Man müsste einmal eine kleine Geschichte der Philosophie entlang der Sätze schreiben, die von ihr übrig geblieben sind. An ihnen ließe sich ablesen, auf welche Weise ein Denkgebäude ins Gemeingut sickert, welche Banalisierung, Verdichtung oder Verfälschung eine Aufnahme in den Kanon nach sich zieht.
Nehmen wir als Beispiel einen besonders strengen und dichten Satz, ein wirkungsmächtiges Monument der Unerbittlichkeit, einen Satz, der, nähme man ihn beim Wort, jeden sofort im eigenen Leben betreffen müsste: Adornos „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Dass es diesem Satz in seinem ursprünglichen Kontext zu eng wird, ist nicht weiter verwunderlich. Derart falsch ist ihm zufolge das Leben, dass man die Falschheit gar nicht mehr begründen muss. Die mächtige rethorische Verknappung wird erkauft durch das selbstverständliche Voraussetzen von Falschheit, das dem Satz zu penetranter Anwendbarkeit verhilft. Mit dem falschen Leben können ja auch das Wohnzimmer der Schwiegermutter oder andere regional beschränkte Diktaturen verwitzelt werden. Sofern man aber davon ausgeht, dass das ganze Leben ein falsches ist, und bei Adorno liegt diese Vermutung nahe, dann scheint der Satz mit seiner klaren Logik fälschungssicher. Im gänzlich falschen Leben ist jede Nische, die diese Falschheit abzumildern oder zu negieren versucht, zum Scheitern verurteilt, ja, spielt dem Falschen zu, weil es scheinhaft eine Möglichkeit von richtigem Leben vorgaukelt, die es ja nicht geben kann, weil das Leben, so wie es gerade ist, gänzlich falsch ist. Mit diesem Satz ließe sich also durchaus ein Adorno-Einführungsseminar beginnen und eine erste Verständnis- oder Diskussionsschneise in Adornos Variante der kritischen Theorie schlagen – wenn er nicht als allzu leicht handhabbare Parole so schrecklich abgenutzt wäre.
Anfällig für Demagogie wird der Satz, weil der Status des Sprechers gänzlich unklar ist. Wo befindet sich denn das Fünkchen Richtigkeit, von dem aus dieser vermeintlich richtige Satz gesagt werden kann? Gerät dieser Satz nicht durch seine eigene Logik in einen Selbstzerstörungsstrudel, so als würde ein Thraker behaupten: Alle Thraker lügen? Ich, bedauerlicherweise Bewohner des falschen Lebens, nehme mir heraus, den richtigen Satz zu sagen, dass es nicht ein Fitzelchen Richtigkeit gibt, also doch eigentlich auch keine richtigen Sätze? Woher kommt also ein solcher Satz, aus welchem Denk- und Schreibprozess entsteht und begründet sich seine wuchtige Logik? Gab es ein Ringen um diese Dichte, um die Maßlosigkeit dieser Behauptung, oder stand der Satz immer schon so da? Blättert man im Adorno-Archiv in den immer wieder korrigierten Typoskripten der Minima Moralia, in denen dieser Satz seine Wohnstatt hat, dann stößt man tatsächlich irgendwann auf einen Vorläufersatz. Einen Satz, der durchgestrichen wurde und an dessen Stelle sich „Es gibt kein …“ gedrängt hat. Und man reibt sich die Augen. Dort steht doch tatsächlich: „Es läßt sich privat nicht mehr richtig leben.“1 Ja, darf das denn wahr sein? Partikularinteresse statt Gesellschaftsdiagnose? Nostalgische Klage statt Anklage? Muss das denn sein, muss sich auch hier wieder sofort die typische Adorno-Enttäuschung einschleichen, dass sich hinter dem so beeindruckend asketisch negativ gedachten, utopischen Zustand am Ende doch wieder nur ein längst vergangenes Konzept von bürgerlicher Privatheit verbirgt?
Sentenziöse Verknappung
Der Reihe nach. Meist verändern sich die in Stein gehauenen Sätze ja bereits unter Beibehaltung ihres Wortlauts, wenn man sie in ihrem ursprünglichen Kontext betrachtet. Im Fall von „Es gibt kein …“ hätten wohl die meisten auf die Minima Moralia getippt. Würde er sich in seiner sentenziösen Verknappung doch gut machen zwischen anderen zugespitzten einsamen Sätzen wie „Das Ganze ist das Unwahre“ oder „Zille haut dem Elend auf den Popo“. Aber wer hätte – von denen, dessen Nachttisch die Minima Moralia ziert, einmal abgesehen – den Satz in einem Abschnitt vermutet, in dem es tatsächlich um das private Leben geht? Der Abschnitt, der mit „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ endet, beginnt mit den Sätzen: „Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen“2.
„Livingroom groß genug für den Flügel“
Man kann nicht mehr wohnen? Als Horkheimer Anfang der 40er-Jahre versucht, den Schwerpunkt des emigrierten Instituts für Sozialforschung von New York nach Los Angeles zu verlagern und für Adorno bereits Wohnmöglichkeiten in Augenschein nimmt, teilt dieser seinem Freund brieflich einige Anhaltspunkte mit, „worauf es uns bei einem Häuschen besonders ankommt: 2 Schlafzimmer, Zugang zum Bad möglichst so, daß man nicht durch eines der Schlafzimmer hindurch muß; große Badewanne zum Ausstrecken; Livingroom groß genug für den Flügel (lieber eventuell keinen abgetrennten diningroom, aber nicht dinette in der Küche); Gasherd, nicht elektrisch; Küche nicht zu klein“3, und so weiter. Das ist doch eine einigermaßen klare Vorstellung davon, welche Ausmaße das richtige Leben im falschen zu haben hat. Aber das sind ja nur die Räumlichkeiten. Wenn man, um die Transportkosten im Zaum zu halten, Biedermeier-Garnitur, Kommode, Glasvitrine und ein paar Stühle in New York einlagert, kommen laut einer Aufstellung von Adornos Frau Gretel noch mit: Flügel, Esstisch, Bett, Großvaterstuhl, Kommode, Grammophon, Tischchen, 2 Rollschränkchen, Couch, Sekretär, Teppiche, Silber, Wäsche, Kleider, 2 Sessel, 2 Bauernstühle, diverse weitere Stühle.4 Adorno weiß, dass die Wohnung auch ein „social asset“ ist, und überhaupt ist er der Meinung, dass „der Schutz einer gewissen bürgerlichen Gediegenheit gar nicht ernst genug genommen werden kann“.5 1941 also sieht es durchaus noch nicht so aus, als würde sich privat nicht mehr richtig leben lassen.
Im Zimmer bleiben
„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Adorno hätte diesem – ebenfalls äußerst beliebten und viel zitierten – Satz Blaise Pascals vehement widersprochen. Das ganze Unglück kommt daher, dass es sich der Bürger in seinem Zimmer zu gemütlich macht. Das Unglück – aber auch die einzige Möglichkeit, diesem Unglück zu entkommen. In seinem ersten eigenständigen Buch nimmt sich Adorno den dänischen Philosophen Kierkegaard vor. Der Hauptgegenstand, anhand dessen Kierkegaard kritisiert und gerettet wird, ist das bürgerliche Interieur – ein süßer Alptraum von Plüsch und Wunderdekoration, eine „Fata Morgana verfallener Ornamente“6, eine Phantasmagorie einer Lebensfülle, die in Wirklichkeit längst abhanden gekommen ist. Der Privatier versammelt starre Waren in seinem Wohnraum und gaukelt sich deren Lebendigkeit vor. Am Ende aber ist die „Gewalt der Sachen“ stärker als das, was der Bürger mit ihnen erträumen wollte – niemand benutzt sie ungestraft für sein Privatpanoptikum, und so versammeln sie sich hinter seinem Rücken zu einem eigenen Tableau, aus dem der kritische Theoretiker die Wahrheit über den Privatmann und sein Interieur nur noch herauszulesen braucht.
Dieses private Leben ist zwar auch kein richtiges, aber es ist in der falschen, weil bloß noch warenförmigen Gesellschaft der einzige Statthalter eines am Ende dann doch vielleicht irgendwie richtigen. Am Ende wird Adorno Kierkegaard am tiefsten Punkt von dessen monströser Phantasiewelt, in der Unterwelt, zerspellen lassen, sodass sich die Dinge, befreit von ihrem Chefhalluzinator, endgültig zu ihrem vermeintlichen Wahrheitgehalt gruppieren lassen können. Im letzten Kapitel des Kierkegaard-Buches versammelt Adorno alle Gegenstände aus Kierkegaards Interieur zu den Grundmomenten seiner entstehenden kritischen Theorie. Auch deswegen kommt, wenn man an dem „richtig“ aus Adornos Satz lange genug herumwischt, „privat“ zum Vorschein.
Bürgerliche Innerlichkeit
Adornos Inszenierung des Kierkegaardschen Interieurs erscheint 1933. Danach ist Schluss mit den hinreißend materialreichen Beschwörungen bürgerlicher Innerlichkeit, um diese gegen sich selbst zu wenden. Der Monopolismus hat laut Adorno schon zuvor die „Sphäre der Zirkulation“ abgeschafft, in der die Existenz des Privatiers überhaupt noch möglich war. Das falsche Leben der universalen Vermittlung wird noch ein gehöriges Maß falscher. Und aus dem fröhlich selbst ernannten Beamten des „Fürsorgeamtes für Transzendental Obdachlose“7 (so der Absender eines von Adorno und Kracauer verfassten Briefes an Löwenthal) wird ein Chronist jener Hölle, in deren Traumbild er die Bürger damals gerne hinabgeleitet hat. Vom Traum „der Hölle, die bei Lebzeiten der Verzweifelte gleichwie ein Haus bewohnt“8, spricht das Kierkegaard-Buch – der Nationalsozialismus hat diese laut Adorno real gemacht: „Diese Hölle hat das späte Bürgertum selber eröffnet. In den Konzentrationslagern des Faschismus wurde die Demarkationslinie zwischen Leben und Tod getilgt. Sie schufen einen Zwischenzustand, lebende Skelette und Verwesende, Opfer, denen der Selbstmord mißrät, das Gelächter Satans über die Hoffnung auf Abschaffung des Todes.“9
Der Faschismus klaut Adorno sozusagen das Konzept. Die toten Dinge, die zu trügerischem Leben erweckt werden, sind jetzt die Menschen selbst und die Hölle ihre neue Wohnstätte. Das wars dann mit der schönen Interieur-Idee. Vor diesem Hintergrund wird der Satz „Es läßt sich privat nicht mehr richtig leben“ als Abschluss des Abschnitts über das Wohnen plötzlich schlüssig.
Lassen sich Sätze verbessern? Aber ja. Adorno versucht, sich selbst auszutricksen, in dem er eine Rohfassung diktiert, die seine Frau in Maschinschrift bringt und er als etwas fremd Gewordenes korrigieren kann. Und auch wenn etliche dieser fremden Sätze das Gefallen des Kritikers Adornos finden, so geben doch meist die handschriftlichen Korrekturen und Übermalungen der Typoskripte ein eindrucksvolles Bild dieses Umarbeitungsprozesses. Dann kommt es also irgendwann zum letzten Satz des so wichtigen, weil eine Zentralmetapher von Adornos Denken behandelnden Abschnittes. „Es läßt sich privat nicht mehr richtig leben“ ist ein guter Abschluss, ohne Zweifel. Monumentale Sätze hat der Abschnitt schon zuhauf entstehen lassen („es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein“, etc), man braucht also nicht unbedingt einen wuchtigen Schluss, der Satz erfüllt ideal die Funktion, zu den ersten Sätzen zurückzuleiten, indem er eine gezielte, aber vom Wohnen abführende dialektische Verwicklung übers Privateigentum zusammenfasst und das private Leben und dessen Unmöglichkeit wieder aufnimmt.
Und dennoch: ist in dem Rhythmus des Satzes nicht zu viel Betonung auf „privat“ und zu wenig auf „richtig“? Zwar hat Adorno das „sich“, ganz gegen seine Gewohnheit, an die richtige Stelle gesetzt, denn mit „Es läßt privat sich nicht mehr richtig leben“ wäre diese Betonung noch ausgeprägter (bekommt man dieses ärgerliche „sich“ nicht vielleicht ganz weg?). Dennoch, auch in der abgeschwächten Form klingt es so, als ließe sich durchaus noch richtig leben, nur eben privat nicht mehr – das führt ja in die völlig falsche Richtung. Und schwingt in „es lässt sich leben“ nicht auch in der Verneinung noch zu viel Gemütlichkeit, zu viel Badewanne, zu viel „hier lässt es sich leben“ mit? Das geht noch knapper, noch dichter, noch zwingender. Da geht noch was. Da ist noch was drin.
(Dank an Michael Schwarz vom Adorno-Archiv in Frankfurt für die freundliche Unterstützung).
1 Theodor W. Adorno Archiv, Ts 2208.
2 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Gesammelte Schriften, Band 4, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt/ Main 1997, S. 42.
3 Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Briefwechsel 1927–1969, Band II, Christoph Gödde u. Henri Lorenz (Hrsg.), Frankfurt/ Main 2004, S. 191.
4 ebd., S. 197 f.
5 ebd., S. 184.
6 Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Gesammelte Schriften, Band 2, Rolf Tiedemann (Hrsg.) Frankfurt/ Main 1997, Seite 65.
7 Leo Löwenthal: Wenn ich an Friedel denke …, in: Leo Löwenthal, Sigfried Kracauer, In steter Freundschaft, Briefwechsel, Peter-Erwin Jansen u. Christian Schmidt (Hrsg.), Springe 2003 S. 276.
8 Theodor W. Adorno, Kierkegaard, S. 69.
9 Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: Gesammelte Schriften, Band 10.1, Rolf Tiedemann (Hrsg.) Frankfurt/ Main 1997, S. 273.