In jüngster Zeit fand die Digitalmedienkultur unglaublich rasche Akzeptanz und wurde zum allseits akzeptierten, ja geradezu unabdingbaren Bestandteil unserer Lebenswelt. Wir leben, so heißt es, in einer Informationsgesellschaft. Manfred Faßler, der am Institut für Kulturanthropologie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main lehrt, hat sich in seinem Buch Der infogene Mensch auf die Suche nach einer Entwicklungstheorie dieser Abstraktion gemacht, die seit etwa einem halben Jahrhundert „Information“ genannt wird. Als Medientheoretiker plädiert Faßler dafür, die disziplinär unterschiedlichen Informationsmodelle zusammenzuführen, um ein Konzept für die informationelle Selbstorganisation zu ermöglichen. Denn der modernen Idee linearer Steuerbarkeit von Systemen, so Faßlers These, ist mehr denn je die Grundlage entzogen: Die rationale Planbarkeit gesellschaftlicher oder ökonomischer Prozesse offenbart sich immer häufiger als ein Phantasma. Über einige Implikationen dieser Diagnose für unsere kulturelle Lage gab Manfred Faßler Auskunft.
FRANK HARTMANN Ich beginne mit einer Feststellung, die der Medienphilosoph Vilém Flusser vor einiger Zeit getätigt hat: Undinge würden von allen Seiten in unsere Umwelt dringen und die Dinge verdrängen, und diese Undinge nenne man Informationen. Natürlich hat es Informationen immer schon gegeben, sie waren immer entscheidend. Schon der prähistorische Mensch war auf Informationsverarbeitung angewiesen, um mittels Spurenlesen überleben zu können. Doch jetzt, im Computerzeitalter, ändert sich etwas Entscheidendes, weil wir die Informationsverarbeitung an Apparate delegiert haben: an unsere unbedingten Stellvertreter, was etwa Rechen- und Gedächtnisleistung anbelangt.
MANFRED FASSLER Dieser Gedanke Flussers ist im Zusammenhang mit seinem evolutionär konzipierten 4-Stufenkonzept der Mensch-Umweltbeziehungen zu lesen, auf dessen letzter Stufe, der Nulldimensionalität der technischen Bilder, wir angekommen seien. Ob nun Null-Dinge oder Undinge: Ich kann mit Phasenmodellen oder evolutionären Erklärungen nicht viel anfangen. Dreht man die Argumentation um und fragt danach, über welche Unterscheidungsdimensionen wir sprechen, wenn wir von Information reden, dann wird es interessant.
Der Anthropologe und Kybernetiker Gregory Bateson meinte mit Undingen den kognitiven Zustand der gegenständlichen, dinglichen Welt. Menschen denken in Undingen, weil sie den Stuhl, den Tisch, den Elefanten dinglich-materiell nicht in den Kopf bekommen, sondern immer nur ihre Vorstellung davon. Verbinde ich dies mit den Forschungen zu Muster- und Modellbildungen, mit Imagination und Fiktion, so wird die angesprochene zeitlich weit zurückliegende Fähigkeit der Menschen, Spuren als Informationen lesen und verwerten zu können, als Basisdimension erkennbar.
Berücksichtigen wir die aktuellen Forschungen in Physik und Biologie, dann lässt sich sagen, dass Information – jene merkwürdig wirkende Halbfertigware unseres Denkens, aufgestellt zwischen Daten und Form – der offene Zustand für Selbstorganisation der Materie und des Lebens ist. Der amerikanische Physiker John Archibald Wheeler fasste dies in die grundlegende Frage: IT from BIT? Seiendes aus Information?
Sicher – es stimmt, dass Menschen sich Computer leisten, in denen diese Basisdimension nicht nur bis zur Unbeobachtbarkeit überlagert ist, sondern sich auch noch mit einer merkwürdigen bis bedrohlichen Autonomie verbindet. Hier gilt die Einsicht, dass im Cyberspace kein sichtbar gemachtes Unding irgendetwas repräsentiert, sondern vielmehr etwas ausführt. Was nichts anderes als das ausgelagerte Entscheidungsverhalten bedeutet, aus Dingen Undinge und aus diesen wieder Dinge zu machen. Was wir Menschen uns exklusiv zugeschrieben haben, findet nun offensichtlich auch in Computernetzwerken statt. Ich wäre allerdings etwas zögerlich mit Ausdrücken wie delegiert oder stellvertretend, weil das, was Computerprogramme in all ihrer Komplexität inzwischen vermögen, von Menschen weder sinnlich noch kognitiv machbar wäre.
Individualität wird nun nicht mehr über stabile Ordnungszuweisung kommunikativ abgesichert, sondern über Projekterfolge, über Projektbiografien bestimmt.
HARTMANN Zur Auslagerung des Gedächtnisses, einer ursprünglichen Kulturleistung der Schaffung von Ambient intelligence, wie es in Deinem aktuellen Buch heißt, kommt menschheitsgeschichtlich gesehen erst in jüngster Zeit eine neue Mediengeste hinzu: die Ausdehnung des biologischen Wahrnehmungsfensters durch die Realaufzeichnung von Bildern und Tönen – also das, was Du die „Neuprogrammierung des Verhältnisses von Anwesenheit“ nennst. Sollten wir weniger in Kategorien von Kommunikation denken? Die neuen Medientechnologien wurden stets danach beurteilt, ob sie die menschliche Kommunikation befördern oder behindern. Ist vielleicht übersehen worden, dass es sich dabei um die Produktion von Anwesenheit, um eine gewaltige kulturelle Präsentierungsleistung handelt?
FASSLER Kommunikation ist aus meiner Sicht tatsächlich ein viel zu hoch bewertetes Konzept. Die Vergemeindungsfunktion, die regulativ mit communio verbunden ist, passt nicht mit den Prozessen zusammen, die allgemeinhin als Individuierungsfunktion wahrgenommen wird. In zunehmend komplexen sozialen Systemen ist es Menschen doch unmöglich, die Zusammenhänge zu beschreiben oder wie etwas im einzelnen kommunikativ organisiert ist. Man weiß nicht, was um die Ecke aus welchen Gründen, unter welchen Bedingungen passiert.
Das freilich war, um einen Allgemeinplatz zu verwenden, schon immer so. Doch all diese Situationen wurden einem normativen Zusammenhangsanspruch unterworfen. Reich, Staat, Gesellschaft, Industrie, Wissenschaft – all diese Konzepte legten fest, wie Anwesenheit, Exklusion und Unterordnung in Kollektiven oder funktionalen Einheiten auszusehen hat.
Unterbunden wurde die unordentliche, unwesentliche Kommunikation, die ich einmal Immunikation genannt habe. Damit wurden die Kooperation, die zufällige Kollaboration, die nach momentanen Anforderungen erfolgende Komposition der Daten und Informationen unterbunden. Sie fanden dennoch statt, aber nicht als legitime Kommunikation, sondern außer der Reihe und abseits der Norm.
Die nun durch die Netzverbreitungen entstandenen, unbeobachtbaren Datenströme und Informationsräume ignorieren nicht nur die regulative Kommunikation einer Gesellschaft. Sie verlangen ökonomisch, existenziell, kooperativ nach raschester individueller Antwort. Die Zusammenhänge, auf die sich Kommunikation bezieht, werden zeitlich begrenzter, informationsreicher, im Vergleich zu sozialen Systemen. Ihre Eigenart besteht in den enormen informationellen Vernetzungen, die von keinem klassischen, territorialen Gesellschaftsunikat eingeholt werden können. Anstelle der Gesellschaft treten vorläufige Projektumwelten, in denen auswählende, kooperative Intelligenz wichtiger ist als der über drei Jahrhunderte relativ erfolgreiche Makrozustand Gesellschaft.
Einfach wird es damit nicht. Denn die Individualität wird nun nicht mehr über stabile Ordnungszuweisung kommunikativ abgesichert, sondern über Projekterfolge, über Projektbiografien bestimmt. Menschen werden durch diese Medien-Projekt-Kopplung zu 24 Stunden Online-Anwesenheiten gezwungen. Anwesenheit nach Arbeitszeiten wird tendenziell zur „24 Stunden/360 Grad Anwesenheit“, zur Dimension globaler Raum- und Präsenzökonomie.
Mit den digitalen Netzwerken ist eine mediale Umwelt entstanden, die den sensorischen und denkenden Fähigkeiten des Menschen als medialer Zusammenhang in sich nahekommt. Das ist das im Wortsinne Sensationelle.
HARTMANN Deiner Feststellung, Kommunikation wäre ein viel zu hoch bewertetes Konzept, stimme ich ohne weiteres zu. In den 1960er-Jahren haben sich Fachleute für die Verwendung dieses Ausdrucks noch entschuldigt, so etwa Paul Watzlawick. Der Begriff wurde dann geradezu ideologisiert und Kommunikation erscheint als das Erstrebenswerte schlechthin. Technik, so der Umkehrschluss aus der Habermas-Ära mit ihrem Verständigungs-Phantasma, behindert die Kommunikation oder kann sie maximal technisch verstärken. Meine Frage ist, wie wird sich das denn weiterentwickeln, wenn etwa dank Funkchip-Technologie jetzt auch noch die Dinge zu kommunizieren beginnen? Wie kann die Theoriebildung darauf reagieren?
FASSLER Allerdings ist Kommunikation kein Apriori, sondern ein willkürlicher Akt, der einen bestimmten, normativ gefassten Zusammenhang setzt. Tauscht man Kommunikation durch selektive Interaktivität aus, wird die Brisanz des verklärend seminaristischen Kommunikationsideals etwa von Habermas deutlich. Es ist das weltliche Ordo-Versprechen der Typografie, ein erzieherischer Verständigungsimperativ.
Mit selektiver Interaktivität hingegen versuche ich, die Ordnungsform Communio zu vermeiden und auf eine davor liegende Ebene zu gehen: Information oder infogene Felder. Denn das, was durch Kommunikation im Sortiment der Verständigung gehalten wird, ist das Ergebnis von Vorentscheidungen über die Verwendung von Unterschieden, Mustern, Modellen, Irritationen. Nicht diese kritisiere ich, denn sie sind für jede Wahrnehmung unvermeidlich, sondern die Arroganz dieser bedeutenden Vorentscheidungen. Aus ihnen wird abgeleitet oder hergeleitet. In diesen Setzungen werden die engen Freiheitsgrade von gesetzter Bedeutung gegen flexible Deutung gerüstet, Form gegen Information, getroffene Entscheidungen gegen ergebnisoffene Unterschiede, Informationseigentum gegen Open source.
In den Kommunikations- und Medientheorien ist vergessen worden, dass es nie und nimmer um den Transfer von Bedeutungscontainern geht, sondern ständig um Transformationen. Ein Transfer ohne Transformation ist nicht zu haben. Transfer steht in der Erbfolge der unzureichenden passiven Rezeptionskategorien der 1950er und 1960er Jahre. Wir müssen raus aus der Communio-Medien-Blase und Forschungen zu sekündlichen, täglichen, regionalen, globalen Transformations-, also Selektionsprozessen beschreiben und umsetzen. Dies gerade in einem Umfeld, in dem einerseits Kommunikations- und Medientheorien phantasmatisch an – als bereits entschieden gesetzten – Ordnungen festhalten oder solche einfordern, und andererseits über ubiquitous computing / pervasive computing eine sinnlich unerreichbare Allgegenwart von programmierten Selektionsmodulen entsteht.
Das ist keine Frage von entfremdender, exkommunizierender Technik. Menschen haben organisch/anorganisch komplexe Zusammenhänge geschaffen, für die sie bislang keine komplexe Zusammenhangsintelligenz entwickelt oder zugelassen haben. Verhinderer gibt es da eine Menge. Nun will ich keine Schelte formulieren, das wäre unsinnig. Wie dringlich eine solche Zusammenhangsintelligenz ist, zeigen Deine Beispiele. Radio Frequency Identification, bio casting, Online-Dossiers, autonome Avatare (mit niedriger externer Kontrollstufe), wearable technologies in Blusen, Pullovern, Anzügen (auch wenn die Batterien noch zu dick sind) und etliches mehr zeigen, dass biotische und abiotische Programme so aufeinander abgestimmt werden, dass Informationen durch alles hindurch transformierbar sind. Cybernetics reloaded, revisited? Die Lösungen hierfür sind im Detail smart, die Konzepte des Zusammenhangs, in denen sie eingesetzt werden, werden banal behandelt, obwohl sie die Präsenz des Lebens völlig verändern.
Die Informationsblindheit und Aversion, die in Soziologie, Kulturwissenschaften, Medien- und Kommunikationsdiskursen vorherrschend sind, sind erschreckend. Verbunden ist dies mit Programm- und Programmierblindheiten. Umgekehrt wissen Informatiker auch nicht, auf welche Reise der Mischzusammenhänge von belebten und unbelebten Agenten sie uns schicken. Wenn nun komplexe Schaltungsmodule als Dinge auf die Netzweltreise geschickt werden, hilft es auch nichts, wenn in Seminaren etwa 3D-Brillen ausgeteilt werden, um die Dinge räumlicher sehen zu können. Wir benötigen eine Informationswissenschaft, die als ersten Satz im Poiesis-Album stehen hat: Die Epochen der Mechanik und der Typografien sind vorbei. Und als zweiten: Man kann nicht unterscheiden, wenn man nicht weiß, wie man das macht.
HARTMANN Müssen die Geistes- und Kulturwissenschaften das Verschriftungsparadigma, in dem sie immer noch befangen sind, hinter sich lassen?
Wie sieht denn hier die posttypografische Wissensordnung aus, und wie werden wir akademisch damit umgehen? Es gibt bereits erste Ansätze einer eigenständigen Webwissenschaft …
FASSLER Was eine Wissenschaft, die sich den Bedingungen der Verständigung widmet, hinter sich lassen müsste, hängt davon ab, über welche Wege sich die Menschheit informieren wird. Klar ist, dass immer noch Fernsehen und Radio den Unterhaltungsabend bestimmen. Bei Jugendlichen ändert sich dies derzeit sehr deutlich. Das Computerdisplay verdrängt im Jugendzimmer das TV-Gerät. Andererseits drängen die klassischen Analogmedien in das digitale Mensch-Medien-Netz. Löst man sich von der strikten Trennung von Arbeit, Nachrichtenblock und Unterhaltung und betrachtet die Zeitvolumen, die Menschen aus beruflichen, nachbarschaftlichen, kollegialen, Spiel- oder Interessengründen belegen, so wird die Kompetenz zur Informationssuche wichtig. Einfach gesagt: Wissenschaft sollte den Menschen als Informationsverarbeitungssystem erforschen, das seinen Lebensstatus immer wieder neu, ich sage dazu: koevolutionär erzeugt. Die Fixierungen auf bestimmte Symbolsysteme, Repräsentationen, Kontinuitäten wären dann überflüssig.
Wahrscheinlich ist auch Zurückhaltung sinnvoll gegenüber jedem vorschnellen Versuch, Informationsnutzungen verstehen zu wollen. Denn kollektive Rezeptionsbestände, die durch geschultes Lesen, Wiedergeben und Verstehen erzeugt wurden, lassen sich für digitale Netzwerke nicht feststellen. John Fiske hat mit seiner Television Culture einst den Weg beschritten, eine Unterhaltungskultur der 70er- und 80er-Jahre zu beschreiben, in der die Zeit zur Buchlektüre nicht mehr aufgebracht wird. Neil Postman warnte davor, dass wir uns auf dem Sofa mit Blick auf den Fernsehapparat „zu Tode amüsieren“. Beide zielten auf ein wichtiges Indiz der Veränderung: serielle Unterscheidungslosigkeit unter der Bedingung einkanaliger Entspannung. Die Screenager-Debatte der 90er-Jahre markierte bereits ein neues Verhalten: sich auf die Beeinflussbarkeit des Bildschirms einzustellen, also eigene Informationswelten zu erzeugen. So ist wohl eine rückkanalige Anspannung entstanden, deren Ergebnisse Steven Johnson immerhin „die neue Intelligenz“ nannte (Die neue Intelligenz: Warum wir durch Computerspiele und TV klüger werden, 2006).
Ich denke an Wissenschaften, die in ihrem Selbstverständnis vorschlagende Wissenschaften sind und keine master narratives, keine beratend weisende Aufklärung.
Die „Gesichter“ der digitalen Netzwerke ermöglichen in der Tendenz alles: Unterhaltung, Entspannung, Tagebücher, Blödsinn, wissenschaftliche Gespräche, Archive aller Art, Biocasting, Bioscanning, lokale oder globale Mediennnutzung und vieles andere. Mit ihnen ist zum ersten Mal eine mediale Umwelt entstanden, die den sensorischen und denkenden Fähigkeiten des Menschen als medialer Zusammenhang in sich nahekommt. Das ist das im Wortsinne Sensationelle. Ob hierfür eine Webwissenschaft gebraucht wird? Um die Nutzungsvielfalt, die auswählenden kommunikativen Praxen, die arbeits-, unterhaltungs-, projektgebundenen Anwesenheiten im Netz zu erforschen, wäre dies gar nicht mal ungeschickt. Allerdings würde mir dies nicht genügen, auch wenn damit ein wichtiges Gegenstück zur Publizistikwissenschaft mit ihrer Rezeptionsforschung entstünde. Ich sehe zusätzlich zwei Anforderungen: erstens die einer Erforschung der Prozesse entwerfender Kommunikation, will heißen der Suche nach Kooperation, hilfreicher Information, nach Spiel-, Gesprächs- und Projektpartnern; zweitens die einer disziplinären Zusammenführung von Informatik, Kunst, Soziologie, Wahrnehmungswissenschaften, Biologie und Physik unter dem Thema der Informationellen Netzwerke.
Der erste Themenbereich nimmt auf, dass es keinerlei sichere (Gesellschafts- oder Ökonomie-)Häfen mehr gibt, dass also jeder Zusammenhang mit ständiger Unsicherheit, mit ständigem Änderungs- und Anpassungsdruck umgehen lernen muss. Der zweite Themenbereich nimmt auf, dass Wahrnehmung, Denken, Unterhaltung, Entspannung, Emotionen den Informationsbedarf des Menschen in unterschiedlicher Weise wiedergeben. Allerdings wissen wir viel zu wenig darüber, und – was ich ebenso herausfordernd finde – innerhalb der Erforschungen menschlicher medialer Fähigkeiten werden diese Fragen nicht aufgenommen.
Webwissenschaft plus Wissenschaft von den organischen und anorganischen Informationsnetzen wäre ein super Ergänzungsverhältnis.
HARTMANN Bei Strafe ihrer eigenen Überflüssigkeit zielen Medienwissenschaften also an der eigentlichen Aufgabe derzeit vorbei? Eine neue Paideia müsste dann, wenn ich das Gesagte jetzt so interpretieren darf, auch auf jenes akademische Selbstlob verzichten lernen, das in unserer Wissenskultur Erkenntnistheorie genannt wird?
FASSLER Ein schöner Treffer. In der Tat kann ich mit dem, was im institutionalisierten Gestus Erkenntnistheorie heißt, für meine Forschungen wenig anfangen. Nehme ich an, dass des Menschen Gehirn macht, was es will, und nehme ich weiter an, dass Emotionen, Sinnesempfindungen, Gesprächslagen, nicht enden könnende Informationsströme zur Verarbeitung durch Mustererkennung, aktiver und passiver Modellierung, Ausdrucks- und Entscheidungsverhalten anstehen (und das ist nur eine kleine Ecke des Informationsbuffets), kann es nur um eine Wissenschaft vom Erkennen gehen, die durchaus theoriegeleitet, nicht aber im Hermelin der Erkenntnis gewandet sein soll.
Mir geht es um ein verändertes Modell von kooperativen Hierarchisierungen. Damit meine ich ein forschendes Entwerfen, das sich in jeder Disziplin den Ergebnissen anderer Forschungen widmet, um Wege, Gesten, Medien und Methoden des Erkennens erklären zu können. Aufklärung, dieser lange Zeit übermächtige Gestus der Erkenntnis, machte diese zum einzigen Zahlungsmittel, deren Markt die Öffentlichkeit war.
Oskar Negt und Alexander Kluge wiesen vor etlichen Jahren darauf hin, dass diese heilige Erkenntnis der damals so genannten proletarischen Öffentlichkeit fremd, ja geradezu feindlich sei (Geschichte und Eigensinn, 1981). Mir scheint, dass von dieser Anrufung der Erkenntnis noch vieles übrig geblieben ist, auch in neueren Medien-, Kommunikations- oder Publizistikwissenschaften.
Dem gegenüber verteidige ich das Prozesshafte des Erkennens. Auch hoffe ich auf wissenschaftliche Entwicklungen, in denen die unkontrollierbaren Prozesse akzeptiert werden und in denen zugleich vorgeschlagen wird, wie Einfluss genommen, entworfen und gestaltet werden könnte. Ich denke an Wissenschaften, die in ihrem Selbstverständnis vorschlagende Wissenschaften sind und keine master narratives, keine beratend weisende Aufklärung. Die Struktur des wissenschaftlichen Erkennens sollte den Anforderungen von Partizipation, verändernder Entscheidung und Projekt entsprechen, nicht der heroischen oder weisenden Erkenntnis. Zweihundert Jahre nach Immanuel Kant und fünfhundert Jahre nach René Descartes ist dies ein unverzichtbarer Schritt in Richtung einer Aufklärung über das Erkennen, über Informationsströme und ihre möglichen Lebensbezüge.