Wert-Bilder und Geld-Kulte

Irini Athanassakis hat eine bemerkenswerte Studie zur Kulturgeschichte von Wertpapieren vorgelegt. Von Robert Schwarz

Online seit: 25. September 2019

Das Cover von Irini Athanassakis’ Studie zur Kulturgeschichte von Wertpapieren Die Aktie als Bild ziert eine seltsam vertraute, abstrakt schwingende Blüte. Diese verdanken wir der Guillochiermaschine, die seit dem 18 Jahrhundert speziell für Wertgegenstände aus Papier entwickelt wurde: „Fein geschlungene Linien, die, dicht nebeneinandergesetzt und leicht verschoben, nach einem speziellen Algorithmus eine neue Ornamentik hervorbrachten, sollten vor Fälschung schützen und dem Versprechen der Echtheit und Sicherheit von Wertpapieren genügen.“ Geometrisch-Abstraktes ging auf diese Weise in die Bildlichkeit von Wertpapieren ein, lange bevor das Aktien-Bild als grafische Linie mit ihren erratischen Sprüngen die Zeitungen schmückte oder als endloses Band von Zahlen auf Bildschirmen flimmerte. Athanassakis legt in ihrem Buch eine Untersuchung „über die Aktie als Kulturgegenstand“ bzw. „des Aktienwesens als kulturelle Praxis“ vor. Was aber hat das Aktienwesen mit Kultur zu tun? Mit der Zusammenstellung und Reflexion der „Bildwelten auf Wertpapieren“, auf die das Werk nach erstem Eindruck zuzulaufen scheint, ist die theoretische Intention keineswegs auf den Punkt gebracht. Die Aktie als Bild präsentiert sich vielmehr als materialreiche und vielschichtige Darstellung der Geltungs- und Konstitutionsbedingungen des Dings (und Nicht-Dings) Aktie: „Die Beschreibung der Praxis des Wertpapierhandels konzentriert sich hier auf seine zwei Knotenpunkte, das Entstehen von Papieren und das Abschaffen von Papieren.“

Damit sind die zwei entscheidenden Übergänge benannt: Noch vor der Einführung der ersten Aktien (1606 in Amsterdam, Vereinigte Ostindische Kompagnie) schufen noch ganz im Bannkreis der kirchlichen Herrschaft stehende Unternehmungen, die sogenannten Montes di Pietà, die Voraussetzungen der für die Geschichte des Kapitalismus essenziellen Innovation des Aktienwesens. Die Abschaffung der Aktie als Papier, das von Hand zu Hand geht (wenn es auch die meiste Zeit in Safes gelagert haben mag), vollzog sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, und der Horizont dieser jüngsten Verschiebung in der Praxis des Wertpapierhandels – Wertpapiere, die nur mehr am Papier als Papier figurieren – ist in der Praxis selbst noch nicht ausgemessen. Um die Bedingungen dieser beiden Ereignisse zu rekonstruieren, holt die Autorin weit aus, indem sie über die Natur des Wertes, den das Wertpapier zu tragen, wenn nicht gar zu haben beansprucht, nachdenkt. Und in der Folge fasst sie die Aktie (ebenso wie das allseits strömende Geld) als Gegenstand des Kultes ins Auge. Unsicher scheint dieser Kult zu sein, der wechselnden Wertfiguren bedürfend, die Ansätze einer Erzählbarkeit, einer suggestiven Bildlichkeit stiften. Auswechselbar sind sie letztendlich alle. Der leibhaftig abwesende Gott dieses Kultes scheint sich bis zuletzt zu entziehen, wie es Walter Benjamin in seinem berühmten Fragment zum Kapitalismus als Religion ausgesprochen hat. Der Kult übersetzt sich entsprechend den Entwicklungen der Moderne in einen Diskurs des Begehrens, zeigt damit aber erst recht keinen Ausweg. Dieser Fragekomplex nach den pseudo- oder parareligiösen Gehalten des Kapitalismus grundiert die in diesem Buch verhandelten Tatsächlichkeiten wie ein überall miteingewebtes Wasserzeichen. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die Frage nach dem Schein der Scheine, also nach der Tradition der schönen Bildmotive, mit denen die Aktien werben, verführen und Glaubwürdigkeit versichern.

Triebfaktoren des Kapitalismus

Athanassakis’ kompilatorische und offen angelegte Studie weist in ihrem Kenntnisreichtum an allen Ecken und Enden über sich hinaus, zu anderen Büchern, anderen, das hier entworfene Bild des Kapitalismus vervollständigenden Realien, und spiegelt darin den modernen Charakter des Geldes, das nach der grundlegenden Einsicht Georg Simmels in der Form eines universellen Vermögens das „Können schlechthin“ verkörpert und in dieser Funktion alle anderen gemeinschaftlichen Spielräume erst großflächig ermöglicht. In anregender Entgrenztheit setzt sich Die Aktie als Bild mit dem Nexus auseinander, der unsere ausdifferenzierte und im Moment verlustreiche Praxis in Bezug auf Wertdinge – Geld und seine Wiedergänger, Noten, Aktien, Optionen und Derivate – trägt. Ohne den Rückgang auf deren Konstitutionsbedingungen bleiben wesentliche Triebfaktoren des Kapitalismus unverstanden und werden die Ansätze zu seiner Neuregulierung im Sand verlaufen. Denn nicht subjektive Gier per se treibt die kapitalistische Wachstumsmaschine
in ihren Zusammenbruch, sondern ein im Grunde sehr einfacher Mechanismus von Schuld und Verschuldung, der allerdings in seinen religiösen, metaphysischen und anthropologischen Konnotationen wiederum in allen Farben schillert: Das Schuldensystem verlangt kategorisch nach Wachstum der Gesellschaft bzw. des eingesetzten Kapitals, denn Schulden müssen ja zurückbezahlt werden. Wer Geld „zum Arbeiten“ verliehen bekommt (letztlich sind es immer Menschen, zum nicht geringen Teil Menschen in zwar nicht juridischer, aber realer Schuldknechtschaft, die durch ihre Arbeit und Innovationen Werte schaffen), muss am Ende mehr zurückbezahlen. Diese Bewegung ist ins Geld selbst eingeschrieben, das mit dem Akt seiner Ausgabe durch die Notenbanken sowohl als positive Summe als auch als „Schuld“ in gleicher Höhe in die Welt tritt. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der kategorischen Zinserwartung hat die größte nur denkbare Tragweite: „Dieser Erwartung an das Geld, sich zu vermehren, liegt die Erwartung an die Gesellschaft zugrunde, zu wachsen. Die Gesellschaft soll als positive Kraft wirken, gedeihen und produktiv sein, sich vermehren und Reichtümer anhäufen. Eine Nichterfüllung dieser Erwartung kommt einer Schuld gleich (und angesichts der wechselseitigen und globalen Verschuldung auch einem Anwachsen der Schulden).“ Das bekannte Marx’sche Schema G – W – G’ (Geld – Ware – mehr Geld) ist folglich durch die Formel S – G – S’, also durch Schulden und immer mehr Schuld, zu ergänzen. Die Schulden müssen erst ins Unerträgliche wachsen, wie Benjamin in seinem bereits zitierten Fragment schreibt, bevor der Gott der Kapitalismusreligion sich im Sturz offenbart.

Dieser Erwartung an das Geld, sich zu vermehren, liegt die Erwartung an die Gesellschaft zugrunde, zu wachsen.

Indem sie das „Ding Aktie (als) Ausgangspunkt“ nimmt, berührt Athanassakis’ Studie immer wieder en passant diesen sozusagen transzendentalen Zusammenhang – um am Ende in das Geständnis „latente(r) Verwirrung“  über die Beteiligung der subjektiven Faktoren Bedürfen, Begehren/Wünschen und Vertrauen sowie „eine fragende These zum Ende“ zu münden:  „Mehrwert erlaubt jedes Mal eine neue Verteilung der Mittel, gibt Hoffnung und generiert Motivation. Das Mehr ist demnach Hoffnungsträger und Problem zugleich. (…) Aber der Fruchtbarkeitskult des Aktienkapitals ist künstlich (…). Denn Ceres, die Göttin der Erde, wird nicht angebetet, ihr wird auch nichts mehr geopfert; im Gegenteil, sie selbst scheint geopfert zu werden, und mit ihr die Erde. Proserpina, ihre Tochter, deren Anwesenheit auf der Erde Fruchtbarkeit und Freude stiften würde, soll nur noch ihrem Mann und Entführer, dem Gott der Unterwelt und des Reichtums  Pluto (Hades), gehören.“ – „Neue Bildwelten müssten erfunden werden“, folgert die Autorin. Was der kollektiven Konstruktion harrt, sind der Suggestivkraft des reinen Geldgewinns ebenbürtige Erwartungs- und Werthorizonte. Für das Verständnis der Genese der Werthorizonte des Aktienkapitals ist die vorliegende Arbeit sehr aufschlussreich. Plastisch ist insbesondere der Durchlauf durch die Geschichte des Aktienhandels in Form der Darstellung von Geschichte und Kontext von sechs exemplarischen Aktiengesellschaften, der die konkrete Bildlichkeit der jeweiligen Aktienpapiere theoretisch, historisch und bildexegetisch erläutert. So entstehen sechs Plateaus, die als Etappen einer Kapitalismusgeschichte gelesen werden können, der weder das Detail noch der soziale und kulturelle Zusammenhang entgeht.

Wichtiger als Gewinnkalkulationen ist am Beginn des Aktienwesens die Idee der gemeinsamen Absicherung gegen das Risiko des Bankrotts. Die italienischen „montes communes“ – wörtlich: gemeinsame Haufen – entstanden schon im Spätmittelalter, meist zur Rettung vor dem Ruin durch Rückzahlungsausfälle gekrönter Großschuldner, und sie markieren – auch wenn es sich noch nicht um kapitalistische Aktiengesellschaften im eigentlichen Sinn handelt – einen Schwellenübertritt. Es gelang ihnen nämlich, den spirituellen Auftrag des Christentums, das ja den Wucher, also den Anspruch auf einen Geldzins aufgrund des Verstreichens der Zeit, zu einer Todsünde erklärt hatte, mit dem Gewinninteresse zu vermitteln. Sie traten zunächst karitativ auf, ersetzten aber auch, wie der von Athanassakis ausführlicher untersuchte Monte di Pietà della Città di Firenze, das traditionelle Verleihgeschäft der Juden, was sich gleich nach Gründung in deren Vertreibung niederschlug. Der Anteilsschein des Monte zeigt (neben dem Wappen der Medici) zwei identische Christusabbildungen, die mit geöffneten Armen vor einem ihren Unterleib abdeckenden Haufen runder Formen stehen. Dies mag an den geradezu archetypischen Konflikt von Gott und Geld erinnern. Beide Erfindungen – Gott wie Geld – verdanken sich enormen, gleichsam selbstläufigen historischen Abstraktionsleistungen, und Religionswissenschaftler wie Bernhard Laum (Heiliges Geld) verweisen auf einen sakralen Ursprung des Geldes. In einigen Eigenheiten läuft die Logik von Geld und Gott tatsächlich parallel. Beide konnten als Inbegriff einer alles bestimmenden Wirklichkeit auftreten; für beide gilt, dass sie als Identität von Wertzeichen und Wertobjekt (Christoph Deutschmann) verstanden werden müssen: Sie sind, was sie symbolisieren; beide beanspruchen, schöpferische Quelle des Seienden zu sein. Beide haben ein Problem mit der Leibhaftigkeit, und ein Echo dessen mag darin zu erblicken sein, wie sich Athanassakis wiederkehrend mit der Schwierigkeit herumschlägt, den Gegenstand Aktie – auch wenn sie ihn in einem System von Praktiken verortet – als „Ding“ zu begreifen. „Das Ding wird also abgelöst von Verweissystemen auf das Ding und auf Prozesse. Damit wird dem ‚Ding Aktie‘ seine Substanz genommen: Es hat seinen Körper verloren.“  In diesem Punkt sitzt die Autorin einem Scheinproblem auf, das sie an anderer Stelle durchschaut: „Wertspeicherung fand aber zusehends in Prozessen und ‚Gesellschaften‘ (…) statt. Es ging folglich gar nicht um das Gold, sondern um einen Speicher bzw. eine gemeinsame Projektionsfläche.“

Aktien als Projektionsfläche

In diesem Sinne sind auch die im dinglichen Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehenden Aktienpapiere solche gemeinsamen Projektionsflächen vor dem Hintergrund des sozusagen stets mitanwesenden Goldgrunds des Geldes. Ihrer rechtlichen Natur nach sind und bleiben die Aktienzertifikate in erster Linie handelbare Verträge, die in einigen Fällen – denn nur etwa 10% der 3000 von der Autorin gesichteten Papiere tragen nennenswerte Illustrationen – mit der zusätzlichen Funktion beladen sind, den Schein von Werthaltigkeit, von Fülle und versprochenem Wachstum selbst darzustellen (alle, auch die bildlosen Papiere vermitteln in ihrem grafischen Design den Eindruck von Sicherheit und Seriosität). Auch der Mythos Gold – in das sich in Krisenzeiten ironischerweise die Anleger flüchten – verdankt sich ja vor allem der sinnlichen Evidenz dieses Metalls, dessen natürlich-transzendenter Glanz unmittelbar verführt. Es ist eine leuchtende Fülle, Körper und Bild in einem, beinahe unbrauchbar. Bekanntlich hatte es das Papiergeld schwer, sich gegen das Metallgeld durchzusetzen: In China, wo es zuerst erfunden wurde, mussten die Bürger unter Androhung der Strafe auf Majestätsbeleidigung – also des Todes – gezwungen werden, die Gültigkeit der gedruckten Scheine zu akzeptieren. So sind es nunmehr moderne Staaten in Form des souverän auftretenden Gesetzes, die das Papier als Zirkulationsmittel anerkennen und stützen, wenn sie dieses auch nicht langfristig mit Wert ausstatten können. Auch die Form der Aktiengesellschaft (und damit die Aktie) durchlief im 19. Jahrhundert einen Prozess der Verrechtlichung, wie Athanassakis ausführt. Überhaupt spielten Staaten eine wichtige Rolle bei der Privilegierung und Unterstützung der Aktiengesellschaft – von einer autonomen ökonomischen Sphäre kann angesichts der realen Interessensverquickung keine Rede sein. Die Konfusion über das Verschwinden des „Dings“ Aktie hat auch damit zu tun, dass die Aktie als bildwissenschaftliches Objekt einer kulturwissenschaftlichen Untersuchung zunächst sehr ernst genommen werden muss. Was halten wir denn in der Hand, wenn wir zu dem Fünftel der Deutschen oder zu der Hälfte der US-Amerikaner gehören, die Aktien „halten“?  Kontoauszüge und Depotübersichten als materielle (?) Spuren ineinandergreifender Transaktionen und des Vertrauens in unsere Bank? Die Kernfrage, die Athanassakis aufwirft, gibt dieser beunruhigenden Evidenz Ausdruck: Worauf stützt sich denn das Vertrauen, wenn die materiellen Fetische und dinglichen Träger von der Bildfläche verschwinden? Was sichert die Substanz der Werte? Worauf verlassen sich die Investoren eigentlich? Was ist die Natur ihres Glaubens?

Worauf stützt sich denn das Vertrauen, wenn die materiellen Fetische und dinglichen Träger von der Bildfläche verschwinden? Was sichert die Substanz der Werte?

Bevor der Kontoauszug das nur noch als Sammelurkunde in Depots von Geschäftsbanken lagernde Aktienzertifikat ersetzte, folgten die Bildfiguren der bekannten Ersetzungsreihe sich säkularisierender Gesellschaften. Athanassakis stellt die „Bildwelten auf Wertpapieren“ in drei Hauptgruppen gegliedert vor: „Gottheiten“, „Arbeit“, „weibliche Gestalten“. Christus – die Berufung auf ihn bleibt heikel – kommt bald nicht mehr vor, an seine Stelle tritt, nach dem christlichen Herrscher im Barock und zunächst begleitet noch von der respektheischenden, weiblichen Allegorie, das unproblematischere Personal des klassischen Götterhimmels, vor allem der Götterbote Hermes und die Göttin der Fruchtbarkeit Ceres/Demeter. Antike Gottheiten boten „den Vorteil, dass sie nicht als heilig angesehen werden, dass sie also einfacher in Verbindung zu den weltlichen Instanzen gebracht werden können und einen Kontakt zu den Naturmächten und dem Ungewissen zulassen“. Durchgehend wird das natürliche Wachstum – in möglichst neutraler Form – beschworen. Die Aktie als Bild zeichnet nach, in welcher Form die Arbeit und zunehmend auch das sich individualisierende Begehren als Produktivkräfte auf der Aktie beschworen werden. Spannend sind auch hier die Überschneidungen und Übergänge: Hermes wird Arbeiter, Ceres wird – zunächst fremdländische – Arbeiterin, berühr- und begehrbar, subjektiviert im Bild der mondänen Konsumentin, das zur Identifikation einlädt. Im Hintergrund Versatzstücke einer reibungslosen, im 20. Jahrhundert nicht mehr rauchenden Maschinen- und einer strotzend verführerischen Warenwelt.

Ist die Vermittlung von Vertrauen ins Wachstum und Lust auf Spekulation durch solche allgemeinen Bildformeln heute nicht mehr nötig? „Die Meinungsbildung über die Wertpapierwelt“, so Athanassakis in einem Hinweis, der über ihr Buch hinausführt, „findet also auch in ganz anderen Sphären als an den tatsächlichen Handelsplätzen statt.“ Im Zuge der Modernisierung des Wertpapierhandels durch Informatisierung und Internet sowie der Strategie des Neoliberalismus, breite Bevölkerungsschichten systematisch in das Interesse am Shareholder-Value einzubinden, findet eine Verallgemeinerung der ökonomischen Sphäre des Wertpapierwesens statt. Symptome wie das Auftauchen der Börsenberichte in den Nachrichten – mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der etwa über das Wetter berichtet wird – werden in der Studie benannt, aber nicht mehr untersucht. Das Bild als Medium hat in diesem Zusammenhang tatsächlich gegenüber komplexeren medialen Prozessen an Rang eingebüßt, wie sie etwa in kollektiven Stimmungsschüben und deren Manipulation bestehen. Professionelle Vermittler, international agierende Berater und Ratingagenturen, Experten und Vertreter hegemonialer Wirtschaftsschulen, Mediensprecher und Anlagenverkäufer spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Wichtigkeit von Investitionen in Geldanlagen wurde auch in der Politik zu einer als kaum mehr verhandelbar dargestellten Chefsache, offen oder hinter dem Rücken der Bürger, wie sich heute an zahlreichen, teils tragikomischen Beispielen zeigt.

Tatsächlich gehören „die Versprechungen des Wunderbaren“ seit jeher „zu den ,Bildern‘ der Spekulation“. Die Spekulation mit Aktien hat seit Beginn des Aktienhandels auch wenig besitzende Bürger angezogen und fasziniert, verband sich in der Aktie doch das Glücksspiel mit der Ökonomie. Die Lotterie entstand in etwa zeitgleich mit Börse und Aktie. „Die Erfahrungen mit der Möglichkeit, zu ‚gewinnen‘, dem Schicksal und der Allmacht Gottes womöglich zu entkommen, steckten immer größere Bevölkerungsgruppen an, die hofften, ebenfalls zu den Glücklichen zu gehören.“ Historische Stimmen aus vier Jahrhunderten überschlagen sich in Euphorie, Kassandrarufen, Schelte, Jubel und Katzenjammer. Nicht nur die neuen Buchführungsregeln, auch die Entdeckung der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Sog, der von einem weltlich kalkulierbaren Glück ausging, haben den Erfolg der Aktie möglich gemacht. In Bezug auf die Religion können wir mit der Entstehung dieses neuen Wirtschaftssystems eine Doppelbewegung feststellen: Während ein weltlicher Raum des möglichen Glückgewinnes entsteht, der vom transzendenten Gott freigegeben ist, ist auf der anderen Seite der Eindruck nicht leicht von der Hand zu weisen, dass archaischere Formen wie die der religiösen Kommunikation durch das Opfer, Handlungen, die einzelne Götter wohlgesonnen stimmen sollen, Gewinn oder Dividende als Geschenk, das man sich als Gabe von ihnen erhofft, usw., sich in diesem Terrain des Geschäfts mit der Zukunft ausleben. Was, wenn der Glaube an die Freigebigkeit, ja an die schiere Zurechnungsfähigkeit dieser Götter schwankt? Da außerdem sehr viele längst wissen, dass diese Götter reichlich ungerecht sind? Und dass sie nach wie vor Persephone, also das Ökosystem des Planeten in seiner natürlichen Regenerationsfähigkeit, als Großopfer zu fordern scheinen? In diesem Zusammenhang gewinnt Athanassakis’ Forderung nach „neuen Bildern“ ihre volle Bedeutung. Gefragt sind „Leitbilder“ (deren gesellschaftliche Logik etwa Christoph Deutschmann in Die Verheißung absoluten Reichtums beschreibt), die sich zu neuen praktischen Horizonten fügen. Neue kollektive Werthorizonte gar sind aber nur um den Preis der Relativierung des dem Geld zugeschriebenen absoluten Vermögens (im Sinne des Könnens) zu haben. Dieses abstrakte, fruchtlose Können bedarf der abgestimmten Zwecke, die außerhalb seiner reinen Performanz liegen. Wie steht es um die reale Einlösbarkeit der Werte, mit deren Versprechen das Vermögen – die „Tresore unserer Werte“, wie Athanassakis die Finanzwelt zitiert – weltweit aufgeladen ist? Die „Kultur der Werte“ und die Frage nach deren Natur oder Substanz stehen im theoretisch abstrakten, allgemeine Zugänge vorstellenden ersten Kapitel
der Studie zur Diskussion. Dort findet sich noch reichlich Material und Anregung für weitere Analysen.

Irini Athanassakis ist Betriebswirtin und Absolventin der Universität für Angewandte Kunst in Wien, wo sie von 2000-2004 am Institut für Design und Alltagskultur unterrichtete. Tätigkeit als Ausstellungskuratorin (Deichtorhallen Hamburg, Kunstverein Düsseldorf, O.K. Centrum für Gegenwartskunst Linz); zahlreiche Publikationen. Athanassakis lebt und arbeitet in Wien und Avignon.

Robert Schwarz ist Philosoph und derzeit als Lektor an der Universität Bratislava tätig.

Quelle: Recherche 2/2009

Online seit: 25. September 2019

Irini Athanassakis: Die Aktie als Bild. Zur Kulturgeschichte von Wertpapieren. Edition transfer, Wien 2008. 407 Seiten, € 34,95