welchem Kulturverständnis arbeiten wir gegenwärtig? An einem Verständnis der Kultur als Ressource der Unverständlichkeit (der „Andere“, den wir verstehen sollen, um zu verstehen, dass wir ihn nicht verstehen können), derer wir dringend benötigen, um mit den zahllosen Missverständnissen der Weltkommunikation umgehen zu können und uns in Politik und Handel, Liebe und Wissenschaft nicht entmutigen zu lassen, wenn wir über die uns einst vertrauten Kreise hinausgehen. Das bewährt sich im Übrigen auch im Umgang mit dem Computer, dem Verständlichsten der Unverständlichen, und schafft uns Menschen eine für uns wieder erkennbare Nische.
Der Systembegriff in seiner heutigen operationalen Fassung ist ein Zeitgenosse des Computers, der ihn von Anfang an vermutlich nicht zufällig begleitet.
RECHERCHE Noch ein Wort zu Niklas Luhmann: In diesem Frühjahr erscheinen erneut drei Publikationen aus dem Nachlass – zehn Jahre nach seinem Tod. Die Systemtheorie scheint also noch lange nicht abgeschlossen oder gar überholt zu sein. Worin besteht das nach wie vor Gegenwärtige seiner Arbeit?
BAECKER Ich glaube, dass es nach wie vor die „große Theorie“ ist, die am meisten fasziniert, aber auch am meisten abschreckt. Und hinter der großen Theorie ahnt man einen unruhigen, einen guten, einen kreativen Geist, der ohne jede große Geste die Hoffnung auf die Möglichkeit der Beschreibung unserer Verhältnisse nicht aufgibt.
RECHERCHE In Bezug auf die Zukunft der Universität deuten Sie in Ihren Überlegungen zur „nächsten Gesellschaft“ den europaweiten Bologna-Prozess als Umstellung der Massenuniversität auf die „kleine Universität“. Mit welchem Profil von universitärer Forschung und Lehre müssen wir in Zukunft rechnen?
BAECKER Zunächst einmal müssen wir damit rechnen, dass die Universität einen Weg finden muss, mit den massiven staatlichen Eingriffen, die sich hinter der unschuldigen Vokabel der internationalen Vergleichbarkeit der Curricula und Abschlüsse versteckt, fertig zu werden. Im Moment sind die Universitäten so verschreckt und so angewiesen auf das wenige Geld, das sie vom Staat noch bekommen, dass sie diese Eingriffe fast kommentarlos hinnehmen, ein im Grunde einmaliger Vorgang in der langen Geschichte der Freiheit von Forschung und Lehre. Wenn sich hier jedoch einmal neue Formen gefunden haben werden, wird die Universität sich wie andere Organisationen auch von vertikaler Integration auf horizontale Netzwerke umstellen, das heißt, sie wird der Art und Weise ähnlicher werden, wie Wissenschaft immer schon organisiert war. Es wird kleine, trennscharfe Profile geben, die intelligenter als heute so „modularisiert“ sind, dass mehr Verschiedenes – Studienorte, Studiengänge, Studienziele – miteinander kombiniert werden kann als jetzt, und zwar je unterschiedlich nach den Kriterien von Studenten, Dozenten und Verwaltern.
RECHERCHE Sie haben seit kurzem den Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University Friedrichshafen inne. Was sind die speziellen Lehr- und Forschungsinhalte im Rahmen dieser Professur?
BAECKER Ich suche nach einem Verständnis von Kulturtheorie, das zum einen soziologisch ausgemünzt werden kann und zum anderen einen gewissen Abstand zu den Standards der Soziologie gewährleistet. Die Soziologie ist trotz einiger jüngerer Bestrebungen in dieser Richtung und trotz Bronislaw Malinowskis hervorragenden Vorarbeiten auf diesem Feld nicht gerade berühmt für ihre Fähigkeit, das Verhältnis von Körper, Bewusstsein und Gesellschaft in seiner Komplexität in den Blick nehmen zu können. Die Kulturtheorie und natürlich die Kulturkritik haben sich aber an diesem Verhältnis immer schon entzündet, denken Sie an Rousseau, denken Sie an Freud. Und unter einer Kulturanalyse versuche ich eine Untersuchung der Art und Weise zu verstehen, wie soziale, psychische und organische Unterscheidungen sich wechselseitig unterlaufend und absichernd ineinander greifen, um Knoten der Reproduktion menschlichen Lebens zu bilden. Das ist ein Verfahren, das ich auf das Lesen eines Buches, die Verabredung zu einem Spaziergang ebenso anwenden kann wie auf den Führungsstil eines Unternehmens oder die Problemstellung einer Wissenschaft.
RECHERCHE Die Zeppelin University vermittelt das Bild einer anderen, neuen Form von universitärer Kultur. Ist das Humboldt’sche Modell an seinem Ende angelangt, oder sehen Sie Unternehmungen wie die Zeppelin University eher als eine „vorausschauende Selbsterneuerung“ des Systems Universität?
BAECKER Ich bin ja, wie eingangs schon angedeutet, ein Vertreter der Idee der „Einmalerfindung“: Die Welt, das Leben, die Gesellschaft, das Gehirn, das Bewusstsein und eben auch die Universität sind nur einmal erfunden worden und erhalten sich seither in einem mehr oder minder radikalen Wandel ihrer historischen Formen. Die Universität ist unverwüstlich; und wenn es weiter gelingen sollte, sie verfallen zu lassen, wird sie an überraschenden Orten wieder auftauchen, in Seminaren auf Kirchentagen, in Geschäftsführerversammlungen von NGOs, auf Dramaturgensitzungen im Theater und in Klausuren von Unternehmen und Behörden. Die Zeppelin University sieht sich als Verwalterin der Idee der unbedingten Universität. Hier wird das Virus gepflegt, das sich in unterschiedlichen Praktiken der Gesellschaft seine Wirte sucht. Das heißt nicht, dass man sich nicht wieder mehr gesellschaftliche Unterstützung für die Universität wünschen kann; aber solange diese Unterstützung ausbleibt beziehungsweise sich in Effizienz- und Exzellenzinitiativen verwandelt, die einer Chimäre planbarer Forschung und wirksamer Lehre huldigen, findet die Universität eben in Lesezirkeln statt.