Dädalus von Amstetten

Josef F. wollte in seinem Keller lebendige Statuen erschaffen. Das Auftauchen der komatösen Tochter markierte das nahende Ende einer patriarchalen Opferlogik. Von Elisabeth von Samsonow

Online seit: 25. September 2019

„Ihr sterbt alle mit fünfzehn.“
(Diderot an Sophie Volland)

Im Fall Amstetten ist zu Recht viel von „unbegreiflichem Grauen“ die Rede gewesen. Die Medien überschlugen sich im Aufstellen von Listen des vergleichbar Fürchterlichen. Natürlich kam das Patriarchat in die Schusslinie. Das öffentliche Interesse richtete sich vor allem auf den zum Monster vergrößerten Vater. Merkwürdig blass aber blieb das Bild des Mädchens, das meiner Meinung nach die Hauptrolle in diesem Fall spielt. Der Körper der Neunzehnjährigen, die die Aufdeckung ins Rollen brachte, sprach ohne Stimme. Im Koma liegend wurde sie an die Erdoberfläche gebracht. Ihre Starre erinnert an Schneewittchen, die im gläsernen Sarg als lebende Tote, als anwesende Verschwundene „demonstrierte“.

Die amerikanische Psychoanalytikerin Mary Pipher prangert in ihrem Buch Pubertätskrisen junger Mädchen die Unfähigkeit einer Gesellschaft an, die nicht zu verhindern wisse, dass Mädchen in der Pubertät „in die Unterwelt“ gingen. Sie reagiert damit auf den dramatischen Umstand, dass Mädchen mit Beginn der Pubertät „aus unerklärlichen Gründen“ ihren eigenen Willen aufgeben. Pipher meint, sie würden sich in Projektionsflächen und damit in Opferkandidatinnen verwandeln. Es gibt mythische Figuren, die diese Mädchenkarriere in exemplarischer Weise vorgeführt haben: Persephone, die von Hades zur Unterweltsehe gezwungen wird, Ophelia, die bildhaft durch das Gewicht der auf sie auftreffenden Projektionen ertrinkt, Elektra, die „durchdreht“. Diese Mädchen fangen an, ihre Symptome in dem Moment zu produzieren, in dem sie in ein Frau-Werden eintreten, das so attraktiv ist wie eine Sackgasse. Vor sich sehen sie eine Mutter, die bereits ihrer Bedeutung beraubt ist. In der Performance der Mädchen ist das Wissen ausgedrückt, dass es ihnen genauso ergehen wird. Es steht ihnen NICHTS bevor. Die Griechen haben Brautgemach und Grab folgerichtig mit demselben Wort bezeichnet: thalamos.

Sigmund Freud umschreibt den Umstand nur anders, wenn er notiert, dass das Mädchen in die „Latenz“ fällt. Damit ist gleichfalls ausgedrückt, dass es in einer Unterwelt verschwindet, die die Gegenwelt zur politischen Welt des Vaters bildet. Die patriarchalische Ehe bedeutet die Abwertung der Mutter vor den Augen der Tochter. Welche Rolle bleibt der Tochter in diesem Spiel? Eine nicht unwichtige. Eine Ehe, die für die Frau keinen gleichberechtigten Rang vorsah, baute nämlich auf dem Tochterprinzip auf. Dieses Ehemodell (es gibt unzählige andere) war nur durch eine Serie  von „unvollendeten Frauen“, also Töchtern, zu halten. Der Erstfrau folgte unbeirrt die Zweitfrau, die als verjüngtes Ersatzteil das Tochterprinzip wieder herzustellen hatte. Das war der eigentliche Betrug an der Frau: nicht die Untreue des erotisierten Gatten, sondern die politische und symbolische Auslöschung der Mutterpotenz.

In der Pubertät verwandeln sich Mädchen in Projektionsflächen und damit in Opferkandidatinnen.

Dramatiker und Analytiker phantasierten allerdings eine andere Story: dass sich das Mädchen in den Vater verlieben und der Mutter den Tod wünschen müsse. Was ist das für eine Logik? Wieso sollte es sich wünschen, die Karriere der Mutter zu durchlaufen? Ohne die Kooperation der Tochter wäre die Rolle des Patriarchen bedeutend weniger glanzvoll. Daher war die Abwertung der Mutterrolle im Patriarchat folgerichtig mit der Idee der „vaterverliebten“ Tochter verknüpft. Welchem Traumwunsch erlagen die Autoren da, als sie die den Vater stabilisierende Aufgabe des stets opferbereiten Mädchens festschrieben? Ist denn das Mädchen nicht schon in dem Moment „geopfert“, in dem es sieht, dass es in die Rolle ihrer „gelöschten“ Mutter zu wechseln hat?

In dem Augenblick, in dem das Mädchen endlich seinem Opferdienst entkommt, wird dieses Modell der Vater-Tochter-Beziehung ihr Ablaufdatum erreicht haben. Dann wird nicht mehr notwendig sein, dass sich das Mädchen in der Latenz entzieht. Das „neue Mädchen“, das durch Stärke, Intelligenz, Mut und Begabung verblüfft, hat sich ja schon angekündigt. Aber noch steigen aus den Kellern der öffentlichen Seele Opfer von ewiggestrigen Tätern empor. Die Logik des Mädchenopfers wird uns in den Fällen von Amstetten bzw. in jenem von Natascha Kampusch auf drastische Weise vorgeführt. Man kommt nicht umhin, auf den griechischen Kulturhelden Dädalus als Prototyp des Ingenieurs zu verweisen. Nur ein Ingenieur, der die Zweitwelt technisch zu konstruieren imstande ist, kann aus den allgemeinen Phantasien reale Taten machen. Auch Dädalus, der erste Ingenieur, setzte sein Genie dazu ein, Mädchen im Labyrinth gefangen zu halten. Mädchen faszinierten Dädalus offenbar „rein technisch“: Sie sind nämlich Geheimnisträgerinnen. Mädchen besitzen, wovon Techniker und Ingenieure nur träumen können – sie verfügen über „Körper produzierende Körper“. Dädalus wollte unbedingt tun, was man als Ingenieur auch heute noch will: lebendige Statuen herstellen.

Auch der „Dädalus von Amstetten“ verkündete, er müsse in den Keller gehen, um dort Pläne für geheime Maschinen zu konstruieren. Die Mädchen im Labyinth des Dädalus waren Gefangene einer mächtigen Opferlogik. Dieser Logik so entkommen zu sein, dass ihr Mechanismus sichtbar wird, ist die Leistung der Neunzehnjährigen von Amstetten.

Elisabeth von Samsonow, geb. 1956, ist Professorin für philosophische und historische Anthropologie der Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien. Zuletzt erschien Anti-Elektra. Totemismus und Schizogamie (diaphane 2007).

Quelle: Recherche 2/2009

Online seit: 25. September 2019

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