RECHERCHE Wann und wie haben Sie begonnen, den Koran zu lesen?
NIMAT BARAZANGI Zunächst muss man wissen, dass jeder Muslim angehalten ist, den Koran zu lesen. Unglücklicherweise wird das Koran-Studium in der traditionellen Sichtweise mehr als religiöses Ritual denn als Erkenntnisgewinn aufgefasst. Als ich damit begann, islamische Philosophie und Ethik an der Universität in Damaskus zu studieren, fiel mir das Missverhältnis zwischen der Alltagspraxis auf der einen und den Worten des Koran und der islamischen Philosophie auf der anderen Seite auf. Das machte mich stutzig. Als ich 1967 in die Vereinigten Staaten ging, konnte ich meine Koran-Studien zunächst nur als Ergänzung zu meinem Hauptfach Erziehungswissenschaften betreiben. Ich bemerkte, wie wenig ich über meine Religion wusste. Also begann ich den Koran systematisch zu lesen – und zwar thematisch orientiert und nicht Vers für Vers. Ich konzentrierte mich auf die Fragen, die mir in meinem Alltagsleben wichtig erschienen, und begann, mithilfe einer Konkordanz nach Antworten im Text zu suchen. Meine wichtigste Inspiration für das Studium des Koran erwuchs aus der Frage nach der Gerechtigkeit: Wenn der Wunsch nach Gerechtigkeit der Kern der Religion ist, warum existieren dann verschiedene gesellschaftliche Klassen, und warum gibt es eine solch große Ungerechtigkeit gegen Frauen?
RECHERCHE Ihr großes Interesse am Gerechtigkeitsbegriff hat also zwei Quellen: die Erfahrungen des täglichen Lebens und die Tradition?
BARAZANGI Das hängt davon ab, wie man Tradition definiert. Für mich ist der Koran der grundlegende Text, der alles durchdringende Geist des Islam. Gleichzeitig nähere ich mich dem Text durchaus eklektisch, was nicht heißt, dass ich ihn mir so zurechtreime, wie es mir passt. Ich will den Koran in seinem historischen Kontext verstehen und darüber hinaus versuche ich seine dauernden Reinterpretationen durch die Zeitläufte hindurch nachzuvollziehen – um mir darüber klar zu werden, ob islamische Philosophen Teil der traditionellen Interpretation sind oder von ihr abweichen. Es gibt sogar Philosophen, die behaupten, dass rationales Denken den Glaubensaspekt in der Religion beschädigt.
RECHERCHE Und welche Haltung nehmen Sie diesbezüglich ein?
BARAZANGI Meiner Ansicht nach sind Vernunft und Glaube voneinander untrennbar. Es ist das Gebot jedes einzelnen Moslems, die Grundzüge der Religion zu verstehen, um sie auch tatsächlich praktizieren zu können. Man muss alles bewusst nachvollziehen, um es als moralisches Prinzip akzeptieren zu können. Entweder man erkennt dieses Prinzip an oder nicht – jeder hat die Freiheit, sich dafür oder dagegen zu entscheiden. Sobald man das Prinzip jedoch akzeptiert, muss man sich damit in aller Ausführlichkeit auseinander setzen; das erfordert auch eine Redlichkeit, was die Interpretation des Textes betrifft.
RECHERCHE In Europa feiert der Gerechtigkeitsbegriff in der öffentlichen Debatte derzeit eine Renaissance – nicht zuletzt aufgrund der Verschlechterung der sozialen Situation. Verstehen Sie Ihr eigenes Konzept von Gerechtigkeit als Teil einer globalen Diskussion?
BARAZANGI Vermutlich gibt es viele Gründe, warum der Gerechtigkeitsbegriff ins öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt ist, aber ich glaube, dass er eigentlich nie wirklich verschwunden war. Infolge der Verbesserung der Lebensbedingungen vor allem in der westlichen Welt und in den höheren Schichten der Entwicklungsländer wuchs auch der Unterschied zwischen Arm und Reich mehr und mehr an, ohne dass dem allzu viel Aufmerksamkeit zuteil wurde. Worüber ich jedoch rede, ist nicht nur soziale bzw. gesetzlich festgeschriebene Gerechtigkeit, sondern moralische Gerechtigkeit. Rechtlich verbürgte Gerechtigkeit kann von einem Staat zum nächsten unterschiedliche Gestalt annehmen. Gerichtsbarkeit stellt noch keine Moralität her.
RECHERCHE Sie suchen also nach einer grundlegenderen Form der Gerechtigkeit …
BARAZANGI Wer die philosophische Dimension von Gerechtigkeit nicht versteht, kann weder Einstellungen noch Verhaltensweisen entwickeln, die die Gesellschaft tatsächlich verändern. In meinen Studien stellte ich eine große Differenz zwischen der ursprünglichen Bedeutung von Gerechtigkeit im Koran und dem, was die Interpretation daraus gemacht hat, fest, besonders hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit, die im Koran einen großen Stellenwert einnimmt.
RECHERCHE Wann haben Sie das bemerkt?
BARAZANGI Als ich die verschiedenen Phasen der Diskriminierung gegen Frauen im Lauf der Geschichte entdeckte. Ich fragte mich, wie das passieren konnte, und begann die traditionelle Literatur zu studieren. Ich begann, diese Interpretationen zu bekämpfen, indem ich den Koran noch gründlicher studierte.
RECHERCHE Und wann hat Ihrer Ansicht nach die Entfernung der islamischen Lehre von der ursprünglichen Botschaft der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern eingesetzt?
BARAZANGI Dieser Prozess begann bereits im ersten Jahrhundert nach Mohammed. Nach dem Tod des Propheten vermischte sich die ursprüngliche islamische Lehre mit kulturell verzerrten Sichtweisen auf die Stellung der Frau. Das hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Interpretation der Geschlechtergerechtigkeit im Koran.
Nach dem Tod des Propheten vermischte sich die ursprüngliche islamische Lehre mit kulturell verzerrten Sichtweisen auf die Stellung der Frau.
RECHERCHE Was ist die methodische Basis Ihrer Interpretation?
BARAZANGI Was die Methode der Interpretation betrifft, so sind bestimmte Regeln im Koran selbst festgelegt. Natürlich spielt es eine Rolle, dass der Koran in arabischer Sprache offenbart wurde. Ich musste also die Entwicklung der altarabischen Sprache studieren. Außerdem beschäftigte ich mich mit dem historischen Kontext der Offenbarung. Der Koran wurde ja über einen Zeitraum von 22 Jahren offenbart, und von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat gab es verschiedene Ereignisse, die das Entstehen des Textes beeinflussten. Ungefähr 95 Prozent des Textes beschäftigen sich mit sozialen und ökonomischen Belangen, nur 5 Prozent beinhalten die theologischen Grundlegungen des Glaubens.
RECHERCHE Die Hauptagenda des Koran lautet also: Wie soll die Gesellschaft organisiert werden?
BARAZANGI Das ist die Hauptintention des Koran. Was wir davon lernen können, ist die Einsicht, dass das menschliche Subjekt sich permanent verändert, und dennoch liegt Veränderungen ein Element der Bewahrung zugrunde.
Eine wichtige Einsicht meiner Studien bestand darin, dass der Koran ein dynamischer Text ist. Spätere Offenbarungen modifizieren vorhergegangene. Was bedeutet das? Der Text ist realistisch, weil in seinem Zentrum ein menschliches Wesen steht, das sich in sich dauernd verändernden Situationen und Zeiten bewegt. Wegen diesem dynamischen Prinzip entschied ich mich, nach Philosophie auch Psychologie zu studieren. Ich wollte die menschliche Psyche in ihrer Entwicklung verstehen.
RECHERCHE Sind Sie dabei mit der Wiener Psychoanalyse in Berührung gekommen?
BARAZANGI Ich habe Freud studiert, natürlich, und ich bin froh, dass ich das Freud-Museum in Wien besuchen konnte, da es mir eine Art Eindruck aus erster Hand gab – mehr als seine Texte in der englischen Übersetzung. Ich kann mich dem Fokus der Freud’schen Psychoanalyse auf Sexualität und Eltern-Kind-Beziehung nicht ganz anschließen; beides ist wichtig, konstituiert aber nicht ausschließlich das menschliche Wesen. Außerdem bin ich nicht überzeugt von der Methode, pathologische Fälle als Schlüssel zum Verstehen nicht-pathologischer Fälle zu verwenden. Mein Hauptinteresse an der Psychologie entwächst der Frage, wie das Individuum im Verlauf des Erziehungsprozesses zu einem eigenständigen Bewusstsein kommt, unabhängig von Familie oder Gesellschaft. Meine Methode basiert auf einer Kognitionstheorie mit dem Namen „konzeptuelle Veränderung“. Eine solche muss auf individueller Basis stattfinden, aus eigenem Antrieb und eigener Überzeugung, aus individueller Neugier.
RECHERCHE Reden wir noch über Ihr Self-Learning-Projekt. Sie haben Ihre Methode in einer Langzeitkooperation mit Frauengruppen in Syrien und den USA entwickelt. Wie lautet das Resümee Ihrer Erfahrungen?
BARAZANGI Der Koran ist – wie ich schon sagte – dynamisch und handlungsorientiert. Wenn das Studium dieses Textes nicht das Verhalten verändert, dann handelt es sich dabei nicht um eine vollständig islamische Praxis. Abgesehen davon kam ich in Berührung mit einem sozialwissenschaftlichen Ansatz unter dem Begriff „social research for social change“ bzw. „action research“. Dahinter steht die Idee, dass die Forschung verschiedene Mitglieder kleiner oder größerer Gemeinschaften dabei unterstützen, über ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Der Weg dahin führt über wissenschaftlich unterstützte, selbstorganisierte Lernprozesse. Wenn die einzelnen Individuen gar kein Bewusstsein dafür haben, dass sie in unzumutbaren Verhältnissen leben, werden sie kein vernünftiges Bedürfnis entwickeln, ihre Situation zu ändern. Meine Aufgabe dabei ist es, ihnen dabei zu helfen, ihre Belange zu verstehen und bestimmte Fähigkeiten zu erwerben. Meine Erfahrung mit verschiedenen Frauenorganisationen lehrte mich, dass es eine gewisse Tendenz gibt, alles von oben nach unten zu regeln, und deshalb suchte ich nach einer Form, in der die einzelnen Mitglieder der Gruppe eine aktive Rolle im Lernprozess spielen. Auf diese Weise entwickelten die Gruppen ein Wachstum aus sich selbst heraus – eine Art Schneeballeffekt also.
RECHERCHE Wie treten Sie mit diesen Frauen in Kontakt?
BARAZANGI Ich kontaktiere diese Gruppen durch gemeinsame Kolleginnen oder Freundinnen. Manchmal treffe ich sie persönlich auf Konferenzen, Workshops oder eigens arrangierten Treffen. Außerdem kommuniziere ich mit manchen von ihnen über E-Mail.
Die wichtigsten Schritte zu einem besseren direkten (also von niemandem anderen geleiteten) Verständnis des Koran bestehen in einer guten Kenntnis des Arabischen, in der Fähigkeit, verschiedene Verse zu einem bestimmten Thema in ihrem historischen Kontext zu lesen, und einer Lesepraxis, die nicht bloß rezitiert, sondern reflektiert.
RECHERCHE In einem Ihrer Texte schreiben Sie: „Nicht-Muslime, insbesondere Feministinnen, sollten sich aufmerksamer mit der Weltsicht der muslimischen Frauen auseinander setzen und endlich damit aufhören, sie ausschließlich unter dem Blickwinkel der Kopftuchdiskussion bzw. der Politik der Differenz zu betrachten. Auf der anderen Seite müssen muslimische Frauen ihren Bewusstwerdungsprozess offen legen, um eine Akzeptanz ihrer Weltanschauung zu erreichen.“ – Wie könnte das gelingen?
BARAZANGI Bestimmte Unterschiede dürfen in der Diskussion über „islamischen Feminismus“ nicht übersehen werden. Ich mag diesen Begriff nicht, weil er vernachlässigt, dass es sich hier um zwei grundverschiedene Epistemologien handelt. Selbst wenn wir als Musliminnen einige feministische Prinzipien übernehmen, heißt das nicht, dass wir auf dieselbe Art und Weise denken. Man muss beide Konzepte aufgrund ihrer jeweils eigenen Prämissen verstehen.
Mir sind eigentlich sämtliche akademische Kategorisierungen verdächtig. Ich will den Koran verstehen, weil er die Grundlage der gesamten sozialen Struktur und Kultur der islamischen Welt bildet. Der Koran handelt von menschlichen Beziehungen, nicht von Krieg. Nehmen Sie das Wort „Dschihad“: Die westlichen Medien sind ganz verrückt danach. Unglücklicherweise versuchen einige selbsternannte Gelehrte, damit Politik zu betreiben. Das Wort an und für sich bedeutet zunächst nur „Kampf“. Und dem Koran zufolge findet der entscheidende Kampf in einem selbst statt. Deswegen bin ich so überzeugt von der Self-Learning-Methode, denn ohne dem würde man nicht das größere Prinzip des „Kampfes für Gerechtigkeit“ erfüllen können. Der wiederum muss vernünftig geführt werden, nicht gewalttätig. Gewalt widerspricht nicht bloß den Glaubensprinzipien, sondern auch der Grundlage jeglichen menschlichen Zusammenlebens.