Bislang galt: Es gibt keinen misslicheren Weg, den Islam verstehen zu wollen, als den Koran in einer deutschen Übersetzung zu lesen. Jeder, der es ernsthaft versucht hat, kann dies bestätigen. Überhaupt erschließt sich der Islam für Nicht-Muslime schwer aus seinen Quellen. Zu wenig und zu schlecht ist übersetzt, und bei dem wenigen, das vorliegt, ist zuviel Hintergrundwissen gefordert. Wer nicht eine der großen Islamsprachen Arabisch, Persisch oder Türkisch lernen will, sieht sich auf sekundäre Quellen angewiesen und damit auf die (Vor-)Urteile anderer. Sich eine eigene Meinung zu bilden, ohne gleich ein Spezialist zu werden, scheint im Fall des Islams leider unmöglich.
So bleibt Befremden, selbst bei den Gutwilligsten. Die unheimliche Aura, die der Islam immer stärker annimmt, schreibt sich auch von der Schwierigkeit her, ihn einfach kennen zu lernen. Dass der Koran zu schwierig, ja unübersetzbar sei, ist in Wahrheit nichts als ein Mythos. Seit Jahrhunderten stricken Islamwissenschaftler und Muslime gleichermaßen daran. Für gläubige Muslime ist die Unübersetzbarkeit des Korans ein Dogma, gleichsam das Gütesiegel seiner Echtheit und göttlichen Herkunft. Zudem gilt der Koran als Ausweis für Mohammeds Prophetentum: Nur ein Prophet kann ein Wunderwerk wie den Koran empfangen und in die Welt setzen. Kein Mensch könnte ihn eigenhändig schaffen, er ist unnachahmlich und unübersetzbar.
Die Islamwissenschaftler glauben nicht an die göttliche Herkunft des Korans. Vom Mittelalter bis zur Zeit der Aufklärung versuchten die Orientkenner mit ihren Übersetzungen und Forschungen eher, die Unglaubwürdigkeit des Korans nachzuweisen. Als überzeugte Christen mussten sie den Koran gering schätzen. Seit dem 19. Jahrhundert wird der Koran zwar betont sachlich erforscht, doch gerade deshalb behielt er für die meisten den Hautgout eines religiösen Kuriosums. Da der heilige Text der Muslime nicht wie die Bibel mit eingängigen Geschichten aufwartet, könne nur ein Gläubiger sich von ihm angesprochen fühlen. Das aber, was er für den Gläubigen an Schönheiten bereithält, lasse sich eben nicht übersetzen, da es nur im Glauben selbst zu finden sei, nicht im Text. Was den Koran für den Gläubigen so faszinierend mache, sei mithin unübersetzbar.
Die hier vorgestellte Koranübersetzung begreift den Koran als Poesie im Sinne des offenen poetischen Konzepts der Moderne.
Diese Grundhaltung ist nahezu allen Übertragungen des Korans anzumerken, zumal diese fast immer von Islamwissenschaftlern, nicht von professionellen Übersetzern und Literaten stammen. Für die Orientalisten ist die Übersetzung nur eine Form der wissenschaftlichen Erschließung – ein legitimes Anliegen, das jedoch einer breiteren Öffentlichkeit den Koran gerade nicht zugänglich macht. Der einzige Dichter, der sich auf deutsch an eine Koranübersetzung gewagt hat, ist vor gut 150 Jahren Friedrich Rückert gewesen. An seinen unbestrittenen Verdiensten hat die Zeit genagt: Seine Kenntnisse sind wissenschaftlich überholt, seine dichterische Sprache zu tief dem neunzehnten Jahrhundert verhaftet. Zukunftsweisend aber war Rückert mit dem Kern seines Koranverständnisses: dass dieses Buch sich Nicht-Muslimen nur als Dichtung erschließt und wie Dichtung übersetzt werden muss.
Ein solches Projekt hat heute mehr Erfolgschancen denn je. Wir haben ein offeneres Verständnis von Dichtung als je zuvor. Der Koran ist ein Werk, das sich eines breiten Spektrums rhetorischer und dichterischer Mittel bedient. Damit sprengte er den engen Begriff, den die Araber seiner Zeit von der Dichtung hatten. Das moderne Abendland (und neuerdings auch die islamische Welt) verfügen mittlerweile über eine Vorstellung von Dichtung, unter die ein Werk wie der Koran durchaus subsumiert werden kann. Es waren nicht zuletzt zeitgenössische arabische Dichter wie Adonis, Mahmud Darwish oder Mohammed Bennis, die die poetische Modernität des Korans für sich entdeckten und sich davon inspirieren ließen.
Der Versuch einer neuen Koranübersetzung, die hier vorgestellt wird und sich als work in progress versteht, begreift den Koran als Poesie im Sinne dieses offenen poetischen Konzepts der Moderne. Im Gegensatz zu den prosaisch-sachlichen, den Schönheiten des Originals abholden Übersetzungen der Islamwissenschaftler lädt die hier vorgestellte Übertragung den Text poetisch neu auf – ausgehend von der Reimprosa des Originals, aber nicht davon abhängig, vielmehr sich auf die sprachlichen Mittel verlassend, die speziell das Deutsche für solche poetische Aufladung bereithält. Die archaische Wucht der rhetorischen Mittel des Korans soll nicht zeitgemäß abgemildert, sondern herausgestellt werden. Schließlich soll die Deutungsoffenheit des Originals soweit wie möglich gewahrt und nicht auf einen einzigen Sinn heruntergebrochen werden, wie es die muslimischen Kommentatoren, aber auch die Islamwissenschaftler meistens tun.
Der Koran ist zwischen 610 und 632 in Mekka und Medina auf der arabischen Halbinsel entstanden. Das Wort „Koran“ könnte man so, wie es im Koran selbst gebraucht wird, als „Sprechgesang“, „Rezitation“ oder „psalmodierender Vortrag“ übersetzen. Die eigentümliche Vortragsweise, die damit gemeint war, kann man vielleicht heutzutage noch aus den Koranrezitationen erahnen, die überall in der islamischen Welt zu hören sind. Für westliche Ohren klingen sie tatsächlich wie ein Gesang; in bestimmten Kontexten könnte man daher das Wort „Koran“ auch als „Gesang“ übersetzen.
Nach muslimischem Verständnis ist der Koran das vom Erzengel Gabriel an Mohammed übermittelte Wort Gottes. Als Nicht-Muslime müssen wir den Waisenjungen und späteren Kaufmann Mohammed Ibn Abdallah (ca. 570 – 632) für den weltlichen Urheber, sprich Autor halten. Zur heute vorliegenden Gestalt des Korans wurden Mohammeds Worte erst nach seinem Tod kompiliert. Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob die schriftliche Fixierung des zunächst vorwiegend mündlich überlieferten Textkorpus nur wenige Jahrzehnte dauerte, wie die Muslime annehmen, oder über ein Jahrhundert, wie viele westliche Forscher vermuten. Ebenso uneins sind Muslime und Islamwissenschaftler, ob der gegenwärtig und seit Jahrhunderten in der islamischen Welt kursierende Korantext der einzig echte und wahre ist. Eine historisch-kritische Koranedition ist derzeit leider nicht zu erwarten; sie hätte mit erheblichen Widerständen von muslimischer Seite zu rechnen. Wie alle bisherigen Übersetzungen stützt sich daher auch dieser neue Versuch auf den etablierten Wortlaut des Korans.
Der Koran ist nach Art von Kapiteln in die sogenannten Suren unterteilt. Da ihre Anordnung willkürlich nach Länge erfolgte, die Suren also nicht aufeinander aufbauen, können sie in beliebiger Reihenfolge präsentiert werden. Längere Suren zerfallen in einzelne Sinneinheiten unterschiedlicher Länge. In den hier vorgelegten Übersetzungsproben werden diese Sinneinheiten daher ebenfalls separat präsentiert.
Aus: Der Koran – der Gesang
Mohammed ibn Abdallah, genannt „der Prophet“
Das Land (Sure 90)
Im Namen des gnädigen und barmherzigen Gottes!
Bei diesem Land,
Bei deinem Land,
Beim Vater, beim Kind,
Wir haben den Menschen zur Mühsal gemacht
Und er glaubt, keiner hat mehr Macht?
Dass er sagt: Hab ein Vermögen durchgebracht!
Und er glaubt, keiner hat ihn gesehen?
Wir gaben ihm ein Augenpaar,
Zunge und ein Lippenpaar.
Wir wiesen ihm der Pfade Paar.
Den steilen, den scheint er zu fliehen…
Was weißt du vom Steilen?
Von der Befreiung Versklavter,
Von der Speisung anverwandter Waisen,
Von der Speisung Obdachloser,
Wenn der Hunger sich mehrt?
Wer Geduld vorlebt, Gnade,
Der ist auf dem rechten Pfad.
Wer Unsere Zeichen leugnet auf dem Unglückspfad,
Der wird vom Feuer verzehrt.
Der blutige Kern (Sure 96)
Lies im Namen deines Herrn:
Er schafft den Menschen aus blutigem Kern,
Auch: dass Er lehrt den Menschen gern,
Was er nicht kennt, den Stiftgebrauch.
Doch übermütig sind die Menschen,
Sie glauben, sie genügten sich selbst, aber:
Rückkehr führt nur zum Herrn!
Siehst du: Einer hindert den Knecht am Gebet.
Siehst du: Ist das Recht?
Siehst du: Zeugt das von Gottesfurcht?
Statt von Verleugnung und Abkehr?
Weiß er nicht, dass Gott alles versteht?
Besinnt er sich nicht, wir werden ihn packen
Bei seinen sündvollen Lügenlocken.
Soll er rufen die Kumpanen,
Wir rufen Unsere Untertanen.
Willfahre ihm nicht!
Wirf nieder dich zum Gebet und komm näher!
Die Schicksalsnacht (Sure 97)
Wir schicken ihn in der Schicksalsnacht.
Kennst du die Schicksalsnacht?
Herrlicher als tausend Monde ist die Schicksalsnacht:
Die Engel kommen und der Geist,
Zu tun das Werk auf ihres Herrn Geheiß.
Friede herrscht dann, bis die Sonne gleißt.
Der Stern (Sure 53, Verse 1-18)
Beim sinkenden Stern!
Euer Anführer irrt nicht
Und wird nicht genarrt,
Er spricht nicht nach Laune,
Nur was Er offenbart,
Was Er, der Allmächtige lehrt.
Hoch am Horizont ward Er sichtbar,
Kam herab, rückte näher,
Immer näher und näher
So empfing er die Verkündung.
Das Auge des Herzens lügt nicht
Oder will das jemand bestreiten?
Ein zweites Mal sah er Ihn kommen
Zum Lotosbaum an der Grenze
Beim Garten, wo Er sich birgt.
Der Baum war ganz wie verhüllt,
Er blickte darauf wie gebannt,
Hat die herrlichsten Zeichen gesehen.
Den Zenit überschritten (Sure 103)
Bei der Zeit, da die Sonne den Zenit überschritten!
Wahrhaft, der Mensch wird vom Unglück geritten,
Es sei denn er glaubt, er tut Gutes und hat
Für Geduld und für Wahrheit gestritten.
Die Ungläubigen (Sure 109)
Im Namen des gnädigen und barmherzigen Gottes
Sag: Ungläubige!
Ich bete nicht an, was ihr anbetet.
Ihr betet nicht an, was ich anbete.
Ich werde nicht anbeten, was ihr anbetet.
Ihr werdet nicht anbeten, was ich anbete.
Ihr habt euren Glauben, ich meinen.
Die Menschen (Sure 114)
Sag: Ich suche Zuflucht beim Herrn der Menschen,
Dem König der Menschen,
Dem Gott der Menschen,
Vor dem teuflischen Denken,
Das in die Brust des Menschen senken
Geister oder Menschen.