„Man bedenkt niemals genug , daß eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine ausdrückte.“1
J. W. Goethe
Aspekte der Neuropsychologie
Zu den manchmal als „postmodern“ bezeichneten Verunsicherungen für Historiker zählen die in den Kulturwissenschaften bislang kaum rezipierten Einsichten der Kognitionspsychologie, dazu die im Übermaß über das Fach hereinbrechenden Erkenntnisse der Literaturwissenschaften, im Besonderen der Textlinguistik. Sie haben die Geschichte im Kontext der Rezeption ethnologischer Fragestellungen und Methoden erreicht. Es geht eigentlich um philosophische Themen: Was Geschichte ist und was wir über sie wissen können, ist letztlich eine Frage nach der Erkennbarkeit von Wirklichkeit überhaupt und ein Problem der Erkenntnistheorie.
Die Neuropsychologie belehrt uns darüber, dass wahrgenommene und erzählte Geschichte nichts anderes sind als neuronale Feuerwerke. Dem Geschehen in der Außenwelt, den Spuren, die es hinterlässt, und dem von Historikerinnen und Historikern gestalteten Texten entsprechen jeweils hochkomplexe Prozesse im Gehirn. Wahrnehmung und Erinnerung geschehen als Codierung der Erscheinungen der „Außenwelt“ als Signale und Symbole; das erfolgt durch physikalische und elektrochemische Prozesse im Innern unterschiedlicher Neuronen. Wie diese Außenwelt wirklich beschaffen ist, wissen wir nicht; wir können ja keinen Standpunkt außerhalb unserer selbst einnehmen. Alles, was der Erkenntnis zugänglich ist, sind Modelle jenes Anderen, die sich in unserem Kopf bilden. Sie hängen völlig von der Beschaffenheit unserer Sinne ab. Unser Universum ist ein menschliches Gebilde, die Dinge und Lebewesen darin sind es ebenso; es steht selbst zu befürchten, dass der Mensch kein Geschöpf Gottes, Gott vielmehr ein Gebilde des Menschen ist.
Unser Gehirn ist eine in Dauerbetrieb befindliche chemische Fabrik und ein Elektrizitätswerk dazu. Seine Strukturen und die darin ablaufenden Vorgänge sind evolutionsgeschichtlich bedingt, dazu wirken kulturelle Erfahrungen auf sie ein. Das Wahrgenommene und Erinnerte wird im Gehirn durch genetisch organisierte und durch Erfahrung modulierte neuronale Aktivitätsmuster repräsentiert. An diesem Konstruktionswerk sind einzelne Neuronen, aber auch ganze Cluster beteiligt; die daran mitwirkenden Neuronen zeigen sich in ständiger Aktivität, und sie befinden sich miteinander in dauernden Wechselwirkungen. Was wir wissen, wessen wir uns entsinnen und was wir vergessen, hängt von Schaltungen im neuronalen Netzwerk ab. Sie können von äußeren oder internen Impulsen aktiviert werden – das nennen wir „erinnern“; werden sie blockiert oder lange nicht aktiviert, ist das „vergessen“. Alles Wahrgenommene wird im Gehirn bewertet; Nebensächliches beendet seine ephemere Existenz im sensorischen Gedächtnis und im Kurzzeitgedächtnis, Wichtiges oder auch wiederholt Erfahrenes wandert von dort ins Langzeitgedächtnis, wo es ein manchmal lästiges Bleiberecht gewährt erhält. An der Selektion sind Emotionen, die im limbischen System ihre Zentrale haben, beteiligt: Der Tag, an dem ein aufregendes oder erschütterndes Ereignis stattfand, bleibt samt nebensächlichster Details in Erinnerung, während wir Abertausende seiner immergleichen Brüder schon längst vergessen haben. Der Affekt ist der harte Kern der Erinnerung.
Was wir „Wahrnehmung“ und „Erinnerung“ nennen, sind in Wirklichkeit dynamische Prozesse. Im Gehirn gleicht das Gespeicherte nicht einem Buch mit bleiernen, unverrückbar gesetzten Lettern, vielmehr erscheint es als Geflimmer von Worten und Bildern, als eine in dauernder Metamorphose befindliche Performance. Die Wirklichkeit „draußen“ hinterlässt im autopoetisch arbeitenden Gehirn, gleichsam im Vorübergehen, allein eine funkelnde Gischt elektrischer Entladungen, die aufleuchten, wieder verglimmen, vielleicht doch schwache Spuren in uns hinterlassend.
Das Wahrgenommene wandelt sich unmittelbar im Akt der Erinnerung; niemals ist, was der eine erinnert, genau dasselbe, was sich der andere vergegenwärtigt – selbst wenn es sich um den gleichen Gegenstand handeln sollte. Zwischen den Gehirnwelten zweier Individuen klafft immer ein unüberwindbarer Abgrund. Diese Differenzen und permanenten Veränderungen sind bereits durch die unterschiedlichen kulturellen Prägungen, die divergierenden Vorinformationen und Erwartungen der Individuen bedingt, auch durch ihre unterschiedlichen psychischen Dispositionen.
Der Abstieg in die tiefen, dämmrigen Gründe, wo, einem Phantom gleich, die dem Menschen allein zugängliche Wirklichkeit entsteht, führt vor Augen, wie fragil die flüchtigen Gebilde sind, die wir unter dem Begriff „Geschichte“ zu fassen versuchen. Bilder, genauer: bildhafte mentale Repräsentationen bzw. „Vorstellungsbilder“, so meine These, haben darin eine außerordentliche (vielleicht zu große) Bedeutung: Ich meine Bilder im weitesten Sinn, visuelle Eindrücke, technisch oder auf chemischem Weg hergestellte Abbildungen, aber auch Sprachbilder, also Tropen, die unmittelbar mentale Bilder bzw. bildhafte Vorstellungen generieren.
Metahistory
Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Neuropsychologie stellt sich die Frage nach der „Tiefenstruktur der historischen Einbildungskraft“, die Hayden White in seinem berühmten Buch Metahistory und einigen weiteren Veröffentlichungen aufgeworfen hat, neu. Der Blick auf die chemischen und physikalischen Voraussetzungen menschlichen Wahrnehmens, Erkennens und Erinnerns, den Johannes Fried in seiner „Memorik“ für die Geschichtswissenschaften nutzbar zu machen vorschlägt, zeigt gleichsam Konturen jener „Tiefenstruktur der Tiefenstruktur“, die White untersucht. Es geht um psychische Voraussetzungen der sprachlichen Formen, in welchen die Historikerinnen oder Historiker – und nicht nur sie – ihre Erkenntnisse mitteilen. Letztendlich steht das Problem zur Debatte, auf welche Weise die Codierung einer amorphen, ungeheuer komplexen „Wirklichkeit“, all dessen, „was geschah“, erfolgen kann oder soll und ob das, was die Geschichtsschreibung an Erzählungen präsentiert, Wissenschaft ist oder Fiktion. Es ist die alte, nun freilich anders und grundsätzlicher gestellte Frage nach der Beziehung zwischen Geschichtsschreibung und Poesie.
White entziffert in den Werken einiger Historiker und Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts eine Art „Geheimschrift“ der Einbildungskraft der Autoren. Er präpariert heraus, was er die „metahistorischen“ Voraussetzungen ihrer Diskurse nennt – „Stil“, unterschiedliche Begriffe und Darstellungsweisen, von denen ihre Aussagen wesentlich konditioniert würden. Im Zentrum der Untersuchung stehen vier Haupttypen, die den vier Tropen der poetischen Sprache entsprechen: die Metapher nebst ihren Unterformen Metonymie, Synekdoche und Ironie. White präpariert dann vier der Literaturtheorie entstammende, archetypische Handlungsstrukturen heraus, mit denen die Historiker des 19. Jahrhunderts Geschichte gestalteten: Romanze, Tragödie, Komödie und Satire. Es erscheint möglich, ein- und dieselbe Geschichte nicht nur in einer dieser kohärenzstiftenden und sinngebenden Formen zu erzählen: Damit erscheint es unmöglich, zu bestimmen, wie es „eigentlich“ war.
Geschichtsbilder sind psychische Konstruktionen von einer primären
Realität, von unmittelbarer Gegenwärtigkeit.
Die vier Typen (ob sie ausreichen, lässt sich mit guten Gründen bestreiten) stellten kategoriale Muster bereit, mit denen sich die Denkweisen der Historiker erfassen ließen. Sie führten auf das metahistorische Terrain, so White, ein Terrain, auf dem Historiographie und spekulative Geschichtsphilosophie „in ihrem Bemühen, der Geschichte einen Sinn einzuschreiben“, ihren gemeinsamen Ursprung enthüllten. Als Formen des poetischen, nichtwissenschaftlichen Diskurses lägen sie ihren Erklärungsstrategien „auf den Ebenen der formalen Schlußfolgerung, der narrativen Modellierung und der ideologischen Implikation“ zugrunde. Der Stil einer „story“, meint White, gebe dieser nicht nur eine Form, sondern versehe sie zugleich mit Sinn. Der Ablauf von Geschehen wird nicht dargestellt, sondern überhaupt erst hergestellt: Die Beziehungen zwischen den Ereignissen sind nicht „draußen in der Wirklichkeit“ gegeben, sie „existieren nur im Kopf des Historikers, der über sie nachdenkt“. Die „story“ gibt ein Bild („image“) der Ereignisse.
Damit wird die Geschichtsschreibung in die Nähe der Poesie gerückt. Die historische Erzählung ist Produkt von Allegorese: „Sie sagt etwas und sie meint etwas anderes.“ Historiographie ist ein Zwitter – sie erscheint weder als strenge Wissenschaft noch als reine Kunst. Dies resultiert offenkundig aus der tropologischen Art des historischen Diskurses. Das Reden in Allegorien und Metaphern aber ist für die Geschichtsschreibung unvermeidlich – ebenso wie „Imagination“, ein eigentlich literarisches Verfahren, bei der Herstellung einer spezifisch menschlichen Wahrheit nicht eliminierbar ist.
Bildlichkeit, darauf soll es hier ankommen, ist die entscheidende Eigenschaft der Tropen: Platon und Aristoteles nennen sie gelegentlich einfach „Bilder“ (έικόνες). Die Metapher überträgt ein Phänomen in ein Bild und behauptet Gleichartigkeit von beidem; Die Logik dabei liegt in gewissen Ähnlichkeiten zwischen dem Gemeinten und dem bildlichen Ausdruck. White selbst bedient sich seinerseits häufig solcher, übrigens meist schöner und angemessener Sprachbilder.
Wirklichkeit, Denken und Sprachbilder
Aber ist es so, dass gerade die Geschichtsschreibung in besonderem Maß anfällig ist für das süße Gift der Metaphern? Ist es sozusagen habituell bedingt, dass die Historikerinnen und Historiker es lieben, in Bildern zu sprechen – oder dazu tendieren, Bilder überhaupt als Verdichtung von Geschichte zu bemühen? Liegt die Bildhaftigkeit im Gegenstand selbst- das Wissen vom Gewesenen ist, nach Walter Benjamin, bildhaft – oder hat es überhaupt mit den psychischen Vorgängen des Wahrnehmens und des Erinnerns zu tun? Wittgenstein sagt, dass alles Denken seine Wurzel in Bildern habe. Schließlich ist der Mensch ein historisches Wesen, für den Zeitlichkeit eine existenzielle Erfahrung ist. Evidenzen liefert auch die Kognitionspsychologie.
Resümieren wir nochmals das Problem jeder historischen Darstellung: Sie muss eine hochkomplexe, auf mannigfache Weise – durch Texte, Kunstwerke und andere Gegenstände – überlieferte, vergangene Wirklichkeit, als kohärentes Ganzes darstellen. In der Erzählung werden die flimmernden Leuchtspuren in unserem Gehirn strukturiert, zu Materie gestaltet; sie werden zu Texten. Ereignisse werden zu einer Erzählung mit geordneter Ereignisfolge verknüpft („emplotment“) und erklärt. Nun erscheinen sie als chronologische Abläufe, als Geflecht von Ursachen und Wirkungen. Die Narration konstruiert Zeitlichkeit, sie macht die Zeit „menschlich“. Sie stellt eine nomologisch-deduktive Kette von Folgerungen her, die notwendig etwas anderes ist als das vergangene Geschehen „draußen in der Wirklichkeit“ es war. Dabei unterlegt sie ihm einen Sinn.
Die Differenz zwischen geschehener und aufgezeichneter Geschichte – wie immer man sie beschreiben möchte – ist in der Tat fundamental, und sie ist unaufhebbar. Ihre Bedeutung ist grundsätzlicher als die im Zentrum postmoderner Theoriedebatten stehende Beziehung zwischen Geschehen und Text. Schon die Vorstellungen, die von der Sprache erzeugt werden, sind ja niemals die Sache selbst. Es sind Körperbilder, die ihre einzige Wirklichkeit – wenngleich nicht ihr „eigentliches Sein“ – im Körpermedium gewinnen. Ihre Artikulation in Worten und Zeichen, ihre Transformation also in andere Medien, kommt einer erneuten, weiteren Entfremdung von ihrem Gegenstand gleich.
Man hat beobachtet, dass das natürliche Gedächtnis vor allem Bilder, keine Handlungsabläufe und zeitübergreifende Zusammenhänge, auch keine abstrakten Sätze bewahrt. Wir erinnern uns vielmehr an statische Szenen, nicht an einen Geschehensfluss. Abläufe, die rätselhaften Kontinuitäten der Außenwelt setzt das Gehirn aus Einzelbildern zusammen. Steht der Gedanke, mit Wittgenstein, im Verdacht, das „logische Bild der Tatsachen“ zu sein, formuliert die Metapher ein Bild dieses Bildes. Die Frage nach der Beziehung zwischen Ausdruck und Gedanke lässt sich ebenso als hermeneutische Aufgabe fassen wie die zwischen dem Gedanken und dem „äußeren“ Objekt, auf das er sich bezieht. Das ontologische Problem bleibt davon unberührt; unzweifelhaft ist, dass mentale Bilder, „piktoriale Repräsentationen“, „keine belanglosen Epiphänomene sind, sondern entscheidende Bedeutung auch für kognitive Prozesse haben“.2
Wenn sich Historiographie bei ihrer Erzählung häufig, womöglich im Übermaß, auf Sprachbilder stützt, erscheint das also nicht unbedingt als spezifisches Defizit einer hybriden, zwischen Wissenschaft und Literatur flottierenden Disziplin. Vielmehr reflektiert der Einsatz von Tropen und damit die Evokation von Bildern tatsächlich die Arbeitsweise unseres Gehirns; diese Praxis ist seiner Struktur, der Arbeitsweise des ikonischen Gedächtnisses, adäquat. Unsere oben gestellte Frage müsste demnach bejaht werden: Die Verwendung von Sprachbildern verweist offenbar auf neuropsychologische Voraussetzungen, wie sie keineswegs nur bei Historikerinnen und Historikern gegeben sind. Vielmehr bemerken wir eine anthropologisch vorgegebene Art und Weise, Wirklichkeit wahrzunehmen und zu memorieren.
Nietzsche nennt „die Illusion der künstlerischen Uebertragung eines Nervenreizes in Bilder, wenn nicht die Mutter so doch die Grossmutter eines jeden Begriffs“. Damit wird der metaphorische Charakter von Sprache überhaupt postuliert. Auch Goethes eingangs zitierte Bemerkung zielt auf die grundsätzliche Frage, wie Wirklichkeit, Denken und Sprache sich zueinander verhalten. Auf den elementaren Charakter der Metapher verweist schließlich ihre Bedeutung im Mythos oder im Traum, wo sie als Symbole des Unbewussten gedeutet wurden. Insofern wird man Paul Veyne zustimmen, wenn er historische Begriffe als „zusammengesetzte Vorstellungen“ bezeichnet, die allein eine Illusion begrifflicher Erkenntnis vermittelten, tatsächlich aber so etwas wie „generische Bilder“ seien.
Unzweifelhaft sind die technischen und manchmal auch ästhetischen Qualitäten der Tropen. Sie ermöglichen es, komplizierte Sachverhalte, deren prosaische Beschreibung umständlich und schwierig wäre, in suggestive Bilder zu drängen: So vergleicht Hayden White selbst die Leistungen der Renaissancekultur mit den „Schaumkronen der Brandung, die zwischen zwei Klippen zerfließen“; Burckhardts bilderreiche Darstellung der Epoche der Renaissance wird folgendermaßen charakterisiert: „Die Stimmung ist elegisch, doch die Gegenstände des Bildes sind wild und erhaben. Der stoffliche ‚Realismus‘ rührt von der Weigerung her, irgend etwas Hartes oder Gewaltsames zu verbergen, doch wird der Leser die ganze Zeit an die Blumen erinnert, die auf diesem Komposthaufen menschlicher Unvollkommenheit erblühen.“
Nebenbei erinnern Textstellen dieser Art an die schon von der antiken Theorie der Tropen hervorgehobenen schmückenden Funktion der Metapher. Ihr Einsatz liegt oft schon aus stilistischen Gründen nahe. „Gut“ ist ein Bild nach Wittgenstein aber nur, wenn es zur Übersichtlichkeit beiträgt. So gesehen sind die gerade zitierten Metaphern „gut“ – man versuche einmal, das, was White mit „Brandung“ und „Schaumkronen“ umschreibt, metaphern-, also bilderlos darzustellen.
Visuelle Eindrücke, wie auch immer sie evoziert werden (auch das Sprachbild stimuliert im Kopf ein „wirkliches“ Bild: Brandung, Schaumkronen, Blumen auf Komposthaufen!), wirken offenbar prinzipiell stärker als bloße Erzählungen, sie bleiben leichter im Gedächtnis haften. Sie sind für die Erinnerung von herausragender Bedeutung ; unter bestimmten Umständen können Bilder direkt, ohne den Umweg durch das „sensorische“ Gedächtnis und das Kurzzeitgedächtnis, Aufnahme und Bleiberecht im Langzeitgedächtnis finden.
Diese Zusammenhänge wurden offenbar schon in der Antike geahnt. Die unter dem Namen „Ad Herennium“ bekannte Mnemotechnik weiß ebenso von Kraft der Bilder wie Cicero; auch Mittelalter und Renaissance nutzten sie – ob es sich nun um „wirkliche“ Gemälde und Graphiken, Erinnerungstheater z.B., oder um durch Sprache evozierte Bilder handelte – für mnemotechnische Strategien. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bietet das „Haus der Erinnerung“, das der Florentiner Michele del Giogante nach dem Muster antiker Rhetoriklehren errichtete: ein imaginäres Haus, in dem von Raum zu Raum allerlei Gegenstände, Symbole und Allegorien plaziert wurden, die bei Bedarf abgerufen werden konnten.
Von größter Bedeutung waren bildliche Vorstellungen für die spätmittelalterliche Frömmigkeitspraktiken. Eine in Venedig gedruckte Gebetsanleitung der Mitte des 15. Jahrhunderts, der „Zardino de Orazion“, empfahl, man solle sich gut bekannte Örtlichkeiten denken und Szenen der Passion darin spielen lassen; den Akteuren – Christus, Heilige, Maria –, so der Text weiter, wären die Physiognomien vertrauter Personen zu verleihen. Durch solche Strategien der Vergegenwärtigung, das ist der Grundgedanke des Traktats, wurde das Einfühlen in die Passion und das Mitleiden erleichtert. Diese Praktik frommer Meditation spiegelt sich auch in der religiösen Kunst des Quattrocento.
Geschichtsbilder als komplexe psychische Realitäten
Wie Bilder es erleichtern, sich die Stationen der Passion oder Episoden aus Heiligenlegenden zu merken, gewinnen sie auch bei der Konstitution von Geschichtsbildern eine bedeutende, freilich oft unbewusste und selten reflektierte und analysierte Relevanz. Sie lassen sich – wie überhaupt Objekte der Außenwelt – mit einem Begriff des Ethnologen Alfred Gell als „agencies“ fassen. Sie sind „Agenturen“ von Vorstellungen, und sie setzen Assoziationsketten in Gang. So üben sie Wirkungen aus, werden zu mächtigen Kraftzentren in Geschichtsbildern.
Ich verstehe unter „Geschichtsbilder“ zunächst philosophisch oder religiös begründete Interpretationen von Geschichte, universalhistorische Konzepte oder nach rationalen Prinzipien gestaltete Epochendarstellungen. Manche Texte bedienen sich schon im Titel der Bild-Metapher, man denke an Gustav Freytags „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“. Weiterhin meine ich mit dem Begriff jene schwer greifbaren Strukturen, zu denen sich Geschichte, historische Vorgänge, Gestalten, Epochen im Kopf verdichten. „Das Gemälde der Nationen“, meint Herder mit Blick auf die Unterschiede zwischen „kultivierten und unkultivierten Völkern“, habe „unendliche Schattierungen, die mit den Räumen und Zeiten wechseln“ ; in der Tat gleicht die „Kopfwirklichkeit“ der individuellen Geschichtsbilder – was die Introspektion bestätigt – einer Collage, die von unzähligen Symbolen, Worten, Figuren und Szenerien bevölkert ist, aber auch impressionistische, nur hingetupfte, kaum ausgeführte Stellen hat. Es ist aber keine statische Darstellung, vielmehr befindet sich unser metaphorisches Konstrukt in dauernden Veränderungen: Das eine oder andere Detail kommt hinzu, manches verblasst, verschwindet; da und dort – man muss nur ein paar Bücher zu Spezialthemen lesen – treten die Konturen schärfer hervor und die Akteure gewinnen plas-tische Gestalt. Manchmal, wenn ein Biograph sein Nekromantenhandwerk gut versteht, scheint es, als hätten sie Fleisch und Blut. Man kann sich dem Ganzen da und dort annähern, es mikroskopisch untersuchen, die eigenen Vorstellungen in den hermeneutischen Zirkel zwingen; gewiss ist, dass sich das Bild, bereits dadurch, dass wir darüber reflektieren, verändert.
Genese und die Metamorphosen unseres Geschichtsbildes sind ebenso von wissenschaftlicher Arbeit abhängig, wie sie von Emotionen, von biographischen Entwicklungen, selbst von Zufällen bestimmt werden. Am Anfang historischer Interessen kann romantische Begeisterung für Ritter, der Wunsch, zur Befreiung der Frauen beizutragen, oder auch Betroffenheit wegen der Verbrechen der Nazis stehen. Warum wird der eine Mediävist und Spezialist für rituelle Handlungen oder Königskrönungen, der andere Hexenforscher oder Fachmann für die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches? Warum begeistert sich der eine für die die Analyse der Schriften Foucaults und der andere für die Erforschung der Biographie des Müllers Menocchio?
Solche Optionen lassen sich kaum bis ins Letzte rational begründen. Unzweifelhaft haben sie aber größte Bedeutung für die Gestalt der jeweiligen individuellen Geschichtsbilder. Fügen wir hinzu, dass nicht nur der Gesichtssinn an der Komposition von Geschichte teilhat. Zu ihrer Vergegenwärtigung gehört die geheimnisvolle metaphorische Wirkung der Musik (abgesehen davon: kann man sich das 18. Jahrhundert „denken“, ohne Bach und Mozart, das 19., ohne Schubert und Wagner zu hören?) oder der Rhythmus von Gedichten (lässt sich „Renaissance“ vorstellen, ohne dass man von Ferne die Poesie Michelangelos oder ein Sonett Petrarcas vernimmt?).
Ereignisse von großer Bedeutung haben keine Bildchronisten gefunden und sind daher auch im kollektiven Gedächtnis kaum präsent.
Dazu gehören schließlich die haptischen und olfaktorischen Reize, die sich beim direkten Kontakt mit Quellen einstellen, womöglich in den unterirdischen Gewölben eines italienischen Stadtpalastes. Historikerinnen und Historiker, die das Privileg hatten, einige Jahre ihres Lebens an solchen magischen Orten zu verbringen, wissen, wovon die Rede ist: von hartem, gelblichen Pergament und von brüchigem Papier, auf dem Botschaften aus fernen, exotischen Welten verzeichnet sind; vom Streusand und den roten Bröckchen alten Siegellacks, der von den Blättern rieselt; vom Geruch im Lesesaal, einem unbeschreiblichen Gemisch aus Moder, Staub, buchstäblich der Staub der Jahrhunderte, dazu vielleicht Bohnerwachs und die Ausdünstungen eines alten Heizofens … Auch das alles kann Vorstellungen von Geschichte beeinflussen, in den Momenten der Forschung und ersten Erkenntnis. Sie weben mit an der mythischen Aura, die alte Dokumente umgibt, begründen ein Stück jener romantischen Sentiments, die historische Forschung nolens volens gelegentlich begleiten.
Man sage nicht, hier sei von Nebensachen die Rede. Geschichtsbilder sind psychische Konstruktionen von einer primären Realität, von unmittelbarer Gegenwärtigkeit. Sie sind überhaupt jene Geschichte, die allein uns zugänglich ist, an der wir uns hermeneutisch und im Diskurs mit anderen abzuarbeiten haben. Die Emotionen, die während aller Phasen der historischen Forschung, der Entscheidung für eine bestimmte Fragestellung, schließlich der Niederschrift der Resultate die kühle hemeneutische Reflexion begleiten, mögen lästig oder als Mittel, den Arbeitseifer zu beflügeln, erwünscht sein – ganz eliminieren lassen sie sich niemals.
Das Problem liegt in der Referenzialität. Im Zusammenhang mit seinem Kommentar zu Freuds Traumdeutung konstatiert Wittgenstein: „Wenn etwas an der Freudschen Lehre von der Traumdeutung ist; so zeigt sie, in wie komplizierter Weise sich der menschliche Geist Bilder der Tatsachen macht. So kompliziert, so unregelmäßig ist die Abbildung, daß man sie kaum noch Abbildung nennen kann.“ Das Gesagte gilt aber auch für durchaus im Wachzustand konzipierte Bilder von Geschichte.
Bilder und Sprachbilder
Wie sich Metaphern und andere Tropen in jene fragilen, irisierenden Geschichtsbilder drängen, ließe sich an unzähligen Beispielen belegen. Dazu kommen Eindrücke durch Objekte, durch wirkliche Bilder, etwa Gemälde oder Fotografien, und „in der Wirklichkeit“ wahrgenommene Szenerien, die unmittelbar in Geschichtsbilder eindringen und dort ein schwer beherrschbares Eigenleben entfalten. Ihrer Rezeption kommen wiederum Eigenheiten der Produktionsabläufe der in unserem Kopf wirkenden biochemischen Fabrik zugute: die privilegierte Stellung des Visuellen im kognitiven Prozess und in der Ökonomie des natürlichen Gedächtnisses.
Natürlich gibt es zwischen Metaphern und „wirklichen“ Bildern Unterschiede. Der wichtigste ist, dass das Sprachbild, ein aus abstrakten Zeichen zusammengesetzter Text, der Umsetzung in eine „optische“ Vision bedarf, die im Akt der Wahrnehmung unmittelbar erfolgt (wenngleich individuell auf sehr verschiedene Weise). Weiterhin ist die Metapher – zumal dann, wenn sie im Dienst einer „historischen Erzählung“ steht – schon durch diesen thematischen Zusammenhang kontextualisiert. Sie bleibt in ihrer Bedeutung dementsprechend mehr oder weniger determiniert. Metaphern haben poetische Qualitäten; sie gleichen insofern der Malerei: Die Metapher ist Kronzeuge einer alten kunsttheoretischen Position, die Horaz’ Gleichung „ut pictura poesis“ auf den Punkt bringt. Auch wird man zugeben, dass die gerade zitierten Metaphern, die White zur Beschreibung von Burckhardts Renaissancebuch verwendete, „schön“ sind und dazu geeignet, die Gedanken auf eine Bilderreise zu schicken.
Die Bilder, die sich unser Gehirn von den Dingen der Außenwelt macht, müssen dagegen erst in den historischen Zusammenhang gerückt werden. Das geschieht durch Passepartouts, Paratexte und Inszenierungen (z.B. in Museen und Ausstellungen), durch den wissenschaftlichen Diskurs und einige andere Techniken. Ob und wie intensiv solche Objekte wahrgenommen werden und welche Wirkung sie ausüben, ist dann wieder von einer Vielfalt von Qualitäten und Umständen einschließlich individueller Dispositionen abhängig; etwas präziser fassbar wird dies im Fall der „historischen Grundbilder“, auf die ich noch eingehen werde.
Gelegentlich kann ein Bild mit ganz anderer Bestimmung durch Kontextualisierung zu einem Bild für Geschichte werden. Eine der berühmtesten Metaphern für Geschichte konstruierte Walter Benjamin, indem er zu einem Bild Paul Klees einen bestürzenden Text rückte: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Bilder für Geschichte
Die Funktion der Sprachbilder, der bildhaften Vorstellungen und der Bilder im Kontext der historischen Erzählung ist „mehrschlächtig“. Man sollte unterscheiden zwischen der Relevanz der bildlichen Eindrücke für die Konzeption und Ausgestaltung der Geschichtsdarstellung einerseits, ihrer Wirkung auf die Rezipientinnen und Rezipienten andererseits. Sinnlich wahrnehmbare „Zeichen“ der Vergangenheit sind Texte und Artefakte aller Art, Gebäude, Monumente, Ruinen, Kunstwerke, im Besonderen Bilder. Es ist eine unüberschaubare Fülle von Dingen, die der historischen Einbildungskraft Kristallisationspunkte – man könnte auch sagen: Zündstoff für Neuronen-Feuerwerke – bieten. Dass eine zentrale Aufgabe der Rede die Erzeugung klarer Bilder sei, wusste im Übrigen schon die antike Rhetorik; der Kunsttheoretiker Antonio Francesco Doni im 16. Jahrhundert griff diese Position auf und nannte sich selbst einen „dipintor che favella“ und einen „pittore in scritto“. Die Sprache kann „in un subito“, unverzüglich, ein Gedankenbild des ursprünglich Vorhandenen evozieren. „Ich sitze auf den Stufen“, erzählt Ernesto Grassi: Er sieht sich in den Ruinen eines antiken Theaters. „Der Halbkreis des Theaters dreht sich in immer zunehmender Geschwindigkeit, die Besucher müssen sich an ihrem Platz festklammern: ist es die Zentrifugalkraft der Geschichte die einen im Nichts, im Schweigen schleudert? Und doch, würde jemand im Zentrum des Amphitheaters aufstehen und sprechen, so würde die tote Wand der Geschichte fallen und die Landschaft, das Leben, das zu dem steinernen Halbkreis hinaufschaut, auflodern.“3
Die Wirkung der Bilder, überhaupt der Kunst, war schon für die Geschichtsbilder der Historiker des 19. Jahrhunderts von geradezu überwältigender Suggestivkraft. Das bedeutendste und folgenreichste Beispiel bietet Hegels Ästhetik und seiner Geschichtsphilosophie; bei ihm erscheint die Kunst als materielle Kristallisation des Weltgeistes. Aus Werken freier Kunst lasse sich das „eigentümliche Prinzip“ der jeweiligen Entwicklungsstufe ablesen. Sie verweisen auf das Ganze; die Weltgeschichte expliziert sich so im Prinzip auch in der Kunstgeschichte: „In Kunstwerken haben die Völker ihre gehaltreichsten inneren Anschauungen und Vorstellungen niedergelegt, und für das Verständnis der Weisheit und Religion macht die schöne Kunst oftmals, und bei manchen Völkern sie allein, den Schlüssel aus.“4 Der Kunst wird mit der Deutung, Ausdruck einer geschichtsphilosophischen Totalität zu sein, reichlich viel aufgebürdet; die idealistische Kunstphilosophie bietet ein herausragendes Beispiel dafür, in welchem Maß visuelle Anschauung auf historische Vorstellungen bezogen, sie wohl umgekehrt auch konditionieren kann. Das Konzept entfaltete eine außerordentliche Wirkung, die bis in die Geschichtsschreibung Karl Lamprechts, in die Psychohistorie Aby Warburgs und schließlich in die Ikonologie Panofskys reicht. Bei letzterem beruht das Kunstwerk auf Prinzipien, die der „Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen Überzeugung“ entsprächen, „unbewußt modifiziert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem einzigen Werk“.
Panofskys ikonologische Methode war als Verfahren zur Interpretation von Kunstwerken entwickelt worden; ihr Fundament ist die von Hegel theoretisch begründete Überzeugung, im Werk seien ganze Epochen aufgehoben. Umgekehrt dienten Bilder Historikern als Quellen für ihre Geschichtsbilder. Obwohl in Burckhardts Cultur der Renaissance von Kunst kaum die Rede ist – der Plan einer integralen Kunst- und Kulturgeschichte scheiterte – steht sicher am Anfang der buchstäblich epochalen Konstruktion die Erfahrung Italiens und seiner Kunst.
Der vielleicht spektakulärste Fall einer von Bildern ausgehenden Konzeption einer historischen Darstellung dürfte Johan Huizingas Erfindung des burgundisch-niederländischen Spätmittelalters sein, der seine weniger bekannte, ebenfalls bilderreich komponierte Geschichte der Niederlande im „Goldenen Zeitalter“ an die Seite zu stellen ist. Huizinga betonte schon in seiner Groninger Antrittsvorlesung von 1905, dass Bilder sowohl bei der Analyse historischer Zusammenhänge als auch bei deren Darstellung eine bedeutende Rolle spielen; er geht so weit, zu konstatieren, dass das Studium der Geschichte und die Schöpfung von Kunstwerken gleichermaßen die Schaffung von Bildern zum Gegenstand hätten. Die Arbeit des Historikers sei eine Art Evokation von Bildern. Bei der Beschäftigung mit Geschichte komme das Bild zuerst. Man müsse zwar alle Zeugnisse einer Epoche kritisch analysieren; unbestreitbar sehe man aber durch das Bild die Vergangenheit „klarer, schärfer und farbiger, mit einem Wort: historischer“.
Huizinga hat in seinen Lebenserinnerungen geschildert, wie ihm auf einem Spaziergang im Land um Groningen plötzlich der Gedanke kam, das späte Mittelalter sei nicht Ankündigung von etwas Kommendem, sondern ein Absterben dessen, was dahingehe. „Dieser Gedanke … kreiste vor allem um die Kunst der van Eycks und ihrer Zeitgenossen.“ Er spricht dann von den Versuchen, die altniederländische Malerei als eine Art „anbrechende nördliche Renaissance“ zu deuten – dagegen wird er seine Sicht der Epoche konzipieren. Herbst des Mittelalters (1919) wird ein suggestives, enorm dichtes „Bild“ liefern, für dessen Konzeption Kunstwerke entscheidende Bedeutung haben. Theoretisch unterfangen hat Huizinga sein Verfahren mit der Erwägung, die Epik der historischen Darstellung sei nicht etwa Produkt einer literarischen Einbildungskraft. Sie liege in den Tatsachen selbst. Ganz ähnlich argumentiert Stefan Zweig in seinem Essay Die Geschichte als Dichterin (1939/43).
Historische Bilder, wie sie Burckhardt, Freytag oder Huizinga gaben (das gilt vor allem für dessen spätes Hauptwerk über die niederländische Kultur des 17. Jahrhunderts), hatten nicht zuletzt die Funktion, einem modernitätsmüden Publikum imaginäre Räume zu öffnen, in die man sich hineinversetzen konnte; da ließ sich die unerfreuliche Gegenwart vergessen.
Die Bilder geben oft nicht den Blick frei auf die Welt wie Fenster, sie sind vielmehr Mauern, die es zu durchbrechen gilt.
Walter Benjamins Engel der Geschichte dagegen ist kein Antiquar, der aus dem Schutt der Jahrtausende in ruhiger Kontemplation die Überlieferung sammelte, um daraus seine Erzählungen zu fertigen. Vom lange verlorenen Paradies her weht der Sturm des Fortschritts und treibt den Engel vor sich her: Die Kraft der Flügel reicht nicht aus, in der Geschichte zu verharren. Die Geschichte lässt sich nur vom Horizont der Gegenwart aus begreifen. Erst jetzt enthüllen sich die unfertigen Bilder, die sie hinterlassen hat. Der Historiker muss sie wie fotografische Negative entwickeln, und er hat dabei die aktuellen Motive auszuwählen. Burckhardts Aufforderung, alles, was nur „im entferntesten“ zur Kunde der Vergangenheit als einem „geistigen Kontinuum“ dienen könne, mit aller Anstrengung zu sammeln, markiert eine diametrale Gegenposition. Benjamin propagiert gegenüber der antiquarischen Historiographie eine Geschichtsschreibung, die – im Sinn von Nietzsches berühmtem Essay5 – zur Tat anstiftet. Indem sie die Bilder aus der Vergangenheit zur Vollendung bringt, zeigt sie Möglichkeiten, wie sich die Geschichte der Katastrophen beenden und eine neue Geschichte beginnen lässt. Sie führt Situationen vor Augen, in denen sich diese Optionen eröffneten. Die vom Historiker fertig gestellten Bilder von Unterdrückung und Gewalt sollten, so argumentiert Benjamin, dazu auffordern, die Menschen zur Freiheit zu bringen. Damit wird den Bildern eine metahistorische Zielsetzung zugewiesen. Allerdings stellen sie – wie jede „Verarbeitung“ von Geschichte zu Erzählung – notwendig Abstand her selbst zum schrecklichsten Geschehen. Ästhetisierung ist aller Geschichtsschreibung als Tendenz inhärent. Die Bilder von Auschwitz, die Berichte darüber, sind nicht im entferntesten das Grauen. Es ist wahr: Der Historiker, der aus den sicheren Distanzen von Raum und Zeit niederschreibt, was war, hat es leicht, jene olympische Gelassenheit zu bewahren, die White einmal als Berufskrankheit (genauer, vielleicht, als eine bereits aus der narrativen Form inhärente Affinität zur Ideologisierung, wenigstens zur moralischen Domestikation) diagnostiziert.
Stabilisatoren des Gedächtnisses
Wir haben bisher vor allem von der Macht der Sprachbilder und Bilder und von der Kraft der Gefühle mit Blick auf das Erforschen und Schreiben von Geschichte geredet. Transformiert in Papier und Schrift, dann von ihren Autorinnen und Autoren in die Welt entlassen, wirken die Bilder erneut als Stimulanzien der Fantasie. Von größter Bedeutung sind sie in illiteraten Gesellschaften. Ihr kulturelles Gedächtnis beruht ausschließlich oder weitgehend auf ikonischen Bildern. Darüber hinaus ist bekannt, dass die Fähigkeit des Menschen, Bilder, die er einmal gesehen hat, wiederzuerkennen, außerordentlich gut entwickelt ist, dass Bilder einprägsamer sind als Worte; man kann von einem Bildüberlegenheitseffekt sprechen. Warum das so ist, ist ein umstrittenes Forschungsproblem. Gelegentlich erfolgt duale Encodierung: Mit den Bildern wird auch das korrespondierende verbale Wissen mitencodiert.
Die Macht der visuellen Reize zeigt sich schon daran, dass einige historische Epochen nach Kunststilen benannt sind bzw. mit Begriffen für Kunst ein gemeinsames Feld haben – man denke an die „Zeitalter der Renaissance“ oder „des Barock“. Zeigt sich, kaum hat man das Wort „Renaissance“ ausgesprochen, nicht Michelangelos „David“ oder Brunelleschis Florentiner Domkuppel vor dem „geistigen Auge“? Sehen wir beim Wort „Barock“ nicht unmittelbar eine Rubens-Szene mit heftiger Bewegung und viel nacktem Fleisch, Rigauds „Ludwig XIV.“, wulstige Ornamente oder ausladende Schlossanlagen vor uns – „Wahrzeichen“ im Sinne einer semiotischen Bildtheorie?
Es ist wohl richtig, dass Bilder, Gebäuden und Monumenten zu den „Stabilisatoren“ des kollektiven Gedächtnisses zählen. Allerdings handelt es sich um einen nicht präzise definierbaren Bestand; zudem entfalten die Bilder in den Köpfen des Publikums ihre eigene, keineswegs statische Wirklichkeit. Selbst durch die intensivste Kommunikation kann nicht erreicht werden, ein- und dieselbe Vorstellung in den Kopf des Gegenübers zu verpflanzen. Die Schemen werden sich da und dort ein wenig abgleichen lassen, man wird durch gemeinsames Betrachten Übereinstimmungen plausibel machen können – aber es ist ja unmöglich, den Abgrund zwischen den Welten der Gehirne wirklich zu überwinden. Keine Instanz kann darüber befinden, wie ähnlich die Bilder, die sich in den Köpfen formen, einander sind, wie die Worte, die sich mit visuellen Eindrücken zu dem verbinden, was man „Geschichtsbild“ nennt, verstanden werden. Evoziert das Wort „Elizabeth I.“ ein Bild der Königin, wie es Lucas de Heere gab, oder jenes der Schauspielerin Cate Blanchett?
Einige Werke bringen es zu historischen „Grundbildern“ oder auch „Schlagbildern“. Die Geschichtsdidaktik spricht auch von Signal- oder Leitbildern, Emblemen bestimmter historischer Epochen oder Ereignisse. Man kann sie ihrerseits als historische Dokumente nutzen, etwa, wenn es um die Erschließung jeweils zeitgebundener Erzählstrategien geht. Die Gründe für ihre Prominenz liegen meist auf der Hand: Die Bedeutung des dargestellten Ereignisses oder der gezeigten Person, auch die zeitliche Nähe zum Geschehen (man denke an die primitive Zeichnung, die Wallensteins Ermordung zeigt), womöglich tatsächliche oder vorgebliche „Augenzeugenschaft“ des Künstlers, spielt eine Rolle: Der Maler Gerard Terborch gab sich als „anchor man“ auf dem Westfälischen Friedenskongress. Er fügte sich in die Gruppe der den Frieden von Münster beschwörenden Diplomaten ein. Sein kleines Gemälde fehlt in keiner bebilderten Darstellung des 17. Jahrhunderts. Es wird oft (fälschlich) zur Chriffre des Westfälischen Friedens überhaupt.
Manches „Grundbild“ verdankt seinen Ruhm allein dem Umstand, dass keine weitere bildliche Überlieferung besteht. Die normannische Eroberung Englands zum Beispiel ist allein durch den Teppich von Bayeux überliefert, dessen Bericht für immer unsere Vorstellungen vom Geschehen des Jahres 1066 prägt.
Gefährliche Bilder
Es gibt sogar Ereignisse oder Personen, welche die Tatsache, dass sie noch memoriert werden, allein dem Umstand verdanken, dass sie zu Sujets bedeutender Kunstwerke wurden. Die Schlacht von San Romano wäre heute längst vergessen, hätte sie nicht Paolo Uccello zum Thema eines berühmten Bilderzyklus gemacht; der Name Bartolomeo Colleoni wäre heute nur noch ein paar Militärhistorikern bekannt, gäbe es nicht Verocchios Reiterfigur in Venedig. Und von der Zerstörung Guernicas weiß die Welt vor allem durch Picassos Jahrhundertbild. Ereignisse von weit größerer Bedeutung haben keine Bildchronisten gefunden und sind daher auch im kollektiven Gedächtnis kaum präsent: Niemand war dabei, als Gutenberg die Buchdruckerkunst revolutionierte; kein „embedded painter“ malte Columbus, als er zum ersten Mal amerikanischen Boden betrat. Dafür haben wohl die meisten von uns noch Kopfbilder von der Landung der US-Marines auf der Karibikinsel Grenada, weil rechtzeitig vor dem „historischen Ereignis“ Kamerateams einbestellt worden waren.
So sind Bilder oft ungerecht gegenüber der Vergangenheit. Sie können Personen und Ereignisse ins Licht rücken, die diese Ehre nicht verdienen, Bedeutung behaupten, wo Belanglosigkeit oder auch Verbrechen war. Die Riesenfiguren sinistrer Diktatoren und Monster in aller Welt legen oder legten Zeugnis davon ab; gelegentlich wird wirkliche historische Bedeutung ins Gigantische gesteigert, von den Resten des Kolosses Kaiser Constantins in Rom bis zur Sitzfigur Abraham Lincolns in Washington oder den Präsidentenporträts am Mount Rushmore mangelt es nicht an Beispielen.
Es liegt in der Natur der Bilder (und begünstigt ihren Eintritt ins Gedächtnis), dass sie die Geflechte von Ursachen und Wirkungen, das Mit- und Gegeneinander von Kräften und die komplizierten Interdependenzen, die formen, was man „Geschichte“ nennt, überblenden und Geschehen zu einzelnen Szenerien und Figuren verdichten. Sie vereinfachen und vergröbern. Starke Bilder verdrängen die Botschaften der Worte. Ein eklatantes Beispiel sind die „Folterbilder“ aus dem Gefängnis Abu Ghraib in Bagdad. Sie wurden zu Symbolen einer menschenverachtenden, zynischen Politik, wirkten im Sinn Benjamins tatsächlich als Fanale, sich gegen Unterdrückung und Gewalt zu erheben. Tatsächlich war das, was sie zeigten, schlimm; aber es war gewiss nicht viel schlimmer (und womöglich harmloser) als vieles, was sich in den Folterkammern Saddam Husseins und anderer Despoten der Region vollzog oder vollzieht. Nur, davon gibt es keine Bilder, die Affekte mobilisieren, emotional mitreißen könnten. Wir haben keine Bilder, die das Elend, das der Krieg für Abertausende von Zivilisten bedeutet, zeigten; aus guten Gründen nur versucht die Bush-Regierung das Mögliche, um zu verhindern, dass in den Medien Särge mit den Überresten amerikanischer Soldaten zu sehen sind. Ein wahres Bild vom Krieg müsste ein Gebirge zeigen, das aus einer inzwischen wohl sechsstelligen Zahl von Toten gebildet ist.
Dafür hat sich die düstere Ästhetik der in sich zusammenstürzenden New Yorker Wolkenkratzer tief ins Gedächtnis eingegraben. Die Botschaft der Terroristen ließ niemanden unberührt. Die Bilder wurden zu wichtigen, vielleicht entscheidenden Argumenten, zwei Kriege zu führen, die inzwischen längst ein Vielfaches der Menschenleben kosteten, welche die Anschläge des 11. September forderten. Ihre Bilder aber werden erinnert. Die durch sie evozierten Eindrücke bestimmen den Diskurs. Sie verminderten die Chance zu einer rationalen Strategiediskussion in der Öffentlichkeit.
Mein Schluss ist: Die Schockfotos aus Bagdad zeigen ebenso wie die Aufnahmen aus New York durchaus wirkliches Geschehen. Sie lügen nicht. Aber ihre Aussage ist einseitig, und die Gefühle, die sie hervorrufen, sind von einer gefährlichen Kraft. Nicht nur hier gilt: Solche Quellen bedürfen einer besonders sorgfältigen hermeneutischen Umkreisung, weil sie Emotionen als Verbündete haben und oft bevorzugten Einlass in unser Gedächtnis finden. Die Bilder geben oft nicht den Blick frei auf die Welt wie Fenster, sie sind vielmehr Mauern, die es zu durchbrechen gilt: Man mag dann dem „Schrecken der Geschichte“ vielleicht nicht direkt begegnen, aber doch wenigstens eine Ahnung von ihm bekommen. Die Macht der Bilder muss ihr Gegengewicht in der Macht der Worte finden, selbst wenn sich diese ihrerseits zu Bildern verflüchtigen.
Anmerkungen
1 Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar ab 1887, II, 1, S. 302f.
2 Michael Pauen, Sprache der Bilder, S. 218.
3 Ernesto Grassi, Die Macht der Phantasie. Zur Geschichte des abendländischen Denkens, Frankfurt a. M. 1979, TB-Ausgabe 1984, S. 116.
4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil, hg. v. Rüdiger Bubner, Stuttgart 1971, S. 45.
5 „Wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht“: Dieses Zitat aus dem Vorwort zu Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben stellt Benjamin einem Abschnitt seines „Begriffs der Geschichte“ voran (Illuminationen, S. 257).