Als Leser sollte man Jürgen Osterhammels monumentales Buch eigentlich ganz von hinten beginnen. Mit dem „Nachwort“, das auch eine Danksagung ist an all jene, die den Autor unterstützt haben – mit Rat und Tat und manchmal mit der Gabe, ihm Zeit zum Schreiben zu verschaffen. Dieses Nachwort sagt aber auch, was der Zeithistoriker Osterhammel nicht getan hat: Er hat niemanden zur Mitarbeit eingeladen und er hat bei keiner Forschungsinstitution um Projekthilfe angesucht. Ganz unzeitgemäß hat er als Einzelgänger, ja, fast als Eremit an seinem Buch Jahre hindurch gearbeitet. Herausgekommen ist Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, in 18 Kapiteln, die wieder unterteilt sind, auf 1.300 Seiten, plus 200 Seiten Anmerkungen, Literaturangaben und Registern. Das alles mag abschrecken. Doch der Geschichtsprofessor kann schreiben, unakademisch, für jedermann, der über das 19. Jahrhundert mehr – viel mehr! – wissen will. Und da er alles selbst geschrieben hat, ist das Ganze auch ein Wurf geworden, der durch seinen Facettenreichtum strahlt.
Schlägt man das Buch auf, so ist man verblüfft. Es beginnt nicht mit der Beschreibung der europäischen Großmächte oder mit der Kolonialpolitik. Es geht erst einmal um „Archive“, „Museen“, um die Macht der Statistik und um „Die Presse und ihre Freiheit“. – „Die Presse schuf überhaupt erst so etwas wie einen öffentlichen Raum.“ Diese Entwicklung war in ganz Europa und in Übersee natürlich durch all die liberalen Kräfte getragen, die ideell Pressefreiheit als bürgerliches Gut einforderten. Aber dass, mehr oder weniger, dann wirklich Pressefreiheit vorherrschte, verdankt sich einer technischen Innovation, die keine noch so konservative Gesinnung stoppen konnte – die Verkabelung der Welt durch den Telegraphen.
„1885 war Europa von nahezu allen großen Städten in Übersee per Kabel erreichbar. Der Telegraphenverkehr war viel zu schwerfällig, überlastungsgefährdet und teuer (1898 gab die Times 15 Prozent ihres Jahreserlöses für Telegraphengebühren aus), um schon als ein ,viktorianisches Internet‘ bezeichnet werden zu können, aber zumindest die Grundmuster eines world wide web waren gelegt.“
Das Beispiel Pressefreiheit und Telegraphenkommunikation zeigt schön, worauf Osterhammel immer wieder hinweist: Ideelle Vorstellungen und Ziele werden im 19. Jahrhundert dann Wirklichkeit, wenn ihnen eine unabhängige Erfindung oder Tat unter die Arme greift. So ist der Kolonialismus für den Autor eine durch den Staatswillen willkürliche und zum Teil brutale Machtdemonstration. Zugleich hatten die europäischen Kolonialmächte tatsächlich die ideelle Vorstellung, europäische Lebensart und Verhaltensnormen aufklärerisch zu exportieren. Man kann es auch so sagen: In keinem anderen Jahrhundert war Europa so sehr von seiner eigenen Stärke und vom eigenen Sendungsbewusstsein überzeugt wie im neunzehnten. Nur in einem Punkt übertrafen die Vereinigten Staaten von Amerika am Ende dieses Jahrhunderts Europa: die Reichen waren wesentlich reicher.
„An der obersten Spitze verfügten 1 Prozent der amerikanischen Familien über 40 Prozent des nationalen Eigentums. (…) Die Astors, Vanderbilts, Dukes oder Rockefellers stellten mit ihrem märchenhaften Reichtum die Europäer in den Schatten und gaben sich einem öffentlich inszenierten Luxuskonsum hin, der weltweit publiziert wurde.“
Beginnendes „Weltgefühl“: 1898 gab die Times 15 Prozent ihres Jahreserlöses für Telegraphengebühren aus.
Das ist ein weiteres großes Plus von Osterhammels Darstellung: Er geht zwar bei seinem historischen Rundgang durchs 19. Jahrhundert von Europa aus, aber zieht in seine Betrachtungen jederzeit die USA, Russland, die Kolonien, Großräume wie das Osmanische Reich, China und Indien, man muss eigentlich sagen, die Welt mit ein. Das alles hat nichts mit Megalomanie zu tun, sondern entspricht der geschichtlichen Wirklichkeit: Im 19. Jahrhundert wurde durch die neuen Kommunikationswege, durch Eroberungen und vor allem durch Kolonialiserung, durch internationalisierte Wirtschaftsbeziehungen, durch eine liberalere Gesetzgebung, die ein breiteres, am Weltgeschehen interessiertes Bürgertum entstehen ließ, und durch ein verbessertes Bildungssystem erstmals in der Geschichte so etwas wie ein „Weltgefühl“ am Horizont sichtbar. Die europäischen Weltmächte, das Britische Empire, Frankreich, Deutschland-Preußen, Österreich-Ungarn und zum Teil Russland ignorierten trotz zahlreicher Kleinkriege dieses neue „Weltgefühl“ keineswegs. Und trotzdem waren sie nicht in der Lage, dieses Weltgefühl in einen „Weltfrieden“ umzugießen.
„Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 war keineswegs unvermeidlich. Jedoch hätte es auf allen Seiten eines außergewöhnlichen Maßes an Staatskunst, militärischer Zurückhaltung und Zügelung nationaler Sentiments bedurft, um angesichts der sich aufbauenden Konfliktdynamik einen Zusammenstoß zumindest von einigen der europäischen Großmächte zu verhindern.“
Jürgen Osterhammel spricht das Britische Empire und Frankreich keineswegs frei von Mitschuld am tragischen Geschehen. Doch die Hauptakteure werden klar benannt: Das Deutsche Reich wurde nach dem Sieg im deutsch-französischen Krieg 1870/71 im Spiegelsaal von Versaille verkündet. Damit begann nicht nur die große Militarisierung Deutschlands, sondern auch die Mobilisierung eines Nationalgefühls, mit dem die Deutschen keinerlei Erfahrung hatten. Auf der anderen Seite stand Österreich-Ungarn. Für Osterhammel repräsentiert der Vielvölkerstaat eine geradezu hoch-liberale Gesinnung, denn in ihm wurden die einzelnen großen Volksgruppen wenig unterdrückt. Das Problem dabei: Österreich-Ungarn konnte zu keinem Zeitpunkt seines Bestehens nationale Gefühle und Patriotismus bei seinen Bewohnern erzeugen. Das Gebilde blieb schwammig, kleine und kleinst-nationale Bestrebungen zerrten an der Peripherie der Donaumonarchie. Die Verbindung zwischen dem Deutschen Reich mit seinem neuen und schwer kalkulierbaren Nationalbewusstsein und Österreich-Ungarn, das keinerlei Nationalgefühl entwickeln konnte, erzeugte bei den anderen europäischen Weltmächten kein „Weltgefühl“, sondern Ratlosigkeit. Was wiederum zum Erstarken des eigenen Nationalgefühls führte. So mündete das zarte „Weltgefühl“ des 19. Jahrhunderts in den Ersten Weltkrieg.
Jürgen Osterhammel spricht oft im Zusammenhang seines Buches von der „großen Erzählung“. Ist Die Verwandlung der Welt eine solche? Ja, aber das Buch erzählt von kleineren und größeren Begebenheiten und erst ihr Autor fügt diese zu einem großen Mosaik zusammen. Er tut dies ohne Willkür, sondern eher bescheiden als Chronist. Dass Osterhammel dabei weitgehend die reiche europäische Kunst und Kultur des 19. Jahrhunderts außer Acht lässt, ist schmerzlich, aber letztlich verschmerzbar. Denn an einschlägigen Darstellungen mangelt es nicht gerade und der Einbezug des kulturellen Terrains hätte Osterhammels Buch um weitere hunderte Seiten aufgebläht. So ist Die Verwandlung der Welt ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung, das seinesgleichen in den kommenden Jahren kaum finden wird.