Von Engeln, Boten, Viren und Geld

Nicht das Medium ist die Botschaft, sondern der Bote das Medium, so die These eines neuen Theorie-Essays von Sybille Krämer. Von Frank Hartmann

Online seit: 10. September 2019

Wir erinnern uns: In den 1960er-Jahren wurde Jürgen Habermas mit der kritischen Diskussion bürgerlicher Öffentlichkeit bekannt, die er bedroht sah. Vor allem die neue Übermittlungstechnik, einschließlich manipulativ entfalteter Publizität, lasse den Zusammenhang öffentlicher Kommunikation in Akte vereinzelter Rezeption zerfallen. Man hätte dies auch ganz anders sehen können, wie das Beispiel Marshall McLuhan zeigt. Auch seine Theorie entfaltete sich am Fernsehen, und sie war für ihre Zeit ungemein konkret und von großer analytischer Kraft, wenn auch methodisch ungewöhnlich. Es war Medientheorie.

Nun genügte jedoch das Verdikt eines Herrn Enzensberger – der meinte, McLuhan wäre irgendwie konterrevolutionär – und auch eine katastrophale deutsche Übersetzung von Understanding Media, um den Kanadier akademisch zu diskreditieren. Es dauerte bis in die 1980er-Jahre, als mit Friedrich Kittler die Generation Foucault auftrat und Medientheorie salonfähig machte. Deutsche Medientheorie. Das heißt, man übertrieb es nun mit dem Zusammenhang von Krieg und Medien, und sublimierte 1968er-Energien machten den Computer gleich zum neuen geschichtsphilosophischen Subjekt. Dazu kam eine Theoriesprache voll gequälter Syntax.

Metaphysik und Medium

Doch mit dem Internet wurde Medientheorie, gleich welcher Herkunft, plötzlich aufgewertet, diente als Begleitrhetorik der wachsenden Netze ebenso wie als Schmieröl für akademische Karrieren. Nun tagten tiefernste deutsche Professoren und ließen die Erde mit ihrer schwergewichtigen Frage erzittern: Was ist ein Medium? Dass ihnen dabei keiner zuhörte, fiel kaum auf: Hauptsache, die Forschungsgelder flossen.

Das Betriebsgeheimnis dieses Diskurses ist schlicht, dass die gestiegene Bedeutung von Medien generell und von Computern speziell nicht geleugnet werden kann. An Kommunikation, in den 1960er Jahren noch ein Fremdwort, für dessen Gebrauch man sich entschuldigen musste, wurden nun gegen Habermas’ Konsensphantasmen mit Niklas Luhmann die Systemfunktionen hervorgehoben. Mehr Klarheit brachte das nicht unbedingt.

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass Sybille Krämer mit ihrem neuen Essay Medium, Bote, Übertragung provoziert, wenn sie das Modell des Boten völlig gegenläufig zu all dem aufbringt, was Sprachlichkeit und Kommunikation im philosophischen Diskurs bedeuten: „Der Bote steht nicht in Verantwortung für den Inhalt dessen, was ihm zu sagen aufgetragen ist.“ Das richtet sich gegen Hermeneutik, Verstehen, Bedeutung, Dialog, Konsens etc. und sieht nach einer subjektfreien Kommunikationstheorie im Stile Luhmanns aus. Kann sie auch überzeugen?

Krämer ist Professorin für Philosophie in Berlin, sie weiß also, wovon sie spricht, wenn sie eine „Metaphysik der Medialität“ vorlegt. Metaphysik beschäftigt sich mit den Grundstrukturen von etwas, mit den Bedingungen von dessen Möglichkeit. So lautet seit Kant die Steilvorlage für theoretisches Philosophieren, das in der Zeit der Aufklärung um eine Grenzziehung gegenüber esoterischer Spinnerei bemüht war. Kant wurde einst vorgeworfen, er habe Sprache, Kultur und Geschlecht als Bedingung des Denkens verkannt. Und den heutigen Geisteswissenschaften wurde vorgehalten, sie würden Medientechnik vergessen, wenn sie Sprache und Kultur als Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung und Erkenntnis ansetzen. Unter technischen Bedingungen fallen Welt und Mensch (Sein und Denken) nicht länger auseinander, so argumentierte Kittler, und ein nachmetaphysisches Denken ist möglich.

Doch von Technik, von Maschinen und Medien lassen Philosophieprofessoren sich ihre Theorie-Diskurse nicht gern verunreinigen. Das sind Dinge, für die es Angestellte gibt, die in der EDV-Abteilung und im Heizungskeller arbeiten. Dass Medien ein Apriori unserer Welterfahrung seien, ist laut Sybille Krämer zwar eine naheliegende philosophische Hypothese, die aber nicht trägt. Begründet wird das nicht („dazu bedürfte es einer eigenen Studie“), sondern vorausgesetzt – the show must go on, die transzendentale Denkfigur muss erhalten werden. Der metaphysische Anspruch wird dazu verniedlicht, jetzt gibt es eben eine „kleine Metaphysik“.

Wenn wir aber vorliegende Theorie nicht so sehr nach ihrem methodischen Anspruch befragen, sondern nach ihrem materialen Gehalt, dann tritt Überraschendes zutage. Erstens setzt Krämer nicht naiv an. Dass neue Kommunikationstechnologien die Botschaft vom Boten ablösen, ist klar: Kuriere und Boten stellen noch Briefe zu, von Telegrafie bis SMS werden aber nur noch technisch codierte Signale übertragen. Zweitens distanziert Krämer sich vom Dialogischen, vom personalen Austauschmodell der Kommunikation zugunsten des technisch eindimensionalen Übertragungsmodells.

Nun tagten tiefernste deutsche Professoren und ließen die Erde mit ihrer schwergewichtigen Frage erzittern: Was ist ein Medium?

Medien der Übertragungsverhältnisse sind in ihrer Auflistung nicht etwa Briefträger oder Fahrradkuriere, sondern „nichtpersonale Instanzen“ wie Engel als himmlische Boten (Übertragung durch Hybridisierung), Viren als Krankheitsüberträger (Ansteckung durch Umschreibung), Geld als Tauschvermittler (Übertragung von Eigentum) und Zeugen als Glaubwürdigkeitsagenten (Übertragung von Wissen). Dazu werden noch die Mittlerfiguren des Übersetzers und des Analytikers diskutiert. Als Motiv für die Übertragung gilt die Differenz, nicht der Austausch. Das nährt die Hoffnung, hier werde substanzielles Mediendenken zugunsten prozesshafter Medialität aufgegeben. Eine tendenzielle Stärke des Buches liegt sicher in der Sensibilität, mit der (etwa im Anschluss an Michel Serres) die Übermittlungen, Übersetzungen, Interferenzen und Wechselbeziehungen diskutiert werden – allerdings ohne jeglichen Bezug auf konkrete kommunikative Praxen. Es bleibt bei theoretischer „Begriffsarbeit am Medienkonzept“, bei abgehobenen Phrasierungen, die eine Art akademisch dissonanten Free-Jazz ohne jeden Groove entstehen lassen.

Krämer nimmt einen Impuls auf, der zentral ist für den mediologischen Ansatz von Régis Debray. Übertragung ist hier geradezu ein Gegenbegriff zum ideologisch aufgeladenen Konzept von Kommunikation – sie bedeutet Informieren im Raum (Präsentierungen) und in der Zeit (Transmissionen). Der politisch geschulte Pariser Intellektuelle Debray befragt die materialen Kräfte und die konkreten Instrumente von Übertragungen. Dadurch ist sein Ansatz weniger eine Theorie im emphatischen Sinn der Meisterdenker, eher schon ein Programm für eine angewandte Medialitätsforschung.

Krämer verpflichtet das Konzept des Boten explizit auf das postalische Prinzip der Übertragung. Der Bote überbringt eine Nachricht im Auftrag, tritt damit hinter seine Botschaft zurück. Zugestanden, der Briefträger schreibt nicht die Briefe, die er austrägt. Was aber ist mit den zahlreichen Fällen, in denen der Bote selbst die eigene Botschaft verkörpert – diplomatisch, emotional, informatisch und so weiter? Und was ist umgekehrt mit den Botschaften, die durch keine Boten überbracht wurden, sondern über Zeichenketten wie schon in der Antike belegten Signalfeuer und Rufposten? Weiter: Gilt für das postalisch/technische Prinzip denn tatsächlich, wie Krämer behauptet, dass etwas „materialiter“ vom Sender zum Empfänger gelangt? Nachrichtentechnisch betrachtet ist das doch Unsinn. Die Infrastruktur der heutigen Kommunikationsnetze ist keine Rohrpost, durch deren Leitungen Nachrichten mit pneumatischer Kraft transportiert werden.

Komplexe Übertragungen

Schon in der klassischen Reformulierung von Kommunikation als einer technischen Signalübertragung bei Claude Shannon ging es nicht um die Übertragung im Sinne eines materiellen Transports, sondern um die Codierung eines Signals für die Kapazität einer Telefonleitung, die so erfolgen muss, dass dieses Signal am anderen Ende der Leitung noch rekonstruierbar ist. Natürlich könnte man Elektronen und Photonen als winzige Boten identifizieren, die ihre jeweilige Ladung durch die Leitung transportieren, aber wer nicht gerade einer neoaristotelischen Physik der Medien anhängt, wird dies nicht eben sinnvoll finden. Die rein technische Übertragung einer Botschaft, die unabhängig vom Boten und körperlos in Sekunden um den Globus reist, schafft nicht nur virtuelle Räume – die Terra incognita der Datenströme, den Cyberspace, der wie der Name schon sagt ein Steuerungsraum ist, der die ältere historische Raumordnung mit ihren Transportmedien überlagert – sondern sie ist auch philosophisch brisant, denn sie zeigt letztlich die Relativierung der statischen Informationsträger zugunsten der Datenströme an.

Zwar wird bei Krämer mit dem amerikanischen Kommunikationswissenschaftler John D. Peters gegenüber dem Dialog die Dissemination beschworen, was als eine Art weiträumiger Verteilung (Einer-an-Viele) in Zeichensystemen zu verstehen ist. Es wird auch eine methodische Einlösung dieses Konzeptes in Aussicht gestellt, und zwar das Kartografieren, das Krämer sich als Rekonstruktion der Spur von Boten vorstellt. Das Mapping, eine automatisch generierte Visualisierung von Netzwerken, hat in den Sozialwissenschaften eine ziemliche Konjunktur erfahren, seit es dafür die entsprechende Software gibt. Doch die Karte ist nicht das Netzwerk und in dem Teil, in dem Krämer versucht, das Kartografieren als neue Form von Lesbarkeit der Weltverhältnisse vorstellig zu machen, verliert ihr Ansatz alle diagnostische Kraft, die ihm noch zu wünschen gewesen wäre, weil ihre Beschreibung sich auf georeferenzielle Verhältnisse beschränkt; Netzwerke mit Peer-to-Peer-Verteilertechnik hingegen schaffen abstrakte Topologien. Wie ist damit umzugehen? Karten mögen „Grundlagentexte“ unserer Zivilisation sein, allein was bedeutet das noch in einer Kultur, die ihr Weltbild längst nicht mehr exklusiv aus Texten zieht?

Krämers Grundlagenreflexion fordert eine hohe Lesegeduld und liefert ein bescheidenes Ergebnis: dass im dialogischen Ansatz der Sender-Empfänger-Verhältnisse ein Drittes unterschlagen wird, war bei Michel Serres (Der Parasit) schon besser nachzulesen. Zudem operiert kaum eine zeitgenössische Medientheorie mehr mit dyadischen Verhältnissen. Führt die medientheoretische Herausforderung, die hier besteht, nicht eher zur Frage nach der Bedingung von Rückkopplungen?

Letztlich wirkt daher die seltsame These, der Bote gebe „eine Urszene der Medialität“ ab, wenig überzeugend. Sie steht für den Transport über Distanzen – als „Bindemittel für Gemeinschaften“?! Wenn man sie denn sucht, so gibt es für die Urszene der Medialität das viel treffendere Bild, das McLuhan gezeichnet hat: die Interdependenz tribalistischer Strukturen, die er im globalen Dorf wiederkehren sah. Nicht Boten stiften den Zusammenhang, sondern die Erzähler und die Sänger, die Griots. Ihnen entsprechen die heutigen Medien mit ihren Praktiken der Medialisierung, die nach einer treffenden Beobachtung von Peter Sloterdijk eben nicht darin bestehen, Botschaften zu übermitteln, sondern synchronisierende Hysterien und homogenisierende Paniken zu erzeugen.

Frank Hartmann ist Dozent für Medien- und Kommunikationstheorie an der Universität Wien, Gastprofessuren an der Universität Erfurt und an der Bauhaus-Universität Weimar. Zahlreiche Publikationen zum Thema, darunter Mediologie (Facultas WUV, 2003) und Globale Medienkultur (WUV/UTB, 2006), sowie aktuell: Multimedia (UTB Profile, 2008).

Quelle: Recherche 2/2008

Online seit: 10. September 2019

Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2008. 379 Seiten, € 28 (D).