Die Publikation Das unmögliche Ganze des in Wien lebenden und tätigen Literaturwissenschaftlers Bernhard Fetz lässt sich auf mannigfaltige Arten lesen: als Buch über Literatur als Kulturkritik, wie es der Untertitel besagt; als Buch über österreichische Literatur, der der Großteil der besprochenen Texte zuzuordnen ist; als Buch über die Versuche der Literatur, die Fragmentiertheit der Moderne zu überwinden und sich einer Ganzheit zumindest anzunähern; als Buch über den Bezugspunkt, den der Holocaust für die deutschsprachige Literatur nach 1945 unweigerlich darstellt. Diese verschiedenen Lesarten durchziehen als mehr oder weniger deutliche Subtexte die einzelnen Kapitel und Unterkapitel, die sich meist mit einem Autor beschäftigen. Fetz webt dabei ein Netz von Texten, ein Geflecht aus Bezügen und Querverweisen, das die einzelnen Stücke durch verschiedenste thematische Stränge miteinander verknüpft.
„Die Sehnsucht nach einem unmöglichen Ganzen, nach reiner Poesie und Musik … steht … auf der Rückseite jener Blätter, auf denen die literarische Kritik der Kultur sich in permanenter Übersetzungsarbeit entfaltet.“ Der letzte Satz des Buches bezeichnet das Verhältnis, das Bernhard Fetz zwischen dem Titel, dem unmöglichen Ganzen, und dem Untertitel, der literarischen Kritik der Kultur, seines Buches sieht. Die Sehnsucht nach diesem Ganzen, Utopie also, und Kritik am Bestehenden sind für ihn zwei Seiten ein und derselben Beschäftigung mit der Wirklichkeit, zwei Pole, zwischen denen Literatur sich beständig bewegt. Während er der Musik dabei den Vorteil einräumt, einem herbeigesehnten Ganzen näher zu kommen, zeichnet sich Literatur für Fetz dadurch aus, dass sie „Medium von Utopie und Kritik gleichermaßen“ ist. Literarische Kritik der Kultur ist für ihn eine Figur des Übergangs. Demgemäß findet er sein Untersuchungsmaterial vor allem in „Übergangstexten“, in Texten, die zwischen den Genres stehen, in denen sich die Grenzen zwischen Roman, Autobiographie, Bericht und Essay verwischen, wobei Fetz selbst diese Grenzen mitunter weiter aufweicht, indem er Texte von verschiedenen Seiten der „Grenze“ zueinander in Bezug setzt. Nie stehen die analysierten Texte als erratische Blöcke da, sondern werden eingebettet in ein Netz von Bezügen und Verweisen zu anderen Texten.
Brochs Diskursstrategien
Im Zentrum der Überlegungen steht zunächst Hermann Brochs Schreiben, dessen Ambivalenz Fetz zwischen dem „Schriftsteller“ und dem „Systemdenker“ Broch aufspannt, zwischen seinen Romanen auf der einen Seite, den theoretischen und persönlichen Schriften andererseits. Es geht Fetz hierbei allerdings nicht darum, das Werk aus der Person oder umgekehrt zu erklären, auch nicht darum, nachzuweisen, warum diese Rechnung nicht aufgehen kann. Vielmehr möchte er „die der Rechnung zugrunde liegenden produktiven Widersprüche deutlich machen“: „Den Widersprüchen der verschiedenen Diskursstrategien Brochs angemessen ist eine dekonstruierende und kontextualisierende Lektüre, die diesen Autor aus den Absolutheitszirkeln herauslöst, um gerade auf das Nichtidentische im Werk hinzuweisen und Brochs Werk als Modellfall einer psychischen und intellektuellen Schriftstellerbiographie im 20. Jahrhundert zu lesen und zu kommentieren. Dieses Werk setzt in vielen seiner Momente zum Tigersprung aus dem System an, um im letzten Moment wieder kehrtzumachen. Die Bewegung allerdings ist noch spürbar. Ihr gilt es nachzuspüren.“ Im Versuch, den widersprüchlichen Bewegungen in Brochs Schreiben nachzuspüren, liegt die Keimzelle dieses Buchs; von hier aus erfolgt die Beschäftigung mit Literatur als Kulturkritik. Während das Broch-Kapitel sich auf rund 90 Seiten der Dekonstruktion der Brochschen Textwelt widmet, dienen die umgebenden Kapitel der Kontextualisierung.
Die Sehnsucht nach Utopie und Kritik am Bestehenden sind zwei Pole, zwischen denen Literatur sich ständig bewegt.
Die nachfolgenden Kapitel beschäftigen sich mit kulturkritischen Autoren und Texten vor allem aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Günther Anders, Elias Canetti, Albert Drach, Werner Kofler, Christoph Ransmayr, sowie den Zusammenhängen von Science-Fiction, Kriminalroman und Film.
Insgesamt gelingt Bernhard Fetz in seinem Buch ein panoramatischer Blick auf unterschiedlichste kulturkritische Schreibweisen an der Schnittstelle zwischen Literatur und Wissenschaft – einerseits Textformen im „Übergang verschiedener Diskursformationen“ wie Feuilleton, Kolportageroman oder Autobiografie, andererseits um das Medium Film kreisende Texte unterschiedlicher literarischer Prägung. Fetz versucht – den großen Namen zum Trotz – an keinem Punkt, die von ihm untersuchten Autoren in ein schöneres Licht zu rücken, sondern benennt klar, an welchen Aspekten (der Person oder des Werks) Kritik geübt werden kann, manchmal auch werden muss, und reflektiert auch die Positionen der neuesten Forschung dazu, ohne dass das an der Relevanz der Texte etwas ändern würde. Ein gutes Beispiel dafür stellt die „Logik der Ausschließung“ dar, die Broch in vielen seiner Texte konstruiert und die Fetz in der „Abwertung des Sprachexperiments als l‘art pour l‘art …, [der] Abwertung des empirischen Lebens … gegenüber der reinen Idee, [der] Abwertung der Frau aus Fleisch und Blut zugunsten der weißen geistigen Frau … oder [dem] Ausschluss bestimmter Themen aus der Dichtung“ am Werk sieht.
Auffällig ist allerdings, dass der Autor, wiewohl er die Misogynie Hermann Brochs, den mitunter frauenfeindlichen Blick Canettis, die konstruierte Opposition von „natürlichem Wiener Mädel“ versus „frigider intellektueller Berlinerin“ von Stefan Großmann mit deutlichen Worten benennt, selbst nur männliche Autoren ins Zentrum seiner Untersuchungen stellt. Was ist daraus zu schließen? Dass es nur männliche Autoren sind, die sich mit dem Unterfangen der Kulturkritik beschäftigen? Wäre man damit bei der alten Opposition von männlichen allgemeingültigen und weiblichen privaten Texten? Ist Kritik an den Verhältnissen der Geschlechter, wie sie beispielsweise Marlene Streeruwitz übt, keine Kulturkritik, sondern Privatsache der Autorin? Was aber, wenn nicht Kulturkritik, betreiben die Texte von Ilse Aichinger, Elfriede Jelinek? So spannend die einzelnen Kapitel zu lesen sind, immer wieder fragt man sich beim Lesen: Warum jetzt gerade dieser Autor, warum dieses Kapitel? Aufschluss darüber gibt die Nachbemerkung, in der Fetz feststellt, dass „[d]ie einzelnen Kapitel … teilweise auf publizierte Vorarbeiten“ zurückgehen – eine an sich völlig legitime Arbeitsweise, bloß dass einen der Autor leider im Unklaren darüber lässt, nach welchen Kriterien er die konkrete Auswahl vorgenommen hat.
Wenn man sich aber von der Vorstellung verabschiedet, einen durchgängigen Text, eine Metaerzählung über literarische Kritik der Kultur zu lesen – und nichts lag dem Autor vermutlich ferner, als eine solche zu schreiben –, hat man es mit einem spannenden, gut zu lesenden und bestechend klar formulierten Buch zu tun. In den besten Momenten entsteht dabei ein Alexander Kluges Methode der gegenseitigen Bezugnahme und Kommentierung verschiedener Medien vergleichbares System an Aussagen über die in der Moderne irreversibel unvollkommen gewordene Wirklichkeit.