Es kommt vor, dass Leute, anstatt selbst fernzusehen, lieber ihre Videorekorder programmieren, um die Filme aufzunehmen. Sie sind schon zufrieden, wenn sie sehen, dass die Aufnahme stattgefunden hat, und sehen sich das Band dann niemals mehr an.
Dieses Verhalten, bei dem ein Genuss an ein Gerät delegiert wird, bezeichne ich als Interpassivität. Interpassivität ist ein weit verbreitetes Kulturphänomen. Wenn Fernsehkomödien bereits über sich selbst lachen; wenn Fotokopierapparate anstelle von Intellektuellen unzählige Artikel lesen; oder wenn Angehörige asiatischer Religionen ihre Andacht mithilfe von Gebetsmühlen verrichten, an denen sie kurbeln, während sie selbst – wie Slavoj Zizek bemerkt hat – vielleicht an ganz andere, obszöne Dinge denken, dann haben wir es mit Interpassivität zu tun.
Interpassive Menschen benutzen andere Menschen, Tiere, Pflanzen oder Geräte, um bestimmte Genüsse abzuwickeln. Nicht ihre Tätigkeiten überlassen sie diesen stellvertretenden Agenten, sondern gerade das, was sie gern tun – was sie zum Vergnügen, zur Entspannung, aus Leidenschaft oder aus Überzeugung tun. Sie lassen andere also nicht für sich arbeiten, sondern sie lassen sie für sich genießen.
Postsexuelle Pornofans
Interpassives Verhalten beinhaltet immer ein bestimmtes „als ob“. Interpassive Internetsurfer tun so, als würde ihr Drucker die ausgedruckten Dokumente für sie lesen; postsexuelle Pornofans verhalten sich so, als würden die Film-Heldinnen und Helden an ihrer Stelle Sex haben; und interpassive Alkoholiker schenken ihren Gästen immer deshalb eifrig nach, weil sie dadurch den Anschein erwecken können, als würden die für sie trinken. Freilich stellt sich in der Folge die Frage, wer das glauben soll. Wer ist überhaupt jemals imstande, den Einsatz eines Fotokopierers mit der Lektüre eines Intellektuellen zu verwechseln und das eine für ein vollwertiges Äquivalent des anderen zu nehmen?
Hier liegt offensichtlich ein sehr spezieller Typ von Einbildungen vor: Einbildungen, die nicht nur von bestimmten Leuten nicht geglaubt werden, sondern offenbar niemals von irgendjemandem – ja die sogar gänzlich ungeeignet sind, jemals von irgendjemandem geglaubt zu werden.
Im interpassiven Verhalten nehmen Leute also punktuell mit einer Sache Kontakt auf, um sich ihr insgesamt dafür zu entziehen – und zwar nicht nur in Bezug auf den Genuss, sondern vor allem auch in Bezug auf das Glauben; das heißt in Bezug auf die Identifizierung mit einer Einbildung. Interpassivität ist also eine Strategie, um der Identifizierung zu entgehen. Die Suche nach einer solchen Möglichkeit hat nicht allein die marxistische Theorie Althussers, sondern auch die Gender-Theorie Judith Butlers beschäftigt; es ist die grundlegende Frage jeder Theorie, die nach Auswegen aus vorherrschenden Ideologien, dominierenden Modellen, hegemonialen Identitäten etc. sucht. Interpassives Verhalten scheint eine unerwartete Lösung darzustellen.
Das Charakteristische am Kulturkapitalismus besteht, wie Mark Slouka hellsichtig bemerkt hat, darin, dass mit der Ware ein Stück Leben gekauft wird – und zwar mit dem Ziel, es nicht selbst leben zu müssen.
In verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen wird derzeit oft über das Verhältnis nachgedacht, das zwischen bestimmten Tätigkeiten und Menschen besteht, die diese Tätigkeiten beobachten oder spielen. Bezeichnenderweise wird dieses Verhältnis meistens als eines der zunehmenden Identifizierung gedacht: Die einen sehen nur zu, so meint man, um allmählich den anderen ähnlich zu werden und schließlich auch selbst zur Tat überzugehen – oder wenigstens dazu fähig zu werden. So wird der Genuss von unbewegt bleibenden Menschen am Verfolgen von Sport im Fernsehen heute meist mithilfe der Annahme von „Spiegelneuronen“ erklärt. Diese Erkenntnisse werfen allerdings mehr neue Fragen auf, als sie beantworten: Ob zum Beispiel die Tatsache, dass viele Leute gegenwärtig eben nicht kochen, sondern stattdessen immer schönere Kochbücher kaufen, sich ebenso gut mithilfe einer Annahme von „Nicht-Spiegel-Neuronen“ erklären lässt, wird die entsprechende Forschung noch untersuchen müssen.
Der Gedanke der Abstandnahme von großen Taten durch miniaturhaftes Spielen ist jedenfalls von zentraler Bedeutung für alle Fragen, die zum Beispiel das Verhältnis zwischen gewalttätigen Computerspielen und Gewalthandlungen von Jugendlichen oder auch das zwischen Pornographiekonsum und sexueller Gewalt von Erwachsenen (oder auch zum Beispiel zwischen S/M-Spielen in Nazikostümen und realer faschistischer Aktivität) betreffen. Könnte es nicht sein, dass solches Spielen, ähnlich wie magische Akte, die Funktion einer Abwehrhandlung erfüllt und vor allem dazu dient, reale Gewaltakte zu ersparen? Dass Jugendliche, die an einem Schultag eine Menge Aggression aufsammeln, eine Weile am Computer schießen müssen, um am nächsten Tag wieder einigermaßen entspannt in die Schule gehen zu können? Und dass ein britischer Formel-1-Funktionär, im Unterschied zu seinem Vater, eben genau deshalb kein Nazi zu werden brauchte, weil er im S/M eine Möglichkeit für sich gefunden hatte, solche Anwandlungen auf spielerische und spöttische Weise einer Erledigung zuzuführen?
Verdächtige Spiele
Die Tatsache, dass in den letzten Jahren die betreffenden Spiele mehr und mehr in den Verdacht gerieten, den realen Gewaltakten Vorschub zu leisten, deutet aus Sicht der Interpassivitätstheorie vor allem auf eine zunehmende theoretische Schwäche im common sense hin: nämlich dass die Gegenwartskultur sich eine mögliche Abwehrfunktion von Spielen immer weniger vorzustellen vermag; dieses schwindende Bewusstsein kann als eine Wirkung der „Entzauberung der Welt“ begriffen werden. Eine Art von „ikonographischer Naivität“ lässt den common sense immer nur den Inhalt eines Spiels mit dem Inhalt einer Gewalttat vergleichen und kommt dann zu eindeutigen, schlimmen Schlussfolgerungen über das Spiel (allerdings bezeichnenderweise ohne diese, wie es konsequent wäre, auf andere Spiele wie zum Beispiel Schach oder Kegeln auszudehnen). Der Gedanke, dass zwischen dem Spiel und der Tat, gerade aufgrund der Identität des Inhalts, und zugleich aufgrund der Differenz der Funktionen, eine komplementäre Beziehung bestehen könnte, fällt hier auffällig schwer zu denken: auch nicht der Anflug einer Idee davon, die Frage nach dem Verhältnis der beiden Praktiken – ihrer „Artikulation“ (entsprechend dem Begriff Louis Althussers) – zu stellen. Kulturtheorie aber hat gerade solche historisch gewachsenen oder aktuell im Wachsen begriffenen Denkschwierigkeiten und epistemologischen Hemmungen zu beobachten und zu analysieren.
Kulturkapitalismus
Die Denkschwierigkeiten des common sense sind umso auffälliger, da viele Praktiken der Gegenwartskultur sich durchaus in die Richtung des Ersparens durch Spielen entwickeln. Was theoretisch unbemerkt bleibt, erfreut sich in der Praxis zunehmender Beliebtheit. Einmal mehr scheint Blindheit des Bewusstseins eine günstige Bedingung für das Gedeihen seines Objekts zu sein. Was gegenwärtig als „Kulturkapitalismus“ oder auch als Anteil der „immateriellen Arbeit“ an den aktuellen Konsumgütern bezeichnet wird, besteht genau aus solchen Ersparnisfunktionen der Produkte. Wie Slavoj Zizek bemerkt, dienen gegenwärtig materielle Objekte immer mehr lediglich als Requisiten für eine Erfahrung, für Teilhabe an einem bestimmten Lebensstil oder einer Überzeugung. Bestimmte Äpfel sind nicht nur Obst, sondern Versprechen von gesundheitsbewusstem Leben oder sogar von ökologischem Protest. Spezielle Turnschuhe dienen nicht nur als Sportgeräte, sondern zugleich als modische Requisiten, als Zeichen des informierten Einspruchs gegen Kinderarbeit in China oder sogar, wie Wolfgang Ullrich pointiert bemerkt hat, gerade dank ihres besonderen Logos, als definitive Überwindungen des Logo-Wahnsinns.
Interpassive Menschen benutzen andere Menschen, Tiere, Pflanzen oder Geräte, um bestimmte Genüsse abzuwickeln.
Nun wird es wenigstens in der Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise kaum möglich sein, Produkte zu finden, die nicht bereits mit solcher Bedeutung aufgeladen gewesen wären. Roland Barthes hat dies in seinen Mythen des Alltags klar analysiert: Auch ein Auto wie die berühmte, 1955 eingeführte „DS“ von Citroën war nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern zugleich ein „Mythos“; das heißt in diesem Fall etwa: ein Versprechen von Modernität und utopischer Eleganz. Wenn man „Kulturkapitalismus“ von traditioneller Ausbeutung von Arbeitskraft durch Kapital begrifflich unterscheiden will, würde sich als Kriterium diesbezüglich allenfalls ein verändertes quantitatives Verhältnis anbieten (etwa: „früher machten Werbung, Mythenbildung, Branding etc. weniger als 50% vom Wert eines Produktes aus, heute dagegen mehr“).
Wenn es hier jedoch eine scharfe Trennlinie gibt, dann verläuft sie nicht zwischen der Präsenz eines Mythos und seiner Abwesenheit. Die entscheidende Frage ist vielmehr: Ist der Mythos einer der Teilhabe, oder besitzt er bereits die für unsere Zeit typische interpassive Dimension der Ersparnis? Kunden, die eine Citroen DS erwarben, wollten damit wohl sichtbar an einer neuen Zeit teilhaben und dies zeigen. Heutige Kunden hingegen, die sich einen allradgetriebenen Geländewagen oder ein sogenanntes SUV („Sports Utility Vehicle“) kaufen, wohnen mehrheitlich in der Stadt und kennen das schwer befahrbare Gelände oder das Landleben überhaupt eher nur vom Hörensagen. Mit dem rustikalen Auto verschaffen sie sich darum ein Gefühl von „offroad“, ohne jemals dort sein zu müssen. Hatte der Philosoph Alain am Beginn des 20. Jahrhunderts noch pointiert geschrieben: „Was einem Städter vor allem am Land gefällt, ist die Tatsache, daß er hinfährt; das Tun bildet die Grundlage des Begehrens“, so muss diese Formulierung für kulturkapitalistische Verhältnisse umgekehrt werden: Was dem SUV-Besitzer am Land gefällt, ist der Umstand, dass er nicht hinfährt. Das Nichttun bildet die Grundlage für die Erfüllung seines Begehrens. Das geländegängige Fahrzeug (und sei es auch nur eines, das nur so aussieht – zum Beispiel ein SUV ohne Allradantrieb) erspart ihm jeden Ausflug ins Gelände. Das Charakteristische am Kulturkapitalismus besteht, wie Mark Slouka hellsichtig bemerkt hat, darin, dass mit der Ware ein Stück Leben gekauft wird – und zwar mit dem Ziel, es nicht selbst leben zu müssen. Das SUV erledigt das für uns; es ist für uns ländlich-müßig; genauso ist der Apfel an unserer Stelle gesund, und der Turnschuh an unserer Stelle sportlich (schließlich werden Turnschuhe immer mehr von Leuten getragen, die immer weniger Sport betreiben). Mit anderen Worten: Kulturkapitalistische Waren sind Erlediger stellvertretenden Lebens; sie sind interpassive Medien.
Heilige Scheu
Warum aber wollen die Leute ihr Leben und ihre Genüsse nicht haben? Warum streben sie danach, sich gerade darin durch andere Agenten vertreten zu lassen? – Interpassivität hat, wie wir in der Untersuchung der Rituale erkennen mussten, mit dem Heiligen, und zwar dem „alltäglichen Heiligen“ (entsprechend dem Begriff von Michel Leiris [1938]) in der Kultur zu tun. Da das interpassive Handeln immer auf eine Ersparnis abzielt, müssen wir es als ein Verhalten zur Abwehr dieses Heiligen begreifen. Leute greifen folglich immer dann zu interpassiven Verhaltensweisen, wenn sie fürchten müssen, sonst zu sehr mit etwas Heiligem in Berührung zu kommen. Dies gilt auch für den Gebrauch der kulturkapitalistischen Freizeitgeräte, die zum Ersparen von Leben und Muße dienen: denn so wie das Leben gehörte auch der Müßiggang, wie Paul Lafargue sehr gut wusste, zu den heidnischen Heiligtümern.
Materielle Objekte dienen immer mehr lediglich als Requisiten für eine Erfahrung, für Teilhabe an einem bestimmten Lebensstil oder einer Überzeugung.
Diese Abwehrbewegung verrät die Spuren des ältesten, untrüglichsten Verhältnisses zum Heiligen in der Kultur: die heilige Scheu. Denn das Heilige ist alles andere als bekömmlich oder leicht verträglich. Es ist vielmehr ambivalent und wird genau darum, wie Sigmund Freud bemerkte, mit Worten bezeichnet, die zugleich „erhaben“ wie „schmutzig“ bedeuten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie verfehlt aktuelle Praktiken sind, die sich unentwegt bemühen, Leute „partizipativ“ mit bestimmten Dingen in Berührung zu bringen: wenn zum Beispiel die Nützlichkeit von – bezeichnenderweise nunmehr privatisierten, vollrechtsfähigen – Museen an der Zahl ihrer Besucher bemessen wird. Orte wie Museen erfüllen ihre Hauptfunktion doch nicht darin, dass sie besucht werden! Ihr größter Nutzen besteht vielmehr darin, dass man weiß, dass die Kunst in ihnen gut aufgehoben ist und man nicht ständig hinzugehen braucht, um sie anzusehen. Die Idee, solche Orte wären nutzlos, wenn nicht pausenlos ein menschliches Gesicht nach dem anderen vor einem Artefakt auftaucht, ist eine seltsame, kulturvergessene Idee. Sie entstammt einem gleichsam kindlichen Vertrauen in die unbegrenzte Bekömmlichkeit kultureller Objekte. Und sie verdankt sich der Blindheit dafür, auf welche Weise wir im Alltag Dinge wie zum Beispiel Geländewagen verwenden.
Befreiung durch Passivität
Die Bestrebungen nach verstärkter Partizipation versuchen, die Individuen, gegen deren offensichtliche Widerstände, zur Identifizierung mit den jeweiligen Kulturprozessen oder politischen Vorgängen zu bringen. Die Identifizierung der Individuen wird über deren gesteigerte Präsenz vor Ort sowie deren aktive Beteiligung herzustellen versucht. (Demgegenüber hat Jacques Rancière allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass es im Bereich des Ästhetischen oft nicht die Aktivität, sondern vielmehr die Passivität war, wodurch ausgebeutete Arbeiter sich befreien konnten.)
Da das interpassive Handeln immer auf eine Ersparnis abzielt, müssen wir es als ein Verhalten zur Abwehr dieses Heiligen begreifen.
Diese Tendenzen beruhen, wie es scheint, auf einem grundlegenden Missverständnis des platonischen Begriffs der Teilhabe (Methexis). Dieses Missverständnis setzt voraus, dass nur diejenigen, die bei einem Vorgang anwesend sind und aktiv zu ihm beitragen, auch etwas von diesem Vorgang haben. Jedoch, wie vom Kapital – gerade derzeit besonders augenscheinlich vom neoliberalen Kapital – zu lernen ist, sind diejenigen, die von einem Vorgang profitieren, keineswegs die Anwesenden und aktiv Mitarbeitenden. Viel eher sind die Profiteure jene unsichtbaren Abwesenden, die als stille Teilhaber der Sache fungieren. Teilhabe im Sinn von shareholding, und nicht im Sinn von Partizipation, ist darum die theoretisch korrekte Übersetzung des Begriffs der Methexis. Teilhabe dieser Art muss als das politische Ziel begriffen werden: Es besteht darin, eine Gesellschaft herzustellen, in der alle ihrer Angehörigen, einer Strategie der Interpassivität folgend, abwesend und desidentifiziert sein können, um von ihr zu profitieren.