Bei einer philosophischen Konferenz hält ein französischer Teilnehmer einen Vortrag, der vor dekonstruktivistischen Floskeln und mysteriösem Jargon nur so strotzt. Ein Zuhörer beugt sich zu seinem Nachbarn und flüstert: „Die denken, dass sie denken!“
Der ironische Zuhörer war Richard Rorty, der letztes Jahr im Alter von 75 Jahren gestorben ist und dessen letzte Sammlung von Essays, Philosophie als Kulturpolitik, jetzt in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen ist. Rorty hatte wenig Geduld mit intellektuellen Poseuren und philosophischer Großtuerei – um genau zu sein, er hatte wenig Geduld mit dem, was man gemeinhin als Philosophie bezeichnet: der Suche nach ewigen, letztgültigen Wahrheiten.
So eine Suche sei reine Zeitverschwendung, meinte Rorty, der die Fixierung der westlichen Tradition auf Epistemologie und, im zwanzigsten Jahrhundert, auf formale Sprachanalyse immer wieder beklagte. Sein eigenes philosophisches Denken, sagte er in einem Interview, sei „negativ und therapeutisch“: „Es hat keine große, mächtige, konstruktive Botschaft. Es inspiriert niemanden, dies oder jenes zu tun … Es ist wie Aspirin. Man kann Aspirin nicht gebrauchen, um Macht zu bekommen, aber man kann sein Kopfweh loswerden. Pragmatisches Denken ist eine philosophische Therapie. Es hilft einem aufzuhören, unnütze Fragen zu stellen.“
Was Rorty hier mit charakteristischer Bescheidenheit umriss, war eine Position, deren eklektische Ursprünge und Referenzen seine Kollegen immer wieder irritierten. Nach einer frühen Karriere in der analytischen Sprachphilosophie angelsächsischen Zuschnitts hatte der junge Philosoph sich unter dem Einfluss seines Mentors Hans Carnap neuen Herausforderungen zugewandt und hatte 1979 mit Philosophie und der Spiegel der Natur mit seiner Disziplin abgerechnet, wenn er auch selbst immer beteuerte, er habe sie nur „vorsichtig von innen heraus reformieren“ wollen.
Philosophie und der Spiegel der Natur wurde völlig unerwartet zum Bestseller und gab Rortys Karriere eine neue Richtung. Das philosophische Establishment nahm ihm seinen Angriff und seine Offenheit für kontinentaleuropäische Philosophie übel – am Ende seiner Karriere hatte er eine Professur für vergleichende Literaturwissenschaft in Stanford inne, weil der akademische Philosophiebetrieb ihn kaum noch interessierte – aber Leser von außerhalb der Zunft, aus der Literaturwissenschaft, Geschichte und Politik, entdeckten ihn für sich. Rorty wurde zur öffentlichen Figur (den Ausdruck public intellectual mochte er nicht – „haben Sie schon mal von einem private intellectual gehört?“, fragte er). Mit seinem Freund Jürgen Habermas führte er eine Jahrzehnte überspannende Diskussion. In den letzten Jahren nahm er gerade in deutschen Zeitungen immer wieder zur amerikanischen Politik Stellung.
Kulturpolitik oder cultural politics?
Rortys Interesse an der Philosophie war humanistisch, eine Tatsache, die Lesern auf jeder Seite von Philosophie als Kulturpolitik auffällt. Auf einer einzigen, willkürlich herausgegriffenen Doppelseite begegnen Philosophen wie Martin Heidegger, William Kingdon Clifford, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und John Stuart Mill Dichtern wie Henry James und William Blake und Denkern wie Lukrez und Marx, die allerdings nicht zitiert werden, weil sich der Autor mit ihnen brüsten will, sondern eher, weil er zeigen möchte, dass die interessantesten Ideen schon vor ihm dagewesen sind, dass er als einer unter vielen an einem großen kulturellen Gespräch teilnimmt.
Rorty zu lesen ist Genuss und Herausforderung zugleich: Es zeigt, dass es möglich ist, mit ironischer Leichtigkeit zutiefst humanistische Ideale zu verfolgen, dass auch der differenzierteste Gedankengang ohne verbales Gewaber oder Geschwätzigkeit auskommen kann, dass es darum geht, effektiv zu kommunizieren, nicht durch hermetische Ausdrucksweise zu beeindrucken.
Welche philosophische Therapie Rorty bereit hält, welche unnötigen Fragen er abschaffen will, kommt schon im ersten Essay zur Sprache, der den überraschenden Titel „Kulturpolitik und die Frage der Existenz Gottes“ trägt. Bevor das Argument selbst zur Sprache kommt, ein Wort zum Sprachgebrauch der (im ganzen ausgezeichneten) Übersetzung von Joachim Schulte: Im amerikanischen Original heißt das Buch Philosophy as Cultural Politics. Es ist anzunehmen, dass sich Übersetzer und Verlag dessen bewusst sind, aber Kulturpolitik und cultural politics haben ungefähr so viel gemein wie Kultur und Kulturbeutel. Kulturpolitik wird in Europa von Politikern gemacht, die Subventionsgelder verteilen. Cultural politics ist die umfassende Zusammenfassung für alle absichtsvollen Verhaltensweisen in der kulturellen Sphäre, der πολιτεία des klassischen Griechenland, von allem, was sich auf der Agora abspielt. Darum geht es und gerade das geht in der Übersetzung des Titels verloren. Vielleicht wäre Philosophie als kulturelles Handeln, obwohl dem Original ferner, eine adäquatere Übersetzung gewesen.
In „Kulturpolitik und die Frage der Existenz Gottes“ kommt Rorty gleich auf eins der zentralen Motive seines Denkens zu sprechen: „Der Ausdruck ‚Kulturpolitik‘ [lies: cultural politics] bezieht sich unter anderem auf Auseinandersetzungen darüber, welche Wörter man verwenden sollte.“ Das Ziel dieses Sollens ist immer das größtmögliche Glück der Gemeinschaft, und so fasst Rorty den Gottesbegriff rein pragmatisch. Ihm geht es nicht um eine transzendentale Wahrheit (deren Existenz er von vorne herein verwirft), sondern darum, „welchen Nutzen der Gottesbegriff für den Menschen haben könne“.
Philosophie ist wie Aspirin. Man kann Aspirin nicht gebrauchen, um Macht zu bekommen, aber man kann sein Kopfweh loswerden.
Oft ist Rorty angesichts solcher Perspektiven verächtlich den postmodernistischen Relativisten zugerechnet worden, denen alles recht ist, und tatsächlich hat er sich bewundernd über die hegelianische Tradition und über Denker wie Derrida geäußert. Die Auflösung allen Denkens in ein endloses Spiel von Signifikanten jedoch, das semantische Herz der Postmoderne, akzeptierte er nur insofern, als sie ihn von einer monolithischen, transzendentalen Wahrheit befreite. Gleichzeitig gab er diesem Gedanken eine ganz neue Dimension, indem er ihn pragmatistisch deutete: Vielleicht ist Kultur tatsächlich ein endloses Spiel von Signifikanten, aber wenn dem so ist, sollen Philosophen es nicht willkürlich spielen, sondern mit dem Ziel, eine humanere Gesellschaft zu schaffen. Zwar können wir keine letztgültigen, transzendentalen Wahrheiten definieren, aber wir können doch auf pragmatischer Ebene sehen, was Menschen glücklicher oder unglücklicher, ihre Leben erfüllter oder ärmer werden lässt, und wir können und müssen versuchen, unsere Sprachspiele an diesem Ziel auszurichten.
Diese Hinwendung zur Sprache, zum konstruktivsten Sprachspiel, ist der Kern von Rortys pragmatistischer Ethik. Sein großes Vorbild, der amerikanische Philosoph und Psychologe John Dewey, hatte die soziale Nützlichkeit zur Grundlage jeder Bewertung von moralischen Werten gemacht. Da es unmöglich ist, sicheres Wissen über letzte Wahrheiten zu erlangen, ist es auch sinnlos, ihnen nachzujagen. Anstatt Wissen um seiner selbst willen zu verfolgen, sollte man es als Werkzeug behandeln, um Probleme zu lösen, so wie Wissenschaftler ihr Wissen durch Hypothese und Experiment verfeinern. So wird alle Philosophie politisch. Rorty hatte dieses Prinzip auf die Sprache angewandt: Welcher Sprachgebrauch, welches Vokabular eignet sich am besten, um eine humanere Gesellschaft zu schaffen?
Die Einfachheit dieser Idee ist trügerisch, denn sie hat weitreichende Implikationen, die Rorty im vorliegenden Band in dem Essay „Größe, Tiefe und Endlichkeit“ anschaulich macht. Die analytische Philosophie habe sich selbst aus dem öffentlichen Leben eliminiert, schreibt er, sie werde nicht mehr „als spannend empfunden“, niemand erwarte von ihnen, dass sie auch außerhalb der Seminarräume philosophischer Fakultäten in irgendeiner Hinsicht wichtig erscheint. Der Grund hierfür liegt einerseits an der Säkularisierung, die von vorneherein das Bedürfnis nach letzten Wahrheiten geschwächt hat, und andererseits in der fatalen Tendenz von Fachphilosophen, sich in Fragen zu verrennen, die nach Rorty nicht nur realitätsfern, sondern auch unbeantwortbar sind: „Der Common sense unterscheidet zwischen der scheinbaren Farbe eines Dings und seiner wirklichen Farbe, zwischen den scheinbaren Bewegungen der Himmelskörper und ihren wirklichen Bewegungen. Man fragt: Ist das Kunsthonig oder wirklich Honig? Ist das eine falsche Rolex oder wirklich eine Rolex? Aber nur wer Philosophie studiert hat, fragt, ob das, was wirklich eine Rolex ist, wirklich wirklich ist. Niemand sonst nimmt die platonische Unterscheidung zwischen der groß geschriebenen Wirklichkeit und den groß geschriebenen Erscheinungen ernst. Diese Unterscheidung ist die Gründungsurkunde der Metaphysik.“
Anstatt solcher metaphysischer Unterscheidungen und Glaubensstreite schlägt Rorty einen bescheideneren, zielgerichteten Zugang zu diesen Fragen vor: „Nach dieser Auffassung sollten Ausdrücke wie ‚Schwerkraft‘ und ‚unveräußerliche Menschenrechte‘ nicht als Bezeichnungen von Entitäten begriffen werden, deren Wesen geheimnisvoll bleibt, sondern als Geräusche und Zeichen, deren Verwendung seitens verschiedener Genies zur Entstehung umfassenderer und besserer sozialer Praktiken geführt hat.“
Auf ruhige und charmante Art schafft Rorty kurzerhand Metaphysik und Erkenntnistheorie ab: Da es nicht möglich ist, mit außersprachlichen Mitteln zu untersuchen, ob und in welcher Weise die Sprache tatsächlich Realität repräsentiert, ist der einzig sinnvolle Schluss daraus, nicht weiter Zeit zu verschwenden, sondern die Sprache, in der wir leben, konstruktiv zu verwenden, neue Metaphern zu finden und so eine „verbesserte Fähigkeit zum Handeln“ zu gewinnen.
Starke Dichter
Um seinen pragmatistischen Zugang argumentativ zu untermauern, geht Rorty philosophische Allianzen ein, die auf den ersten Blick überraschen können. Seine Vorbilder sind nicht nur Hegel, Dewey, Wittgenstein und Nietzsche, sondern auch Heidegger und die Dichter der Romantik. Was haben romantische Dichter mit pragmatistischer Ethik zu tun? Rorty zitiert Isaiah Berlin: Der Gegensatz zur Romantik ist nicht die Klassik, sondern der Universalismus. „Die Romantik untergrub die von Platon ebenso wie von Kant und Habermas unterstellte Voraussetzung, wonach es so etwas wie ‚das bessere Argument‘ gibt … Die Idee, es gebe eine richtige Sache, die man unabhängig von der eigenen Identität tun oder glauben müsse, geht Hand in Hand mit der Idee, daß Argumente aufgrund ihres inneren Wesens gut oder schlecht sind, egal, wer sie beurteilen soll. Die Pragmatisten verwerfen beide Ideen.“
Die Romantiker fanden keine Ideale, sie erfanden sie, und das will auch Rorty tun; daher auch die Verehrung Hegels, der als erster Philosoph die geschichtliche Gebundenheit des Wissens demonstrierte – auch wenn er sich selbst nicht danach richtete und seine nach Rorty wichtigste Erkenntnis in seinem eigenen Werk systematisch ignorierte. Zeitlose Wahrheiten und ewige Werte sind potenzielle Todesengel (man denke an die Inquisition), während kontingente Werte weniger befriedigend, aber humaner sind. Amos Oz hat das einmal in einem Vortrag ausgeführt. Danach gefragt, welche Lösung er sich für die Nahost-Problematik wünsche, antwortete er: „Es gibt in der dramatischen Literatur zwei Lösungen für tragische Probleme. Die eine stammt von Shakespeare, die andere von Tschechow. Bei Shakespeare ist die Bühne am Ende des Abends mit Leichen übersät und über allem schwebt der Geist der Gerechtigkeit. Bei Tschechow finden die Dinge nie ein gerechtes Ende, alle müssen Kompromisse machen, und alle sind unglücklich – aber sie sind alle noch am Leben.“
Da es unmöglich ist, sicheres Wissen über letzte Wahrheiten zu erlangen, ist es auch sinnlos, ihnen nachzujagen.
Rorty greift in diesem Zusammenhang auf den platonischen Streit zwischen Philosophie und Dichtung zurück, den er als einen Streit zwischen Platon und Nietzsche auffasst: „Bei diesem Streit geht es um die Frage, ob die Menschen ihre höchste Erfüllung finden und ihre besonderen Kräfte am ersprießlichsten in die Tat umsetzen, wenn sie von der Vernunft Gebrauch machen, um die wirkliche Beschaffenheit der Dinge ausfindig zu machen, oder wenn sie ihre Vorstellungskraft zum Einsatz bringen, um sich selbst zu verwandeln.“ Rorty schlägt sich dabei auf die Seite der Dichter, denn seiner Ansicht nach sind es die großen Leistungen der Fantasie – gleichgültig ob sie von Aristoteles, Shakespeare, von Newton, Beethoven, Rembrandt oder Einstein stammen –, durch die die Menschheit sich neu erfunden hat, und da auch Wissenschaft eine Form des kreativen Denkens ist, sind diese Figuren allesamt starke Dichter, die jeweils neue Metaphern, neue Sichtweisen und Sprachspiele ersinnen, um Lösungsmöglichkeiten für Probleme anzubieten.
Starke Dichter, nützliche Landkarten
Die Essays in Philosophie als Kulturpolitik umfassen eine große Themenvielfalt, einige betreffen philosophische Fachfragen wie die Stärken und Schwächen von Wittgensteins Sprachphilosophie, andere sind allgemeiner gehalten – in allen aber hört man die humane, ironische Stimme eines Denkers, der sich den Luxus erlaubt, in relativ kurzen Texten über die Themen zu reflektieren, die ihn ein professionelles Leben lang beschäftigt haben.
Gerade darin, in seiner Karriere als akademischer Philosoph, liegt vielleicht auch die Schwäche in Rortys Darstellung seiner Gedanken begründet. Obwohl er witziger, eleganter und allgemeinverständlicher schreibt als die meisten seiner Kollegen und niemals als jargonverliebter Schwätzer daherkommt, ist er seinem Vokabular so sehr verbunden, dass er es nicht verlassen kann. Besonders bei der von Wittgenstein übernommenen Idee der Sprachspiele wird das deutlich. Rorty zufolge sollte sich Philosophie (wie auch Dichtung) damit beschäftigen, einen Sprachgebrauch vorzuschlagen, der es uns erlaubt, die Welt von heute kreativ zu formen. Naturwissenschaft, Geisteswissenschaften und Kunst werden als unterschiedliche Sprachspiele aufgefasst, die sich alle jeweils ändern müssen, wenn ein nützlicherer Sprachgebrauch möglich wird. Rorty bewunderte Thomas Kuhn und dessen Idee des Paradigmenwechsels und tatsächlich beschreibt die Aufeinanderfolge unterschiedlicher Sprachgebräuche und Metaphern die Wissenschaftsgeschichte – gleichzeitig gelingt es Rorty aber nicht, in seinem Denken Raum dafür zu machen, dass Wissenschaft sich im Gegensatz zur Kultur kumulativ und nicht nur lateral entwickelt; eine Unterscheidung, die er immer abgelehnt hat.
Ist also Wissenschaft nur eine Form der Poesie? Diese These hat eine gewisse Eleganz, aber während das Sprachspiel der griechischen Mythologie oder der Romantik ein ebenso geeignetes Werkzeug zur Darstellung und Veränderung innerer Zustände ist wie das psychologische und psychoanalytische Vokabular unserer Tage, muss man gleichzeitig zugeben, dass wir heute qualitativ bessere Informationen über ferne Galaxien, Bakterien und die Beschaffenheit der Materie haben als vor hundert Jahren, und dass dieses naturwissenschaftliche Wissen rapide wächst. Wir haben eine bessere Idee von den Mechanismen des Universums als babylonische Astronomen oder indianische Priester; wir benutzen nicht nur andere Metaphern: Wir zeichnen nützlichere Landkarten unserer Wissensgebiete. Hier scheint Rorty letztendlich in dieselbe Falle zu tappen, in der er seine philosophischen Kollegen sieht: Er schafft es nicht, sein eigenes Vokabular zu transzendieren, den Bannkreis seiner Theorie zu brechen und wird dadurch zum weniger starken Dichter.
Die Romantiker fanden keine Ideale, sie erfanden sie, und das will auch Rorty tun; daher auch die Verehrung Hegels, der als erster Philosoph die geschichtliche Gebundenheit des Wissens demonstrierte.
Auch in seinem Beharren auf die soziale Nützlichkeit als einziges Kriterium, um eine Äußerung zu beurteilen, scheint ein Ausweichmanöver zu liegen. So sieht Rorty zum Beispiel das Christentum zu Recht als ein „starkes Gedicht“, das mit seiner Insistenz auf Brüderlichkeit eine neue kulturelle Sprache geschaffen hat, fasst aber die Gretchenfrage rein utilitaristisch: „Die ontologische Frage nach der Existenz Gottes sollten wir … durch die Frage nach der kulturellen Erwünschtheit des Redens über Gott ersetzen.“ Wirklich? Sollten wir alle über Gott reden, wenn uns das zu besseren Menschen macht? Das ist sicherlich eine pragmatische Triebfeder für viele Priester gewesen, aber widerspricht das nicht der intellektuellen Redlichkeit?
Sollte in einem solchen Fall unsere redliche Überzeugung, dass in Abwesenheit aller Indizien das von Rorty lobend erwähnte Ockhamsche Rasiermesser (also: Wenn für ein Phänomen mehrere mögliche Erklärungen zur Verfügung stehen, wähle immer diejenige, die am wenigsten zusätzliche Annahmen erfordert) durch die dicken Schichten der kulturellen Prägung schneiden sollte, sodass die Annahme eines ewigen Schöpfers ebenso unnötig und absurd erscheint wie die solipsistische und ebenso unwiderlegbare Idee, die ganze Welt sei ein von meinem Bewusstsein geträumter Traum? Rorty hätte das für zu extrem und ungerechtfertigt metaphysisch befunden, aber es lässt sich argumentieren, dass diese Schlussfolgerung nichts weiter ist als die Anwendung derselben pragmatischen Prinzipien, die Rorty vom ewigen Kreislauf der Epistemologie befreien.
Obwohl Rorty an den Grenzen seines eigenen Vokabulars zögert und das Erfinden neuer Metaphern einer nächsten Generation von Philosophen überlässt, gelingt es ihm auf wunderbar kluge Weise, das zu tun, was er sich vorgenommen hatte, nämlich „einen Beitrag zum fortwährenden Gespräch der Menschheit über ihre eigenen Zielsetzungen zu leisten“. Das Resultat ist eine Serie scharfsinniger und doch einfach wirkender Einladungen zum Weiterdenken, in denen der Autor immer wieder anderen Philosophen (auch Gegnern) das Wort gibt, ein subtiles Spiel, dessen einfacher Schein die theoretische Virtuosität verbirgt, um humanistische Ideale zu transportieren:
„Daß sich die Intellektuellen immer weniger für Philosophie interessieren, läßt sich vielleicht am besten in Worte fassen, indem man sagt, das Unendliche verliere seinen Reiz. Wir werden zu Anhängern eines finitistisch geprägten Common sense – zu Leuten, die glauben, daß wir nach dem Tod verwesen; daß jede Generation die alten Probleme nur dadurch lösen wird, daß sie neue schafft; daß unsere Nachkommen viele unserer Handlungen mit ungläubiger Verachtung ansehen werden; und daß Fortschritt in Richtung zunehmender Gerechtigkeit und Freiheit weder unvermeidlich noch unmöglich ist. Wir finden uns damit ab, uns selbst als Tiere einer Spezies zu begreifen, die sich im Laufe ihrer Entwicklung selbst erfindet. Durch die Säkularisierung der Hochkultur, zu der Denker wie Spinoza und Kant beigetragen haben, haben wir die Gewohnheit angenommen, nicht vertikal, sondern horizontal zu denken: Wir überlegen uns, was man tun könnte, um eine etwas bessere Zukunft anzubahnen, anstatt zu einem äußersten Rahmen empor- oder in unaussprechliche Tiefen hinabzublicken.“