Ende der achtziger Jahre wollte einem jungen Studenten der Soziologie an der University of Chicago nicht einleuchten, warum seine Fachkollegen keinerlei Interesse daran zeigten, mit dem Gegenstand ihrer Forschungen in Berührung zu kommen. Der quantitativen, auf statistischen Analysen basierten Soziologie stand Sudhir Venkatesh skeptisch gegenüber: „Ich will nicht behaupten, dass ich zu dieser Zeit zu einer systematischen Kritik der eher naturwissenschaftlich ausgerichteten Denkrichtung der quantitativen Soziologie in der Lage gewesen wäre – aber ich wusste, dass ich etwas anderes tun wollte, als den ganzen Tag im Seminarraum zu sitzen und über Mathematik zu reden.“
Also schloss er sich zunächst der ethnografischen Richtung seines Fachs an und machte sich für die Studien an seiner Dissertation mit dem Klemmbrett und formalisierten Fragebögen unter dem Arm auf den Weg in eines der ärmsten Viertel Chicagos. In einer verwahrlosten Sozialbausiedlung, die ein Ghetto der Schwarzen mit einem hohen Anteil von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Kriminellen repräsentierte, wollte er die Gründe für die Armut am Rand der Gesellschaft und das Versagen der Sozialpolitik erheben. Was die Wahl seiner Methode anbelangte, wurde er rasch eines Besseren belehrt. Nachdem er eine Nacht in kritischer Ungewissheit seines weiteren Schicksals im Treppenhaus verbracht hatte, führte die erste Begegnung mit den Mitgliedern der Drogen-Gang „Black Kings“ doch nicht zum gewaltsamen Hinauswurf, sondern begründete einen sich über Jahre entwickelnden vertrauten Kontakt mit dem Gang-Leader J.T., der für Venkatesh bald zum Schlüssel für alle Fragen und weiteren Begegnungen wurde.
Bis zur Absiedlung und zum Abriss der Wohnsiedlung Mitte der 1990er-Jahre betreibt Venkatesh Feldforschung in engem Kontakt mit Drogendealern und den Bewohnern, die von der Crack-Gang kontrolliert werden. Er wird von J.T.s Mutter verköstigt und zu Familienfeiern eingeladen, er lernt die warmherzige Gastfreundschaft und Mitmenschlichkeit der Menschen kennen und schätzen, die selbst nur wenig haben. Und er begreift, warum eine starke Persönlichkeit mit einem enormen Energiepotenzial und Führungsqualitäten wie J.T. sich trotz Collegeabschluss für eine kriminelle Karriere mit Geld, Macht und Frauen entscheidet, während er aufgrund seiner Hautfarbe im legalen Rahmen nur die Chance auf eine äußerst bescheidene und anspruchslose Existenz gehabt hätte. Nach und nach gewinnt Venkatesh einen Einblick in eine allen Nicht-Farbigen verschlossene Parallelgesellschaft: Er erfährt, wie die ökonomische Struktur der Gang funktioniert, die Macht repräsentiert, Konflikte regelt und Schutz bietet, aber auch Kontrolle und Gewalt ausübt. Er erkundet den weiblichen Herrschaftsbereich der Präsidentin des Gebäudes, die ihre Position als Mietervertreterin für ihren persönlichen Ehrgeiz nutzt, er lernt die schwierige Situation der Frauen kennen, die sich prostituieren, um ihre Kinder zu ernähren und er ist Zeuge von Selbsthilfe innerhalb einer Gemeinschaft, die von Polizei, Rettung und staatlichen Institutionen im Stich gelassen wird.
„Das Einzige, was du kannst, ist mit Niggern wie uns herumhängen.“
Zwangsläufig gerät Venkatesh in Gewissenskonflikte: Als Mitwisser von kriminellen Machenschaften bewegt er sich zum einen selbst am Rand des Gesetzes, zum anderen begreift er, dass er als unbeteiligter Beobachter um seiner eigenen Karriere willen in gewisser Weise von der bedrängten Situation jener Menschen profitiert, die ihn in ihrer Mitte akzeptiert haben. In ihm entsteht der Wunsch, etwas Handfestes zurückzugeben.
„Immer häufiger stellte ich fest, dass ich auf die gesamte soziologische Wissenschaft und damit in gewisser Weise auf mich selbst wütend war. Ich ärgerte mich darüber, dass die Standardwerkzeuge der Soziologen anscheinend machtlos waren, die Nöte und das Leid, deren Zeuge ich wurde, zu verhindern. Die abstrakte Sozialpolitik, die von meinen Kollegen entwickelt wurde, um den Armen zu einer Wohnung, zu Bildung und zu Arbeit zu verhelfen, erschien mir auf traurige Weise realitätsfremd. Auf der anderen Seite bekam ich immer stärker den Eindruck, dass das Leben in den Projects zu wild, zu hart und zu chaotisch war für die bedächtige, abwägende Sozialwissenschaft und ihre halbherzigen Appelle. Es erschien mir nur teilweise hilfreich, die Jugendlichen davon zu überzeugen, auf der Schule zu bleiben: Welchen Wert hatte es, den Kids schlecht bezahlte, unqualifizierte Jobs zu geben, wenn sie auf der Straße wahrscheinlich mehr Geld verdienen konnten?“
Was Venkateshs unter dem Titel Underground Economy erschienenen Bericht so faszinierend macht, ist das hohe Maß an Selbstreflexion; er erzählt die Geschichte vom Intellektuellen, der sich durch seine Arbeit an diesem Forschungsprojekt auch als Mensch überprüft. Da, wo es um Menschen geht, kommt zwangsläufig zwischenmenschliche Interaktion ins Spiel, das Aufeinandertreffen zweier so unterschiedlicher Welten schafft Nähe, zuweilen aber auch Missverständnisse.
Venkatesh hat einen subjektiven Erfahrungsbericht vorgelegt, der zeigt, wie es möglich ist, jenseits der Grenzen von „objektiver“ Sozialwissenschaft auf einer tieferen Ebene über ein fremdes soziales Milieu etwas zu begreifen: indem man sich darauf einlässt.
Der Preis dafür, dass sich Venkatesh dieser Selbsterfahrung vorbehaltlos öffnet, ist die innere Zerrissenheit, der er sich ausgesetzt fühlt: Einerseits möchte er weiterhin dem Leben an der Universität und den Anforderungen des wissenschaftlichen Systems entsprechen, andererseits kommt er nicht daran vorbei, den neuen Blick auf das Leben, den er durch den Alltag im Ghetto der Schwarzen gewonnen hat, zu integrieren. Darüber hinaus wird ihm sein Tun von der anderen Seite gespiegelt. Seine Zweifel, ob der wissenschaftliche Weg tatsächlich das Wahre für ihn ist, zerstreut J.T. bei einem der letzten Treffen, indem er wohlwollend, aber nüchtern und treffend bemerkt: „Was willst du denn sonst machen? Du kannst nichts reparieren, du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Tag gearbeitet. Das Einzige, was du kannst, ist mit Niggern wie uns herumhängen.“
Inzwischen bekleidet Sudhir Venkatesh eine Professur an der Columbia University of New York; für seine Karriere zum international renommierten Wissenschaftler hat er einen sehr ungewöhnlichen Weg zurückgelegt. Indem er in diesem Buch Zeugnis vom Leben der Menschen ablegt, die zu einem Teil seines Lebens geworden sind, gibt er ihnen auch öffentlich zurück, was sie verdient haben: Respekt und Achtung.