Die Ethnologie kennt den Tausch nach Prinzipien des Eigennutzes nur als eine Spielart wirtschaftlichen Handelns unter vielen – so wie auch der Kapitalismus nur eine Variante ökonomischer Produktion ist und kein Naturprinzip. Neben den neoklassischen Rational-Choice-Theorien hat der Anti-Utilitarismus, begründet von Emile Durkheim, einen festen Platz in der ethnologischen ökonomischen Theorie: Individuen ordnen Eigeninteressen einem gemeinsamen Ziel unter und machen Solidarität zur Grundlage eines kooperativen wirtschaftlichen Handelns. Marcel Mauss, Neffe von Emile Durkheim, fokussierte auf soziale Handlungen von Nehmen, Geben und Erwidern und veröffentlichte 1924 den Essay Die Gabe, in dem er die Gabe als universale soziale Tatsache darstellt und in den Kanon der Wirtschaftsethnologie einschreibt.
Als Soziologen mit anthropologischer Perspektive wurden Durkheim und Mauss sowohl der sozial- wie auch wirtschaftswissenschaftlichen Rezeption entzogen. Einziger Bezugspunkt der Moderne blieb das Paradigma des Eigennutzes, die individuelle Nutzenmaximierung als alleinige Logik menschlichen Handelns. Hier setzt die Arbeit des Soziologen Alain Caillé an: Der 1944 in Paris geborene Gründer der M.A.U.S.S.-Gruppe (Mouvement Anti-Utilitariste dans les Sciences Sociales) präsentiert in seinem nun auf Deutsch vorliegenden Buch Anthropologie der Gabe die theoretischen Überlegungen dieser interdisziplinären Plattform für die Rezeption der Werke von Marcel Mauss, in deren Zentrum das universale Konzept der Gabe steht: Geben, Nehmen und Erwidern, der Tausch abseits der Logik des Eigennutzes. Caillé weist eine „leistungsfähige und kohärente Soziologie“ im Werk von Marcel Mauss nach und versucht ein neues Paradigma der Gabe in der ökonomischen Theorie zu etablieren. Caillé sieht in der Ambivalenz der Gabe ihr Wesen: Sie impliziert Vertrauen und Misstrauen gleichzeitig, sie ist Kampfansage und Wohltat in einem. Die Gabe abseits der zweckrationalen Handlung ist frei und obligatorisch, eigen- und uneigennützig zugleich, weil es keine Regeln der Erwiderung gibt. Niemand weiß, wann und wie sie zurückgegeben werden muss, sicher ist nur, dass die Gabe eine Gegengabe verlangt. So werden soziale Beziehungen geknüpft, Verpflichtungen geschaffen, Liebe und Freundschaft etabliert. Für Alain Caillé ist die Gabe das „Akzeptieren des rationalen Risikos, dass es keine Gegenleistung gibt. Sie ist eine notwendige Wette auf Vertrauen, damit Vertrauen geschaffen wird.“
Männergruppen tauschen Frauen, um Bündnisse zu schließen.
Die Anthropologie der Gabe entwirft die Grundzüge des neuen Paradigmas im Kontrast zu utilitaristischen Konzepten. Unter der Annahme uneigennützigen Handelns werden gängige Konzepte einer neuen Analyse unterzogen und führen zu einer Erweiterung ökonomischer Wissenschaftstheorien: die Gabe als Grundlage einer multidimensionalen Handlungstheorie, die über die engen Denkräume von „Preisäquivalent“, „Ware“, „Staat“ oder „Markt“ hinaus geht. Durch zahlreiche ethnologische Bezugnahmen auf das Geben, Nehmen und Erwidern wird auch der Austausch von Symbolen verständlich: Dieser schafft Bündnisse, soziale Beziehungen werden hergestellt, auch über Generationen hinweg. Der große Ethnologe Claude Lévi-Strauss, der im Dezember 2008 seinen hundertsten Geburtstag feierte, revolutionierte vor mehr als einem halben Jahrhundert mit dem Konzept der Gabe die Verwandtschaftsethnologie: Mit seiner Allianztheorie bewies er, dass erwünschte soziale Beziehungen aktiv über den Gabentausch hergestellt werden. Für Lévi-Strauss waren die Gaben Frauen – Männergruppen tauschen Frauen, um Bündnisse zu schließen.
Ökonomie und Eigennutz
Der dominanten „Axiomatik des Eigennutzes“ in der ökonomischen Theorie soll eine neu zu entwickelnde „Axiomatik der Gabe“ gegenübergestellt werden. Dafür versucht Caillé den Begriff von „Wirtschaft“ für die Sozialwissenschaften um soziale und kulturelle Dimensionen zu erweitern: „… nach zweieinhalb Jahrtausenden massiver hedonistischer, eudämonistischer und utilitaristischer politischer Philosophie, nach zwei Jahrhunderten intensiver analytischer Arbeit der politischen Ökonomie stecken auch die Axiomatik des Eigennutzes und der methodologische Individualismus noch immer voller Geheimnisse, Paradoxien, Rätsel und Sackgassen. Wie kann man erwarten, dass das Paradigma der Gabe, an dem sich explizit nur einige zehn oder hundert Autoren aktiv beteiligt haben, schon vollständig ausgereift sei?“
Marcel Mauss ist für Alain Caillé „der berühmte Unbekannte“, und so bietet die Anthropologie der Gabe neben einer konzentrierten theoretischen Ausleuchtung des Konzepts der Gabe auch biografische und ideengeschichtliche Hintergrundinformationen. Die deutsche Übersetzung des anti-utilitaristischen Diskurses der M.A.U.S.S.-Gruppe bietet eine gute Basis für die Rezeption auch außerhalb der Ethnologie.
Am Ende des Buches stellt Caillé bei einem Abendbier in Paris seinen Freunden die Frage nach einer wirklich uneigennützigen Gabe. In den späten 1990er-Jahren lautete die Antwort nach kurzer Überlegung: Zehn Millionen Francs, anonym übergeben, durch die Anonymität ohne Pflicht der Erwiderung und ohne hinterlassene Schuldgefühle.