Verkürzte Vernunft

Wie das alltägliche Heilige zum Abscheuobjekt der Gegenwartskultur geriet und die Welt zu einem humorlosen Profanraum gemacht wurde. Von Robert Pfaller

Online seit: 20. September 2019

In ihrem Selbstverständnis begreift sich unsere aktuelle westliche Kultur gern als besonders tolerant, lustbezogen und permissiv: Wir achten in zunehmendem Maß auf die Rechte von Minderheiten, und nicht nur wir Erwachsene, sondern – leider – sogar unsere Kinder kennen dank Internet und Talkshow bereits die entlegensten, raffiniertesten und finstersten Seiten des menschlichen Sexual- und sonstigen Lustlebens, welche die Großelterngeneration sich vielleicht nicht einmal in ihren kühnsten Fantasien auszumalen vermochte.

Die Aufgabe der Kulturtheorie ist es, solchen Selbsteinschätzungen skeptisch zu begegnen. Ein kurzer Blick auf Filme der 60er und 70er Jahre zum Beispiel zeigt uns, dass bestimmte Werke wie zum Beispiel Die Reifeprüfung, Das große Fressen, Herzflimmern, Pink Flamingos und andere heute nicht mehr gedreht werden könnten. Dem Konsens eines heutigen Kinopublikums wären solche Filme nicht mehr zumutbar: Ihre frivole Heiterkeit würde als zu anstoßerregend und eklig empfunden werden – während sie damals durchaus als pointiert und befreiend erlebt werden konnte.

Entgegen unserer Selbsteinschätzung als abgebrühte Hedonisten, die nichts mehr überraschen und erschrecken kann, ekeln wir uns also recht schnell; und entgegen unserer vermeintlichen Toleranz rufen wir auch gern nach Verbot und Polizei, wo uns etwas Anstößiges zum Beispiel in Form von Tabakkultur, Sex, extravaganter Aufmachung, schwarzem Humor oder kraftvolleren Sprechens begegnet. Eine seit den 90er Jahren im Vormarsch begriffene „reine Vernunft“, die sich als aufgeklärt und befreiend empfindet, möchte – unter Verweis auf Argumente der Gesundheit, der Wirtschaftlichkeit oder der Rücksichtnahme auf vermeintlich Schwache – alle derartigen Formen anstößigen Schmutzes beseitigen und arbeitet eifrig an der Entstehung einer sauberen, heilen, postdemokratischen Repressionsgesellschaft.

So erscheint es der heutigen Öffentlichkeit nicht weiter der Empörung wert, wenn das US-amerikanische Fernsehen zum Beispiel die Übertragung von Sportveranstaltungen oder Popkonzerten nun immer mit einigen Sekunden Verzögerung stattfinden lässt, damit zum Beispiel ein etwaiger entblößter Busen wie der von Janet Jackson bei der Super Bowl 2004 rechtzeitig von einer verantwortungsvollen Zensurbehörde aus der Übertragung entfernt werden kann. Dass dies den Praktiken entspricht, die das iranische Fernsehen bereits bei mehreren Fußballweltmeisterschaften angewandt hat, um die Bilder luftiger bekleideter brasilianischer Fans rechtzeitig beseitigen zu können, erscheint nicht einmal denjenigen als bedenkliche Parallele, die sich sonst gern in der Rede von einem unüberbrückbaren Gegensatz der Kulturen, einem „clash of cultures“, gefallen.

Gerade das Ungute der heiligen Dinge aber wird im Zusammenhang geselligen Feierns zu etwas Großartigem, Sublimem.

Auffällig aus kulturtheoretischer Perspektive ist die Tatsache, dass genau diejenigen Dinge, die heute als so unüberwindlich ekelig und anstößig erscheinen, noch vor sehr kurzer Zeit, etwa vor 15 Jahren, als glamourös und mondän galten. Rauchen zum Beispiel war eine Geste weltläufigen Benehmens im öffentlichen Raum, eine Form der Höflichkeit und des Versuchs, anderen angenehm zu sein. Heute hingegen werden solche Gesten zu unerträglichen Privatmarotten erklärt und in den privaten Raum zu verbannen versucht. Um diese schlagartige Veränderung der Wahrnehmung erklären zu können, muss man eine Gemeinsamkeit aller heute verfemten Dinge ins Auge fassen: Mit einem Glas anstoßen, jemandem eine Zigarette anbieten, einer Dame in den Mantel helfen, Komplimente machen etc. sind Akte der Feierlichkeit. Das Feiern aber – und nicht etwa das Glauben – ist, wie der Soziologe Emile Durkheim feststellte, die Grundlage aller Religion. (In den gegen die Kulte der Heiden gerichteten Schriften des radikalen christlichen Kirchenvaters Tertullian ist ein frühes Bewusstsein dieser Tatsache dokumentiert.) Diese Dinge, mit denen Individuen ihren profanen Alltag unterbrechen und sich selbst ein wenig Würde und Freude verschaffen, machen somit das aus, was der Anthropologe Michel Leiris als das „alltägliche Heilige“ bezeichnet hat.

Das, was einer „reinen Vernunft“ heute als so unerträglich erscheint, besteht also in der feierlichen, heiligen Natur dieser Dinge. Freilich haftet allen von ihnen tatsächlich etwas Zwiespältiges an: Denn feiern kann man immer nur mit Dingen, die nicht immer verfügbar, ein wenig gefährlich, unangenehm, schmerzhaft oder kostspielig sind. Man kann den Geburtstag eines Erwachsenen nicht mit Fruchtsaft zelebrieren. Der Ritterschlag oder der „Backenstreich“ beim vorkonziliaren Firmungsritual beweisen ebenso wie die Pflicht, mit dem Jubliar ein Glas Sekt zu trinken, die Notwendigkeit eines nicht durchwegs angenehmen und ichkonformen Elements beim Festakt.

Gerade das Ungute der heiligen Dinge aber wird im Zusammenhang geselligen Feierns zu etwas Großartigem, Sublimem. Mithilfe des besonderen Objekts markiert die Gesellschaft den jeweiligen Moment als einen besonderen – und ihre triumphale Freude ist die spezielle Freude daran, etwas, das üblicherweise nicht als bekömmlich empfunden wird, nun, in der Ausnahmesituation, als etwas grandios Lustvolles erfahren zu können.

Eine solche sublime Lusterfahrung setzt allerdings Erwachsenheit voraus. Sie besteht darin, ein erwachsenes Verhältnis zur eigenen Erwachsenheit zu unterhalten. Nur Kinder wollen, wenn sie Erwachsene spielen, dauernd ernst und vernünftig sein. Erwachsene hingegen sind in der Lage, sich auch Momente der heiteren Unvernunft zu gönnen und über sich selbst zu lachen. Die „reine Vernunft“, die gegenwärtig keine solchen Momente mehr zulassen will, zeigt hierin ihre kindliche Natur. Sie ist keineswegs eine Agentin eines Fortschritts an Erkenntnis oder Handlungsautonomie, sondern ausschließlich des Spaßverderbens und des narzisstischen Verzichts auf die Güter dieser Welt. Indem sie die Welt „entzaubert“ und zu einem homogenen, humorlosen Profanraum macht, bringt sie einen Großteil der Menschen um das Beste, was das Leben zu bieten hat. Nur Privilegierte können sich dann noch ihre speziellen Zonen der Feierlichkeit erhalten. Anders als bei Marx, der die Religion als Opium des Volkes betrachtete, wird das alltägliche Heilige nun zum exklusiven Genussmittel der Eliten.

Robert Pfaller, geboren 1962, lehrt als Professor für Philosophie und Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz und der TU Wien. Zuletzt erschienen Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur (Suhrkamp, 2002) und Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft: Symptome der Gegenwartskultur (S. Fischer, 2008).

Quelle: Recherche 1/2009

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