Die Buchkultur als Wissensformat ist ein historisches Phänomen. Für die kulturelle Moderne ist Publizieren gleichbedeutend mit der Schaffung eines einheitlichen Bezugsrahmens, innerhalb dessen sich wissenschaftliche Informationen verarbeiten lassen. Seit dem 15. Jahrhundert bedingt das Druckwesen eine neue Grundlage für die Kommunikation innerhalb der gesellschaftlichen Funktionseliten. War vormals den handkopierten Texten und Bildern nicht zu trauen, so schafft die Konservierungskraft des Buchdrucks jene Gelehrtenrepublik, deren Informationsbestand einander unbekannte Menschen auf unpersönliche Weise miteinander verband. Beschreibt man die Geschichte der Druckerpresse mit solchen Worten, wie Elisabeth Eisenstein (The Printing Press as an Agent of Change, 1979) es tut, dann liegt jene technische Kulturrevoultion schon ganz in der Nähe zur heutigen, die seit gut vier Jahrzehnten mit elektronischen Mitteln der Vernetzung agiert.
Noch gut erinnerlich ist die Nonchalance, mit der Professoren in den 90er-Jahren das Internet als eine technische Spinnerei, als eine vorübergehende Sache abtaten. Dass die neue Technologie sich nicht von ungefähr entwickelt hat, sondern ein altes Programm erfüllt, ist ihnen nicht aufgefallen. Historische Ansätze, wie der des belgischen Gelehrten und Bibliotheksreformers Paul Otlet, blieben zu unbekannt, um auch nur ignoriert zu werden. Otlet hat Anfang des 20. Jahrhunderts ein hypermediales Dokumentationssystem realisiert, das durch Querverweise die Schwächen der Bibliothek als Wissenssystem zu überwinden versprach: „Kino, Phono, Radio, Tele: als Substitute für das Buch genommen, sind diese Instrumente in der Tat das neue Buch geworden, die Werke mit dem mächtigsten Wirkungsgrad zur Verbreitung des menschlichen Denkens.“ (Traité de Documentation. Le livre sur le livre, théorie et pratique, 1934)
Es war kein plakatives Bedrohungsszenario, das Otlet hier entwarf, im Gegenteil. Moderne Wissenssysteme sind auf die Möglichkeit zur Partizipation und auf den unproblematischen Zugang zu Inhalten angewiesen. Die Teletechnologien gehen darin weit über das Potenzial des Datenträgers Papier hinaus: Die Wissensorganisation folgt mehr und mehr der Logik von Datenbanken, nicht jener der gedruckten Monografie. Es sei nochmals betont, dass diese Einsicht nunmehr gut ein Jahrhundert alt ist. Inzwischen gibt es die Technologie, sodass an jedem Arbeitsplatz in die zitierten Bücher innerhalb weniger Augenblicke Einblick genommen werden kann. (http://books.google.de) Nur ist das erst ein kleiner Teil dessen, was Otlet sich erträumte und was heute auch möglich wäre.
Keine Frage, dass es zur Reproduktion kulturellen und wissenschaftlichen Wissens in nur mehr eingeschränkter Form des Buches bedarf. Keine Frage auch, dass die Verlagsproduktionen sich ausschließlich am Massenmarkt orientieren und dass einzig ihr Verwertungsinteresse den Markt bestimmt. Dieser Markt ist mit Titeln überschwemmt, an denen Lektoren mehr Anteil tragen als Autoren. Bei immer mehr Fachverlagen sind die Autoren zudem radikal auf die Rolle der Drittmittelzubringer reduziert worden. Ohne Zuschuss vom Autor keine Publikation, und fast jedes Wissenschaftsbuch schafft es nurmehr als direkt vom Autor dem Verlag bezahltes Projekt auf den Markt. Dies ist ein beliebtes Geschäftsmodell für Sachbuchverlage geworden.
Die Verlagslobby heult naturgemäß auf, wenn dieses lukrative Gefüge durch die neuen Medien gestört wird. Und viele Autoren, die an sich froh um ein wenig mehr Verbreitung sein müssten, heulen mit den Verlagen mit. Es geht dabei nicht um illegale „Downloads“ von Texten, wie in Analogie zur Klage der Musikindustrie behauptet wird. Wenn es so einfach wäre – der Agent des Bösen (Google) stellt ungefragt alle Texte online, und ein unverantwortliches Publikum kann einfach „downloaden“, statt in die Buchhandlung zu gehen, um teure Verlagsprodukte zu erwerben.
Die Wissensorganisation folgt mehr und mehr der Logik von Datenbanken, nicht jener der gedruckten Monografie. Es sei nochmals betont, dass diese Einsicht nunmehr gut ein Jahrhundert alt ist.
Autoren sind ohnehin zu unbezahlten Heimarbeitern mutiert. Sie erledigen freiwillig Lektorat, Schriftsatz und Layout für ihren Verleger. Es ist keine zynische Behauptung, dass vor allem die Wissenschaftsautoren für Verlage nur mehr als Rechnungsadressen existieren. Im Reigen des enormen Publikationsdrucks – Publish or perish! – sind Autoren gezwungen, das unredliche Spiel mitzumachen. Die verlegerische Gegenleistung besteht in der Produktion von zwei- bis dreihundert Büchern, wenn man die geleimten Papierstapel noch so nennen darf.
Rechtsfigur „Inhaltebesitzer“
So ist der wissenschaftliche Publikationszwang eine nahezu risikofreie Wertschöpfungsquelle für Verleger. Verlagsverträge beginnen mit einer „Rechtseinräumung“ und bestehen meist in einer umfassenden Rechteabtretung an den Verlag. Die wenigsten Autoren lukrieren etwas von den acht Prozent, die ihnen vom Nettoverkaufspreis eines Buches vertraglich zustehen. Vom Verwertungsrecht profitiert allein eine hier konstruierte Rechtsfigur, der „Inhaltebesitzer“, die unterm Deckmantel eines Schutzes der Urheberrechte am sogenannten geistigen Eigentum agiert.
Der Begriff des geistigen Eigentums ist in dieser Debatte der am stärksten missbrauchte. Reflexhaft dessen per Gesetzesverschärfung verlangten „Schutz“ zustimmend, meinen ahnungslose Autoren, ihr Eigeninteresse zu wahren. Doch es handelt sich wesentlich um eine Wahrung der Verlagsinteressen an ihrem hergebrachten Geschäftsmodell.
Die Verlage fürchten sich davor, mit den neuen Technologien ausgebootet zu werden: Was wäre, wenn diese Autoren und Publikum kurzschließen, und nur noch Google und Amazon als Direktvertriebspartner von den Leistungen der Autoren profitieren? Und was wäre, wenn die technisch unbedarften Schriftsteller und Sachbuchautoren dahinterkommen, dass dies nicht nur möglich ist, sondern auch lukrativ für sie sein könnte – weil sie mit jedem Klick an den Einnahmen des Online-Geschäfts beteiligt wären?
Doch es ist falsch, hier nur an die herkömmliche Publikationsform zu denken. Forschung ist auf Archive angewiesen, und hier spielen digitalisierte Bestände eine zunehmend wichtige Rolle. Mit den computerbasierten Techniken verändert sich die Struktur wissenschaftlichen Arbeitens. Tradierende und wissensbewahrende Aufgaben übernehmen die Datenbanken der Rechenzentren. Ein Vorteil dabei ist ihre allgemeine und jederzeitige Verfügbarkeit, während sie früher, in Form von teuren Büchern, meist unerreichbar in Professorenzimmern vor sich hin staubten. Das Auffinden und Überprüfen von Zitaten kanonischer Texte, häufig mit geisteswissenschaftlicher Ausbildung als solcher gleichgesetzt, bedienen gegenwärtig Online-Archive (wie www.textlog.de).
Einen Weg zurück gibt es nicht. Manche der Beteiligten haben das nicht begriffen, weil ihr Denken auf eine Zeit der kulturell konditionierten Wertschätzung bezogen bleibt, nach der man Brot immer aufzuessen hat und nach der Bücher das Gute schlechthin verkörpern. Zu bedenken gilt, dass die Form des Zugriffs auf digitale Inhalte – grafische Benutzeroberflächen – erst gut ein Jahrzehnt allgemein verfügbar ist. Wir sind gegenwärtig alle Zeugen der Entstehung einer neuen Gebrauchskultur.
Wer diese Kultur begreifen möchte, sollte nicht über technische und rechtliche Bedingungen nachdenken, sondern diese Kulturen selbst einer genaueren Beobachtung unterziehen. Die neuen Technologien haben ihren Wert ja nicht als solche, als technisch gebotene Möglichkeit, sondern gewinnen ihn erst aus entsprechenden Verwendungsformen. Die Dynamik, die sie verkörpern, ist mit der Piratenpartei bei den Europawahlen vergangenen Juni ins öffentliche Aufmerksamkeitsfeld gerückt. Es geht dabei nur oberflächlich um Downloadfreiheit. Was mit dem schwedischen Filesharing-Portal Pirate Bay begann, ist Symptom des Eigensinns einer Netzkultur, von dem eine ignorante Politik jetzt eingeholt wird – und gleichzeitig manifeste Kritik an der Vorstellung, der Weg in die Informationsgesellschaft bestehe ausschließlich in einer Stärkung der kulturindustriellen Verwertungsinteressen.
Denn die Informationsgesellschaft ist zum guten Teil auch eine Wissensgesellschaft, die genuin auf Öffentlichkeit beruht. Im Prinzip sagen dies schon Grundsatzerklärung und Aktionsprogramm des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft von 2003. Damit in der nationalen Umsetzung nicht unterschlagen wird, was der Industrie nicht nützt, formierten sich von den Medien weniger beachtete Initiativen zur anstehenden Anpassung des Urheberrechts, damit „die Potenziale der digitalen Medien und Kommunikationssysteme für die Allgemeinheit und hier insbesondere für die Wissenschaft offen nutzbar bleiben und nicht vorrangig zur privatwirtschaftlichen Vermarktung von Information restriktiv reguliert werden“. (Göttinger Erklärung 2004, www.urheberrechtsbuendnis.de)
Groteske Panikmache
Kann umgekehrt betrachtet jemandem, der mit Fördergeldern forscht, abverlangt werden, die mit öffentlichen Mitteln erzielten Ergebnisse auch öffentlich zur Verfügung zu stellen? Wem gehören diese Forschungsergebnisse? Die Frage dreht sich nicht um Forscher, die durch ihr Geschick oder einen Zufall zu Bestseller-Autoren werden. Sie dreht sich um die privatwirtschaftliche Aneignung öffentlicher Mittel, die mit der Bindung der Vergabe von Fördermitteln an eine Open-Access-Publikation eben nicht mehr funktionieren würde. (Open Access, http://www.open-access.net)
Die grotesk verzerrte Panikmache des Heidelberger Appells entlarvt seine Wortführer der Unkenntnis digitaler Medienkultur. Unterstützt von den Journalisten der konservativen Zeitungen tun sie so, als stünde eine Verstaatlichung des Publizierens unmittelbar bevor. Dahinter steckt wie gesagt ein elitäres Kulturmodell, das die Wertschöpfungskette von Verlegern, Druckereien, Vertrieb und Buchhandel stützt.
Dass vor allem die Wissenschaftsautoren für Verlage nur mehr als Rechnungsadressen existieren, ist keine zynische Behauptung.
Dabei geht es gar nicht um Buchpublikationen, da Digitaltechnologie den Zugriff auf jede Form von audio-visuellen Daten erlaubt. Das gewaltige Meer an Forschungsdaten, die laufend produziert werden, erfordert ein Umdenken von dem Prinzip, nach welchem nur eine monografische Publikation zu neuen Erkenntnissen führt. Die Wissenschaft pflegt längst einen anderen Umgang mit allen möglichen Formen von Forschungsdaten. So müssen beispielsweise zwecks Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis empirisch erhobene Daten aufbewahrt werden, um die veröffentlichten Resultate einer Studie überprüfbar zu halten. Einmal vorliegende Daten können auch einer Sekundärauswertung unterzogen werden, die auf anders geartete Erkenntnis zielt. All dies bedeutet, dass nach dem Prinzip Open Data eine neue Problemlage vorliegt, die mehr bedeutet als den Zugang zu textbasierten Dokumente, den Open Access gewährleistet sehen will. Verfahren und Formen des Datenzugriffs werden immer dann brisant, wenn übergeordnete Interessen ins Spiel kommen, wie es etwa bei der Verbreitung von Epidemien der Fall ist. Es ist darüber hinaus eine Web-basierte wissenschaftliche Forschung im Entstehen begriffen, deren Richtlinien eben erst diskutiert werden (www.sciencecommons.org). Der Konsens aber geht unweigerlich in die Richtung, dass Forschungsdaten aus geförderten Studien in die Public Domain gehören. Jeder kann (muss aber nicht) im Netz die eigenen Schutzrechte an einem bestimmten Inhalt aufgeben und diesen nach den Regeln des Fair use zur Verfügung stellen (siehe: de.creativecommons.org). Hier formieren sich neue Disributionsformen, neue Werke, und auch neue Geschäftsmodelle.
Im 19. Jahrhundert entstand auf Basis von Elektrizität die Telekommunikation, die Welt wurde kontinuierlich verkabelt, und die Datennetze wuchsen zu einer ungeahnten Medialität heran. (Frank Hartmann: Globale Medienkultur. Geschichte, Technik, Theorien, 2006) Es ist ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit zu verzeichnen, der eine nicht mehr hintergehbare kulturelle Nutzungsebene hervorgebracht hat. Die erleichterte Nutzung ist entscheidend, und eben darum sollte sich die politische Diskussion um Veränderungen zum Urheberrecht drehen: Erleichterung, nicht Restriktion. Was für Musik und Filme längst Praxis ist, wird auch die Bücher betreffen: Es geht um ihre unkomplizierte Verfügbarkeit und nicht um die Form des Datenträgers. Aus Paul Otlets Traum ist kulturelle Wirklichkeit geworden.
Die pathetischen Verteidiger von Prinzipien aus der Goethezeit (von wegen Persönlichkeitsrecht – die Werkherrschaft diente zur Versorgung der Musenwitwen und anderer „Inhaltebesitzer“), sie erinnern an die Klagen der Telegraphisten zum Ende des 19. Jahrhunderts, die ihren Berufsstand vom Telefon bedroht sahen. Damit könne ja jeder Beliebige in eine Leitung, was nur zum Chaos und logischerweise zum Zusammenbruch der Kommunikationen führe. Das könne nun wirklich niemand wollen, weshalb das Telefon sicher keine Zukunft habe. Wie gut, dass es letztlich nicht darum geht, was bestimmte Interessenvertreter wollen, sondern um den übergeordneten kulturellen Bedarf. Daran muss die Politik jedoch ab und zu erinnert werden.