„Unterschicht“ – eine Gespensterdebatte

Mit dem Schichtenmodell der Gesellschaft ist die Unterstellung verbunden, dass der, der unten ist, seine Lage selbst verschuldet hat – sie gilt als Resultat der Lebensführung, nicht der strukturellen Rahmenbedingungen. Die gegenwärtige Vorstellung von der Unterschicht ähnelt damit frappant der moralisierenden Klassifikation von Charles Booth aus dem späten 19. Jahrhundert. Von Rolf Lindner

Online seit: 05. September 2019

Die Leugnung der Existenz einer sozialen Unterschicht durch Franz Müntefering, für den Historiker Hans-Ulrich Wehler „eine Vogel-Strauß-Taktik, die einem den Atem verschlägt“ (Wehler 2006), widerspricht jeder Alltagserfahrung. Stellt man die fortwährende Rede von der absinkenden, prekarisierten Mittelschicht in Rechnung, ist diese Leugnung schlichtweg absurd: Keine Mittelschicht ist denkbar, wenn es nicht zugleich so etwas wie eine Ober- und eine Unterschicht gibt. Die Schichtungsterminologie als Mittel sozialer Skalierung ist soziologiegeschichtlich gesehen mehr als konventionell und politisch durchaus mit dem sozialdemokratischen Gesellschaftsbild der Nachkriegszeit vereinbar. Der Rede von der gesellschaftlichen Schichtung wohnte immer auch ein Aufstiegsversprechen inne, ein Versprechen, das insbesondere über Bildung eingelöst werden sollte. Das große Jahrzehnt der Schichtungstheorie waren die langen 1950er Jahre, beginnend Ende der 1940er mit Ausläufern in die 1960er Jahre. Das 1961 erschienene Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) zum Thema „Soziale Schichtung und soziale Mobilität“ bildet diesbezüglich den Höhepunkt der Debatte in der bundesdeutschen Soziologie, lässt aber auch bereits deren Schwanengesang anklingen. Die funktionalistische Schichtungstheorie, Teil des soziologischen (Struktur-)Funktionalismus US-amerikanischer Provenienz, verstand sich, wenn nicht explizit, so doch implizit, als Antwort auf und Alternative zur marxistischen Klassentheorie. Ihr lag das Modell einer durch den Marktmechanismus regulierten, prinzipiell durchlässigen Gesellschaft zugrunde. Daraus resultiert auch das für dieses Modell konstitutive Zusammendenken von sozialer Schichtung und sozialer Mobilität, wie es im Titel des Sonderheftes exemplarisch zum Ausdruck kommt. Eine Gesellschaft, die in einem von dem Anthropologen und Soziologen W. Lloyd Warner entwickelten Sechs-Schichten-Schema von der Unteren Unterschicht (UU) bis zur Oberen Oberschicht (OO) reicht (später kam noch eine siebte Schicht, die Mittlere Mittelschicht (MM), hinzu), erscheint als weitaus durchlässiger als eine Klassengesellschaft, die in hermetischen Blöcken gedacht wird. Ein solch kleinteiliges Schichtungsmodell legte intra- und vor allem intergenerationale Aufstiegsaspirationen als realistisch und realisierbar nahe, etwa von der Oberen Unterschicht zur Unteren Mittelschicht oder von der Unteren Mittelschicht zur Oberen Mittelschicht. Diese Aspirationen wurden nicht zuletzt von der sozialdemokratischen Bildungspolitik unterstützt. Freilich ist mit einem solchen Stratifikationsmodell auch die Unterstellung verbunden, dass der, der „unten“ ist und vor allem dort verbleibt, seine soziale Lagerung selbst verschuldet hat, insbesondere wegen mangelndem Arbeits- und Aufstiegswillen. Ein bereits in dem besagten Sonderheft der KZfSS diskutierter hemmender Faktor bildete die „Bildungs-Ungewohntheit“ der Unterschicht, wie es der Soziologe Leopold Rosenmayer etwas ungelenk formulierte. Heute wird dasselbe, allerdings mit einer weitaus stärkeren eigenverantwortlichen Akzentuierung, als Bildungsferne umschrieben.

Klassen und Schichten

Das Schichtungsmodell von Warner hat einen frühen, unsystematischen, aufgrund der fehlenden Systematik aber ‚durchsichtigeren‘ Vorläufer in der Klassifikation der Londoner Bevölkerung durch den Reeder und Amateur-Sozialforscher1 Charles Booth (1840-1916). Das monumentale 17-bändige Werk Life and Labour of the People in London (1902/03) von Booth wird gemeinhin als die Geburtsstunde der empirischen Sozialforschung betrachtet. Booth hatte auf der Basis von Zensusdaten, die Mitte der 1880er Jahre in London erhoben worden waren, sowie ergänzender eigener Erhebungen die Londoner Bevölkerung, ihren jeweiligen sozialen, ökonomischen und moralischen Bedingungen und Merkmalen entsprechend, in acht Klassen aufgeteilt, die er, in aufsteigender Linie, nach den Buchstaben A bis H ordnete. Die unterste Klasse, die Klasse A, wurde in seiner Formulierung von „Gelegenheitsarbeitern, Faulenzern und Halbkriminellen“ gebildet. Es ist sicherlich nicht unwichtig, an dieser Stelle festzuhalten, dass es auch heute wieder ein Klassifikationsschema gibt, demzufolge eine durchaus heterogen zusammengesetzte Bevölkerungsgruppe existiert, die als „A-Bevölkerung“ bezeichnet wird: Alte, Arme, Arbeitslose und Ausländer. Aber während die Klasse A bei Booth mehr oder weniger identisch mit denen war, die zeitgenössisch als dangerous classes bezeichnet wurden, meint die neoliberale Kategorie der „A-Bevölkerung“ die faux frais, wie es Karl Marx formuliert hätte, die „toten Kosten“ und damit die vom Standpunkt der Produktivität aus gesehen „Überflüssigen“ und „Nutzlosen“. Von daher kann nicht verwundern, dass die Rede von den „Überflüssigen“ als Kategorie zur Erfassung sozialer Exklusionsprozesse heute virulent ist (Imbusch 2001). Die Klasse B, die Klasse der „sehr Armen“, setzte sich aus jenen zusammen, die in ständiger Not leben und auf Nebeneinkünfte angewiesen sind, Hand-in-den-Mund-Existenzen, die nach Booth keine Stetigkeit aufweisen, noch am ehesten der „Lazarusschicht“ von Karl Marx verwandt, die Schicht derer, die aus geistigen, körperlichen und moralischen Gründen arbeitsunfähig sind, wie es Booth formulierte. Die Klassen C und D bildeten für Booth die eigentlich „Armen“, die entweder aufgrund eines saisonalen Arbeitsverlaufs nur über ein unregelmäßiges Einkommen verfügen wie beispielsweise Schauerleute und Bauarbeiter (Klasse C) oder jene, die zwar regelmäßig arbeiten, aber schlecht bezahlt werden (Klasse D), also die Gruppe derer, die heute als „working poor“ beziehungsweise euphemistisch als „Geringverdiener“ bezeichnet werden. Die Klassen E und F umfassen die Teile der arbeitenden Bevölkerung, die von ihren Arbeitslöhnen und Arbeitserträgen ohne Unterstützung oder Nebeneinkünfte leben können, die „working class“ der Gruppe E und die Handwerker und „besseren“ Arbeiter (Facharbeiter, Vorarbeiter, Meister) der Gruppe F. Die Klassen G und H schließlich wurden von den „Mittelklassen“ gebildet, den kleinen Ladeninhabern, den Angestellten und den unteren Rängen der professionals einerseits (G) und der oberen Mittelklasse der so genannten Wohlhabenden andererseits.

Symptomatisch ist nun, dass das unsystematische, von moralischen Vorannahmen durchdrungene Klassifikationsmodell von Charles Booth viel eher dem aktuell verbreiteten Gesellschaftsbild entspricht als die Taxonomie von W. Lloyd Warner. Bei Warner gab es weder Platz für die „Überflüssigen“ noch für die „working poor“, allenfalls kann die „untere Unterschicht“ mit dem gleichgesetzt werden, was (früher) als „Subproletariat“ und (heute) als „Underclass“ bezeichnet wird. Die Klassifikation von Booth ist insofern ‚verräterischer‘ als das Warnersche Schichtungsmodell, als sie die moralische Be- und Verurteilung der Betroffenen offen zu Tage treten lässt. Die Klasse B, deren Angehörige aus geistigen, moralischen und körperlichen Gründen arbeitsunfähig sind (heute umschrieben als die „Bevölkerungsschicht mit geringem Leistungsvermögen und gesundheitlichen Dauerproblemen“) wird zugleich von jenem Personenkreis gebildet, dessen Ideal es sei, folgen wir Booth, zu arbeiten, wenn sie Lust darauf haben, und zu spielen, wenn ihnen der Sinn danach steht. Kurz, es sind jene, die man zurecht als die Müßiggänger unter den Armen bezeichnet: „They cannot stand the regularity and dulness (sic!) of civilized existence, and find the excitement they need in the life of the streets, or at home as spectators of or as participators in some highly coloured domestic scenes“ (Booth 1889, S. 43).

Eine Ursache für die Verdrängung der Kategorie „Unterschicht“: Wer von „Unterschicht“ spricht, muss auch von „Oberschicht“ sprechen und damit von Herrschaft, Macht und struktureller Ungleichheit.

Die verblüffende Nähe der Boothschen Argumentation zur heutigen Debatte über die „Unterschicht“, die „Fürsorgeklasse“, deren Angehörige als „nicht leistungswillig“ und „bildungsabstinent“ beschrieben werden, scheint auf ein Gesellschaftsbild zu deuten, das aus dem 19. Jahrhundert stammt. In der Tat wird auch heute das Verhältnis der leistungsunwilligen, sich auf Unterstützung verlassenden Angehörigen der „underclass“ zu den „working poor“ als das zentrale sozialpolitische Problem angesehen, und zwar deshalb, weil der underclass die Rolle eines Herdes der Ansteckung (mit dem Infekt des Müßiggangs) zugewiesen wird. Booths Bevölkerungsklassen A und B bildeten den gesellschaftlichen Bodensatz, das „Residuum“, wie es zeitgenössisch hieß, Rückstand und Exkrement zugleich. Diese skatologische Wendung macht die mit diesen Klassen verbundene Vorstellung von „Kontamination“ drastisch deutlich, die gerade im 19. Jahrhundert, wo die physische Hygiene in die soziale Hygiene überging, virulent war: „The residuum was considered dangerous not only because of its degenerated nature but also because its very existence served to contaminate the classes immediately above“ (Jones 1976, S. 289). Dieser „Abhub“, dieser „Abschaum“ der menschlichen Gesellschaft, wie die deutschsprachigen Stigmata lauteten, bildete die eigentlich gefährliche Klasse, nicht so sehr, weil deren Angehörige umstürzlerische Elemente waren, sondern aufgrund ihres ansteckenden Einflusses auf die willigen Arbeiter. Die gesellschaftspolitischen Konsequenzen, die aus den Befunden der Enquete zu ziehen waren, blieben, was die Klasse A betrifft, eigentümlich unkonkret. Zwar war man sich darüber einig, dass diese Klasse in ihrer Existenz aufgelöst werden sollte, wie und mit welchen Mitteln dies aber zu geschehen hatte, blieb unklar. Die Angehörigen der Klasse B hingegen sollten aus dem Arbeitsmarkt herausgenommen und per Gesetz vom Staat organisiert werden. Als eine Möglichkeit boten sich die in jener Zeit als eine Art Allheilmittel angesehenen Arbeitskolonien an, wo „verwahrloste Existenzen“ an ein geregeltes, diszipliniertes und arbeitsames Leben gewöhnt werden sollten. Booths eigentliche Klientel, die ihm am Herzen lag und der er sein Werk zueignete, waren die ehrbaren Armen der Klassen C und D: „Die Abtrennung der Leistungsunfähigen dient nicht ihnen selbst, so erklärte er, sondern denen, die nach dieser Abtrennung übrig bleiben. Ziel der Sozialpolitik war, den zukünftigen Fortschritt der arbeitenden Klasse zu sichern“ (O’Day/Englander 1993, S. 152; meine Hervorhebung, R.L.). Die Scheidelinie in der Klassifikation der armen Bevölkerung bildete also nicht nur die Höhe und Regelmäßigkeit der Arbeitseinkünfte, sondern auch und vor allem die moralische Dimension, die sich in der Bereitschaft und Fähigkeit artikulierte, regelmäßig zu arbeiten. „London galt als das Mekka der Zügellosen, der Faulpelze, der Bettler, der ‚Rohlinge‘ und Verschwender. Die Anwesenheit von großem Reichtum und unzähligen wohltätigen Einrichtungen, das beispiellose Angebot an Gelegenheitsarbeit, die Möglichkeit, sich mit einer Unzahl an unredlichen Methoden seinen Lebensunterhalt zusammenzukratzen, all das trug, so hieß es, dazu bei, London zu einem gewaltigen Magneten für die Faulen, Unehrlichen und Kriminellen zu machen“ (Jones 1976, S. 12). Letztlich bildet Booths Klassifikation eine Variante der das bürgerliche Gesellschaftsbild konstituierenden Zweiteilung der unteren Klassen in Arbeitswillige und „Arbeitsscheue“ („idler“, „loafer“), in „honest poor“ und „clever pauper“, kurz, um die Terminologie der Charity Organization Society der Viktorianischen Ära aufzugreifen, in „deserving and undeserving poor“.

Gute und schlechte Arme

Die Unterscheidung in „deserving“ und „undeserving poor“ ist eine Variante der zahlreichen Dichotomien, die die Armen in diejenigen, die „der Hilfe würdig“ und diejenigen, die „der Hilfe unwürdig“ unterteilten. Darin ist auch ihre ungebrochene Aktualität zu sehen. Wie Michael B. Katz in seinem Buch The Undeserving Poor. From the War on Poverty to the War on Welfare ausführt, nahm diese Dichotomie ihren Ausgang in der Unterscheidung von „impotent poor“, „who are wholly incapable of work, through old age, infancy, sickness or corporeal debility“ und „able poor“ (Katz 1989, S. 12). Diese von Josiah Quincy 1821 getroffene Unterscheidung beinhaltet bereits die Differenz zwischen dem Armen und dem Pauper. Letzteres war zunächst eine rein administrative Kategorie für Empfänger öffentlicher Hilfe, zunehmend aber wurde der Pauper in moralischen Termini begriffen. 1834 sieht Reverend Charles Burroughs Pauperismus schließlich als Folge „of wilful error, of shameful indolence, of vicious habits“ an (Zit. n. Katz, a.a.O., S. 13). Die Unterscheidung von Armen und Pauper bildet so die Grundlage der offen moralisch klassifizierenden Unterscheidung von „deserving“ und „undeserving poor“, die im Zusammenhang mit der Reformulierung des englischen Armengesetzes im Jahre 1834 getroffen wird, eine Kategorisierung, die aber vor allem durch die 1869 gegründete Charity Organization Society (COS) popularisiert wurde. Die COS war mitnichten, wie der Name suggerieren mag, eine Wohltätigkeitsorganisation. Sie diente vielmehr der Bekämpfung des unterschiedslosen Almosengebens, das letztlich nur dem gerissenen, von Almosen lebenden Pauper diente – eine Figur, die merkwürdig aktuell erscheint. „Deserving poor“, das waren vor allen diejenigen, die heute unter dem Label „working poor“ zusammengefasst werden, sowie die Alten und Kranken heute Teil der stigmatisierten, weil unnutzen „A-Bevölkerung“ sind. „Undeserving poor“, das waren in erster Linie diejenigen, die nicht arbeiten wollten, die Faulpelze, „idlers“ und „loafers“, sowie die Pauper, die es verstanden, das Wohlfahrtssystem auszutricksen. Unter diese Kategorie subsumiert wurden aber auch Personen, die von der Wohlfahrt abhängig waren, aber zu „unvernünftigen Ausgaben“ neigten. Als unvernünftig galten nicht nur Genussmittel, sondern auch Ausgaben, die für Wandschmuck und Nippes getätigt wurden. Über die „bunten Bildchen“ an der Wand echauffierten sich Generationen von Fürsorgerinnen.2

Größte Sorge der sozialdemokratischen
Moralpolitik war stets die Bewahrung des respektablen Arbeiters vor dem herabziehenden Einfluss des „lumpenproletarischen“, „prolligen“ Milieus.

In der Rede von der „undeserving poor“ schwingt stets eine Aussage über die Lebensführung mit, die den Kritikern, zieht man die ökonomischen Umstände in Betracht, als unangemessen erscheint. In der Soziologie wurde dieses „Fehlverhalten“ in den 1950er Jahren konzeptionell als „non-deferred gratification pattern“ gefasst, womit ein letztes Mal die protestantische Ethik beschworen wurde, bevor das Muster, eine Befriedigung gerade nicht aufzuschieben, zur Leitkultur der spätmodernen Konsumgesellschaft wurde.

Der Vorrat an Etiketten für die „undeserving poor“ ist, wie Herbert Gans in seinem Buch The War Against the Poor (1995) gezeigt hat, reichlich und reicht vom „Pauper“ (heute: „welfare dependent“) über den „Never-Do-Well“ bis hin zum „Rough“, dessen Gegenbild der „respektable Arbeiter“ bildet. Gemeinsam ist all diesen Etikettierungen die Vermischung von sozialen und moralischen Kriterien oder genauer: die moralische Klassifizierung des Sozialen. „Underclass“ ist nach Gans die aktuellste Bezeichnung für die „submerged tenth“ und eine, die klipp und klar deutlich macht, dass es eine Klasse gibt, die aus der Klassenstruktur „herausgefallen“ ist, der Bodensatz, der Rückstand, das Exkrement. Die Kategorie der „underclass“ verweist daher nicht nur auf eine strukturelle Lage, sondern, „more importantly, … to a general set of cultural properties“, die denen, die im 19. Jahrhundert den „undeserving poor“ oder der Klasse A zugeschrieben wurden, erstaunlich ähneln (Young 2007, S. 10). Gerade weil die Kategorie auf kulturelle Eigenschaften verweist, besteht die Tendenz, die Präposition im Kompositum „Underclass“ in ein Eigenschaftswort zu verwandeln, das Assoziationen mit dem „Dunklen“, „Gefährlichen“ und „Bösen“ aufkommen lässt. Es ist dieser Aspekt, der Münteferings Reaktion auf den Begriff „Unterschicht“ aus der Geschichte der sozialdemokratischen Moralpolitik verständlich macht, deren größte Sorge stets die Bewahrung des respektablen Arbeiters vor dem herabziehenden Einfluss des „lumpenproletarischen“, „prolligen“ Milieus gewesen ist.

Verdrängte Ungleichheit

Die Verdrängung der Kategorie „Unterschicht“ hat meiner Auffassung nach zumindest zwei Ursachen. Erstens: Wer von „Unterschicht“ spricht, muss auch von „Oberschicht“ sprechen und damit von Herrschaft, Macht und struktureller Ungleichheit. Selbst in dem gesellschaftsanalytisch so unpräzisen Begriff der Unterschicht klingt immer noch die diskursiv längst ad acta gelegte Klassengesellschaft an. Der Begriff signalisiert, dass es eine Bevölkerungsschicht gibt, die strukturell benachteiligt ist. Zweitens redet man, wenn man von „Unterschicht“ spricht, anscheinend von etwas Anstößigem; wie viel einfühlsamer klingt da doch die Rede von den „Menschen, die es schwer haben“ (Müntefering). Nur, warum sie es schwer haben, außer, dass sie „sozial schwach“ und „bildungsfern“ sind, geht aus einer solchen Rede nicht mehr hervor. So kann es geschehen, dass die soziale Situation derer, „die es schwer haben“, als Resultat der Muster der Lebensführung (Alkohol, Nikotin, Fast Food, Unterschichtsfernsehen usw.), nicht diese Muster als auf komplexe Weise mit der sozialen Lage verwoben gesehen werden. Konsequenterweise sieht das aktuelle sozialpolitische Programm auch ausschließlich die Bekämpfung der Muster der Lebensführung vor, nicht aber die Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen.

Man kann sich durchaus darüber streiten, welche Terminologie diffamierender ist, die Rede von der „Unterschicht“, die nach Ansicht führender Politiker möglichst vermieden werden soll, oder die Rede von den „sozial Schwachen“, die offensichtlich bevorzugt wird. Bei der Unterschicht schwingt immer noch die strukturell bedingte Ungleichheit, bei den sozial Schwachen das individuelle Versagen mit. Jemanden als Angehörigen der Unterschicht zu bezeichnen, ist ein Akt der sozialen Klassifikation, wie ungenügend auch immer, ihn als „sozial schwach“ zu bezeichnen, ist ein Akt der individuellen Beschämung, der das Bild des „Verlierers“ hevorruft. Mit der Verdrängung der Kategorie der Unterschicht werden die letzten Verbindungsleinen zur Sozialstruktur gekappt; der „sozial Schwache“ ist ein hilfloser Mensch, der möglicherweise sein Schicksal aufgrund seines Lebensstils selbst zu verantworten hat. Ihm zu helfen ist daher eine an die Erfüllung gewisser Voraussetzungen geknüpfte Gnade, kein sozialpolitisches Gebot. Mit Kategorien wie „sozial Schwache“ wird in der Tat die Individualisierung der Gesellschaft vorangetrieben. So sind an die Stelle der großen gesellschaftlichen Trennlinien in Schichten und Klassen Lebenswelten bzw. Lebensstilgruppen getreten, die von Protagonisten mit charakteristischen Haltungen repräsentiert werden. Diese Haltungen sind dann genauso in die Verantwortung der Individuen gegeben, wie es schon beim Klassifikationssystem von Charles Booth der Fall gewesen war.

Literatur

Booth, Charles: Labour and Life of the People, vol.1: East London, London 1889

DerS. : Life and Labour of the People in London, 17 Bde., London 1969 (1902)

Gans, Herbert: The War Against the Poor. The Underclass and Anti-Poverty-Policy, New York 1995

Glass, David V., René König (Hrsg): Soziale Schichtung und Soziale Mobilität (= Sonderheft 5 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), Opladen und Wiesbaden 1961

Hoggart, Richard: The Uses of Literacy. Aspects of working-class life with special reference to publications and entertainments, Harmondsworth 1976 (1957).

Imbusch, Peter: „Überflüssige“. Historische Deutungsmuster und potentielle Universalität eines Begriffs, in: Mittelweg 36, 10.Jg., Heft 5 /2001, S. 49–62

Jahoda, Marie, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal, Frankfurt a.M. 1975

Jones, Gareth Stedman: Outcast London. A Study in the Relationship between Classes in Victorian Society, Harmondsworth 1976

Katz, Michael B.: The Undeserving Poor. From the War on Poverty to the War on Welfare, New York 1989

Koven, Seth, Slumming: Sexual and Social Politics in Victorian London, Princeton 2004

O’Day, Rosemary, David Englander: Mr. Charles Booth’s Inquiry. Life and Labour of the People in London Reconsidered, London, Rio Grande 1993

Procacci, Giovanna: Exclus ou citoyens? Les pauvres devant les sciences sociales, Archives Européenes de Sociologie, Tome XXXVII (1996), no.2, S. 323–342

Rosenmayr, Leopold: Soziale Schichtung, Bildungsweg und Bildungsziel im Jugendalter, in: D. Glass/R. König (Hrsg): Soziale Schichtung und Soziale Mobilität, Opladen und Wiesbaden 1961, S. 268–283

Warner, Lloyd, Marchia Meeker, Kenneth Eells: What is Social Class in America?, New York 1949

Wehler, Hans-Ulrich, Die verschämte Klassengesellschaft, in: Die Zeit Nr.48 (2006), S. 14

Young, Alford A., Herbert Gans and the Politics of Urban Ethnography in the (Continued) Age of the Underclass, in: City & Community vol. 6 (2007), No.1, S. 7–20

Anmerkungen

1 „Amateur“ meint ursprünglich nicht den unprofessionellen Laien oder Dilettanten, sondern jemanden, der eine Sache um der Sache willen, aus „Liebhaberei“ tut. „The word ‚amateur‘ had deep resonance in Victorian culture. It carried with it connotations of a gentlemanly ideal of engagement in public life or in pursuit of an interest actuated by the pleasures of ‚love‘ as opposed to the money-grubbing imperatives of professionalism“ (Koven 2004, S. 38). Daher konnte es im 19. Jahrhundert auch einen „amateur casual“ geben, also jemanden, der sich als Gelegenheitsarbeiter verkleidete, um dessen Lebensumstände zu erkunden oder besser: „authentisch“ zu erfahren.

2 Das trifft selbst noch auf die Forscherinnen der Marienthal-Studie zu. In einem Protokoll eines Hausbesuchs heißt es: „Eine schon seit einem Jahr ausgesteuerte Familie, die in ihrem Haushalt aus Ersparungsrücksichten nur mehr Sacharin verwendet, deren Kinder völlig verwahrlost sind, kauft eines Tages bei einem Hausierer für 30 G ein Pappendeckelbild von Venedig“ (Jahoda u.a. 1975, S. 72). Wer verstehen will, was Nippes und „a bit of colour“ in einem proletarischen Haushalt bedeuten können, sollte nach der klassischen Studie von Richard Hoggart greifen (Hoggart 1976, S. 143ff).

Rolf Lindner, geboren 1945, ist Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität in Berlin und Mitherausgeber der Zeitschrift Historische Anthropologie. Der hier abgedruckte Vortrag wurde im Rahmen eines Symposiums zum Thema „Unterschicht“ am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) im Jänner 2008 in Wien gehalten und findet sich in dem Sammelband: Rolf Lindner/Lutz Musner (Hg.): Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der „Armen“ in Geschichte und Gegenwart. Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2008. 141 Seiten, € 24,70. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmingung des Verlags.

Quelle: Recherche 1/2008

Online seit: 05. September 2019