Judentum und „amerikanische Erfahrung“

Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Anfänge der Antisemitismusforschung. Von Eva-Maria Ziege

Online seit: 10. Oktober 2019

Hannah Arendt und Theodor W. Adorno gehören zu den bekanntesten Philosophen des 20. Jahrhunderts (wobei Arendt sich dezidiert als Historikerin und Politische Theoretikerin, nicht als Philosophin verstanden wissen wollte), für die der Antisemitismus und der deutsche Völkermord an den europäischen Juden zentral für ihr Nachdenken über die Gesellschaft waren. Als Intellektuelle exponierten sie sich in den Medien und schreckten vor journalistischen Interventionen nicht zurück, die die scientific community wie die Öffentlichkeit – oft vorhersehbar – spalten sollten: Arendt vor allem in ihren im New Yorker erschienenen Artikeln, aus dem das Buch zum Eichmann-Prozess hervorging, und mit dem Kollaborationsvorwurf an die Judenräte, Adorno etwa im sogenannten Positivismusstreit, in dem „Positivismus“ als Affirmation und schlecht verschleierte Apologie des Bestehenden, ja als tendenzieller Kollaborateur des Faschismus verdächtigt werden konnte.1

Wenn es heute um Überlegungen zum Antisemitismus im 20. Jahrhundert geht, so sind Arendt und Adorno für diese zentral. Beide haben mit der „Banalität des Bösen“ beziehungsweise der These, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, (allzu) griffige Formeln geprägt, die zu Polemiken und Missverständnissen Anlass gaben und geben. Aus der gegenwärtigen Wahrnehmung dieser Intellektuellen darf jedoch nicht unhistorisch auf eine ebensolche in der Vergangenheit geschlossen werden. Ende der 1940er-Jahre waren Arendt wie Adorno jenseits des relativ autonomen Mikrokosmos europäisch-jüdischer Exilanten fast gänzlich unbekannt. Das sollte sich erst mit dem Erscheinen von The Authoritarian Personality 1950 und The Origins of Totalitarianism 1951 schlagartig ändern.2 So schrieb Paul Massing im März 1950 erfreut an Max Horkheimer, den Direktor des Instituts für Sozialforschung, dass The Authoritarian Personality schon Wochen nach Erscheinen vergriffen war, und Arendt im Mai 1951 selbstironisch an Karl Jaspers, für eine Woche sei sie zum Covergirl avanciert und habe sich auf allen Newsstands sehen müssen.

Von 1941 bis 1951 enstanden, vor allem in den USA, Texte in verschiedenen Disziplinen, die die klassische Grundlage der heutigen Antisemitismusforschung bilden. Arendt, die „Frankfurter Schule“ mit Adorno, Horkheimer und anderen Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung (IfS) wie Leo Löwenthal, aber auch Paul Massing oder A.R.L. Gurland (für die der Paradigma-Kern der Kritischen Theorie nicht substanziell war), ebenso wie Talcott Parsons, Ernst Simmel, Jacques Maritain, Jean-Paul Sartre und viele andere, heute zu Unrecht Vergessene wie Eugene Hartley, Carey McWilliams oder Koppel S. Pinson haben zu diesen Grundlagen beigetragen. Die Antisemitismusforschung entstand in der Ära des eliminatorischen Antisemitismus und der durch den zeitgeschichtlichen Einschnitt des Jahres 1945 gekennzeichneten Dekade, mit dem die Ideologie des Nationalsozialismus und ihr antisemitischer Kern mit einem Schlag hinfällig wurde und die Ära eines sogenannten „sekundären Antisemitismus“ (Werner Bergmann) begann.

Arendt zählte auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu den unpolitischen Positivisten.

Die Leitwissenschaften des neuen Forschungsfeldes hießen Philosophie, Soziologie und Sozialpsychologie. Geschrieben wurden die es profilierenden Texte angesichts der Ereignisse in Europa und den USA – oft von Flüchtlingen, Exilanten, Widerstandskämpfern, die von der Verfolgung direkt betroffen waren und in den USA auf eine einzigartige Konstellation trafen: eine sozialphilosophisch ambitionierte Sozialforschung in einer Phase der methodischen Innovation und eine kognitive Nachfrage im politischen Feld angesichts des Völkermords in Europa, aber auch der Eskalation des Antisemitismus in Nordamerika.3

Die Texte dieser Zeit sind im Luhmann’schen Sinne ‚klassisch‘ zu nennen. Sie stellen einen Aussagenzusammenhang her, der als Problemstellung kontinuierbar ist und stetig kontinuiert wird. Sie zeigen, was zu leisten wäre, ohne dass die Antisemitismusforschung sich heute noch derselben Methoden bedienen könnte. Heute ist weder die Philosophie noch die Soziologie die Leitwissenschaft der Antisemitismusforschung, sondern die Geschichtswissenschaft. Die Entkoppelung von Soziologie und Antisemitismusforschung hat aber zu einem Methoden- und Theoriedefizit in der Antisemitismusforschung geführt; nach der Kritischen Theorie kam die theoretische Entwicklung der Antisemitismusforschung fast völlig zum Erliegen, so das überraschend übereinstimmende Fazit bekannter Soziologen und Historiker wie Klaus Holz, Werner Bergmann oder Reinhard Rürup.4 Seit der zweiten Intifada 2001 und der Eskalation von islamis-tischer Gewalt in und jenseits von Europa und der Diskussion um einen „neuen“ Antisemitismus hat ihr Fazit nicht an Aktualität verloren.

Arendt wie Adorno wurden in den 1950er-Jahren allerdings nicht primär im Kontext der Antisemitismusforschung rezipiert. So stand in der Rezeption von Arendts Totalitarismusbuch der Systemvergleich von Nationalsozialismus und Sowjetunion im Kontext des Kalten Krieges und seiner Totalitarismustheorie im Vordergrund. Dieser geriet mit dem Antikolonialismus in der Linken der 1970er-Jahre und der dann aufkommenden Rezeption des Imperialismuskapitels nunmehr allmählich in Vergessenheit. Erst danach wurde das Antisemitismuskapitel zunehmend beachtet. The Authoritarian Personality wiederum wurde im Rahmen der sozialpsychologischen Forschung Grundlage eines mehr als 20–30jährigen Innovationsschubs der allgemeinen Vorurteilsforschung, die die Teile des Buches, die sich explizit mit dem Antisemitismus befassten (von Adorno und Daniel J. Levinson), aber eher vernachlässigt hat. Die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno wurde schon dadurch, dass das Buch 1947 in dem abgelegenen Amsterdamer Querido-Verlag in kleiner Auflage auf Deutsch erschien, in den USA bis in die 1970er-Jahre kaum wahrgenommen. Jahrzehntelang (und auch heute noch) wurde und wird der Text weithin ohne die Elemente des Antisemitismus rezipiert und interpretiert. In seiner ersten langen Rezeptionsphase wurde das Buch ohnehin in einen ganz anderen Spezialdiskurs gerückt, den der klassischen Metaphysik. Die Studentenbewegung, die es als marxistische Schlüsselinterpretation benutzte, überging seit 1968 umgekehrt die philosophische Konstruktion des Ganzen. Anders als heute vermutet werden könnte, wurden in dieser Rezeption die Elemente des Antisemitismus keineswegs besonders berücksichtigt, ihr bevorzugter Gegenstand waren vielmehr die Überlegungen zur Kulturindustrie. Erst danach ist eine – dann stetig anwachsende – Konjunktur der Antisemitismusanalysen in Arendts und Adornos Texten zu beobachten.

I. Wissenschaftliche Friedensstäbe

1941 war für Hannah Arendt eine der wichtigsten Fragen die Forderung nach einer jüdischen Armee:

„Während dieses Krieges gibt es für uns nur einen einzigen Programmpunkt, den wir bei Strafe des Scheiterns aller jüdischen Politik durchsetzen müssen; dieser Programmpunkt heißt gleichberechtigte Beteiligung am Kriege, heißt Jüdische Armee.“5

In der Tat wurde die Frage, ob Juden als Juden kämpfen sollten – als englische oder amerikanische Juden in den jeweiligen Streitkräften oder jüdische Einheiten im Rahmen der britischen Militärhoheit zur Verteidigung Palästinas – ab 1939 und dann während des gesamten Krieges diskutiert. Arendt sollte ihre Forderung nach einer jüdischen Armee in der US-amerikanischen Emigrantenzeitschrift Aufbau während der Kriegsjahre immer wieder erheben, auch als sie in der Folge als Zionistin den Zionismus kritisierte. In ihren Artikeln finden wir Schlüsselthemen ihrer späteren großen Schriften: die Aporien der Menschenrechte, Flucht, Vertreibung, Staatenlosigkeit und Völkerrecht, und: das Recht, Rechte zu haben, das Wählen des Wählens und die Fähigkeit zu handeln.

Arendt vertrat konsequent den Standpunkt, die Juden würden als Volk angegriffen und müssten sich also als Volk verteidigen. Der Kampf der Anti-Hitler-Koalition der Alliierten werde ohne jüdische Mobilmachung unvollständig bleiben. Diese sah sie als entscheidend für den Nachkriegszionismus und die Anerkennung der Juden als Volk sowie die ‚Chance der nationalen Emanzipation‘ an: Nur wer gekämpft habe, werde hinterher am Verhandlungstisch sitzen. Arendt ging es um einen völkerrechtsfähigen Begriff des Judentums. Schon im April 1942 hatte sie aber erkannt, dass die Sache der jüdischen Armee scheitern würde. Im Aufbau schrieb sie sarkastisch:

„Während wir […] darauf vorbereitet werden, daß die Forderung einer jüdischen Armee auf dem Papier bleibt, sind uns zum Troste vier Institute damit beschäftigt, uns mit aller nur möglichen wissenschaftlichen Gründlichkeit auf den Frieden vorzubereiten: das Institute of Jewish Affairs (das dem American Jewish Congress angeschlossen ist) und die Institute des American Jewish Committee, des Jewish Labor Committee und der Agudath Jisroel. Um die Chance voll auszunützen, bei identischen Themen und ‚neutralster‘ Behandlung zu den divergierendsten Resultaten zu kommen, arbeiten diese vier Friedensstäbe in völliger Isolierung voneinander. Da vor allem die beiden erstgenannten Institutionen es verstanden haben, sich die Mitarbeit namhafter jüdischer Gelehrter zu sichern, kann es natürlich nicht ausbleiben, daß einige wertvolle Materialsammlungen und Publikationen erscheinen.“6

Von 1941 bis 1951 entstanden, vor allem in den USA, Texte in verschiedenen Disziplinen, die die klassische Grundlage der heutigen Antisemitismusforschung bilden.

Gelehrte seien merkwürdige Leute, schrieb Arendt, und gerade in letzter Zeit habe man die traurigsten Erfahrungen mit ihnen gemacht. Der „Herrschaft des Positivismus“ erlegen, seien sie unpolitisch geworden. Vor lauter Richtigkeiten hätten sie vergessen, was „Wahrheit“ sei, und sich damit von der Sache der Freiheit und Gerechtigkeit getrennt. Sie reichten jedem politischen System eine helfende Hand. „Unpolitisch“ würden die Juden somit auch auf den Frieden vorbereitet. Aus dem „Volk des Buches“ drohe ein „Volk des Papiers“ zu werden, denn solange die jüdische Armee nur auf dem Papier stünde, wären selbst die besten Materialien der Welt nur angehäuftes totes Papier.

Arendt zählte auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu den unpolitischen Positivisten, die wichtigsten Exponenten der Kritischen Theorie. Für Arendt erforderte die Zeit politisches Handeln, nicht akademisches Forschen. Freilich trug sie selbst nach 1945 erheblich zu der Anhäufung von Papier bei, die bis heute die Grundlagen der internationalen Antisemitismusforschung bildet. 1931 aber war sie, wie Karl Jaspers es formulierte, in eine antiakademische Stimmung geraten.7

II. Im luftleeren Raum?

Antisemitismus in den USA sei gleichsam ein „consensus omnium“, schrieb Arendt im Januar 1946 an Jaspers, mit dem sie gerade wieder Briefkontakt aufgenommen hatte. Am Institut für Sozialforschung sprach man von einem „cultural pattern“, einem kulturellen Muster des gesellschaftlichen Antisemitismus in den USA, in Anlehnung an die amerikanische Kulturanthropologin Ruth Benedict. Im April 1943 etwa schrieb Henryk Grossmann an Horkheimer, es werde ihn interessieren zu wissen, „daß in [den] letzten Monaten hier in N[ew] York State, in N.Y. etc. Millionen von antisemitischen Flugblättern (à la Hitler) in allen Fabriken der Kriegsindustrie wiederholt an die Arbeiter, Frauen, Jugend, verteilt wurden. Die Behörden – und das gibt zu denken – schauen untätig zu; die F.B.I. ist nicht eingeschritten, niemand wurde verhaftet, das Dies-Committee [„Committee on Un-American Acitivities“ des US-Kongresses, E.-M.Z.] schweigt darüber. Aus dem beigefügten Zeitungsausschnitt ersehen Sie, wie weit die antisemitische Propaganda eingedrungen ist. Unter diesen Umständen ist meine tiefe Überzeugung, daß jetzt keine Zeit für theoretische Studien über den Antisemitismus ist. Es ist die Zeit für rasche politische Aktion der Juden. Wir sind genügend informiert, welche Motive der faschistischen antisemitischen Agitation zugrunde liegen. Man muß und man kann handeln. Werden die Juden das nicht tun, so werden alle theoretischen Projekte nichts helfen (auch wenn sie die denkbar besten sind) und die Juden werden manche schlimme Erfahrung zu erwarten haben.“8

Antisemitismus in den Vereinigten Staaten war ein Teil der „amerikanischen Erfahrung“ der aus Europa Verjagten. Zu der „amerikanischen Erfahrung“ gehörte neben dem Antisemitismus aber auch die Erfahrung der Gleichgültigkeit der Aufnahmeländer angesichts der Verbrechen gegen die Juden in Europa. Die schätzungsweise 200.000 jüdischen Flüchtlinge, die von 1933–1941 Europa verlassen mussten, kamen als sogenannte Einwanderer und nicht als Flüchtlinge in die USA. Erst in Folge des Zweiten Weltkriegs, von Verfolgung und Vertreibung, wurde der Begriff Flüchtling völkerrechtlich fixiert. Mit der relativ geringen Aufnahmezahl blieben die USA – mit ohnehin seit den 1920er-Jahren osteuropäische Juden diskriminierenden und insgesamt hochrestriktiven Einwanderungsgesetzen – weit unter den Möglichkeiten ihrer offiziellen Quoten.

Der Anteil Mittelschichtsangehöriger und insbesondere der der Akademiker und Künstler an diesem Exodus war indes überproportional hoch – eine sichtbare Minderheit mit hohem kulturellem und sozialem Kapital, die das außergewöhnliche Elitenphänomen einer berühmt gewordenen „intellectual migration“ darstellt.9 Trotz der starken akademischen Diskriminierung amerikanischer Juden wurden jüdische Exilanten an Universitäten, Colleges und Forschungsinstituten in signifikanter Zahl aufgenommen, nicht zuletzt durch das dichte Netz nichtstaatlicher Hilfsorganisationen, die nach 1933 aktiv wurden, so das American Jewish Committee, die Anti-Defamation-League, der American Jewish Congress und das Jewish Labor Committee, um einige der Organisationen aufzugreifen, die Arendt in der eingangs zitierten Passage nannte. Zugleich gab es im akademischen Feld lang etablierte Mechanismen zur Aufnahme von Wissenschaftlern aus anderen Ländern, die sich in der Notlage zu ihren Gunsten auswirkten.

Universitäre Institutionen und Hilfsorganisationen wurden zu Anlaufstellen für die ankommenden Europäer, die Geld, Arbeit, Unterkünfte und andere existenzielle Hilfe brauchten. Angesichts der Judenverfolgung in Europa und des Antisemitismus in den USA reagierten diese Organisationen aber auch mit ambitionierten Programmen zur wissenschaftlichen Erforschung des Antisemitismus: Ihre Programme haben, weit über das Jahr 1945 hinaus, die sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung angeschoben. Zugleich verschafften sie den mit hohem wissenschaftlichem, aber fast immer ohne ökonomisches Kapital aus Europa Verjagten Arbeit und Zugang zu einem durch Lobbyismus, Netzwerkbildung, Finanzierung und Eigeninitiativen heteronomen Einflüssen unterworfenen Teil des akademischen Feldes.

Die Arbeiten von Arendt und Adorno entstanden also nicht im luftleeren Raum. Durch jene sahen sie sich mit einem höchst heterogenen Spektrum des amerikanischen Judentums konfrontiert. Innerhalb eines hochgradig ausdifferenzierten Binnenraums von Interessenverbänden, Abwehrorganisationen, Netzwerken, Publikationsorganen, philanthropischen Einrichtungen und in Anbindung an Parteien, christliche Kirchen, nichtjüdische Bildungseinrichtungen sowie Gewerkschaften entfalteten jüdische Akteure eine Vielzahl von Aktivitäten im kulturellen, politischen, wissenschaftlichen und religiösen Feld.

Hier fanden sich alle Varianten des Zionismus wie des Diasporagedankens, des Strebens nach Assimilation im Sinne einer bedingungslosen Amerikanisierung versus der Gegnerschaft zur Assimilationsidee, die Kritik an der Idee des „melting pot“ versus einer distinkten Jüdischkeit. Das Jewish Labor Committee (JLC) und das American Jewish Commmittee (AJC) agierten an entgegengesetzten Polen dieses jüdischen Spektrums und der politischen Interessenvertretung von Juden in den USA. Das von der Gewerkschaftsbewegung getragene Jewish Labor Committee arbeitete weitgehend mit dem American Jewish Congress für den Wirtschaftsboykott der NS-Diktatur, für öffentlichen Protest und während des Krieges für eine offensive Berichterstattung über die deutschen Verbrechen und den Völkermord sowie die aktive Unterstützung des illegalen Widerstands. Auf der anderen Seite standen konservative Verbände wie das American Jewish Committee im Bündnis mit B’nai Brith und der Anti-Defamation League, die Zurückhaltung und stille Diplomatie favorisierten, weil ihrer Einschätzung nach zu viel Öffentlichkeit den amerikanischen Antisemitismus zu verschlimmern und der jüdischen Integration zu schaden drohte. Auf dieser Basis lehnten sie in den 1930er-Jahren den Boykott deutscher Exportgüter ab und verfolgten eine Politik des Appeasement. Selbst nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 und der Reichspogromnacht im Deutschen Reich zögerten sie, die Aufhebung der Einwanderungsquoten für Juden zu fordern. Das AJC argumentierte konsequent: Universalinteresse trägt das (jüdische) Partikularinteresse. Seine Position bestimmte sich durch das Streben nach Akkulturation und beruhte auf dem Diktum Woodrow Wilsons: „America does not consist of groups“.

III. Heteronome Wissenschaft

Solche politischen Kämpfe hatte Arendt schon durchlebt, als sie Mitte der 1930er-Jahre in Paris für eine Angehörige der Familie Rothschild arbeitete. Die Rothschilds waren die maßgebliche Kraft hinter dem Consistoire de Paris, der bedeutendsten religiösen Vereinigung der Pariser Juden, die für Defensivstrategien, politische Zurückhaltung und stille Honoratiorendiplomatie eintrat und all die Aktionen ablehnte, die Arendt unterstützte: Güterboykott, Bemühungen der Ligue Internationale contre l’Antisemitisme, den Antisemitismus in Deutschland weltöffentlich zu machen, und Großdemonstrationen. Arendt stufte die Politik des Consistoire mit ihrer später berühmt gewordenen Unterscheidung von Paria und Parvenü als die von Parvenüs ein – Assimilation als  Selbstverleugnung, mit der sich die Juden an den Antisemitismus assimilierten.

Die Kritik des IfS an der als Defensivstrategie verstandenen Linie des American Jewish Committtee kam der Kritik Arendts am Consistoire sehr nahe. Auch am IfS beruhte sie auf europäischen Erfahrungen. Rückblickend sagte Löwenthal 1989,

„Im Grunde genommen ist der Central-Verein [Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens] von derselben Ideologie getragen gewesen wie das ‚American Jewish Committee’ in New York, die Gesellschaft westlicher Juden, […] die geglaubt haben, das geht schon alles sehr gut, man müsse sich nur völlig integrieren – am besten unterstützt man Toleranz, und dann wird das schon vorbeigehen.“10

In einem der ersten großen unpublizierten Forschungsberichte des IfS von 1944 hieß es, dem Central-Verein habe in der Weimarer Republik die richtige politische Verhaltensweise gefehlt, aus Furcht, sich offen als jüdische Gruppe zu präsentieren. Seine Strategie hätte darauf gezielt, antisemitische Vorurteile zu widerlegen und Juden gegen Anschuldigungen zu verteidigen, statt offensiv zu handeln: „It systematically engaged in all kinds of protective coloration“ durch „self-abnegation“, „self-repudiation“ und „lack of fighting courage“.11 Genauso negativ bewertete man im IfS dementsprechend die Defensivstrategie des AJC in den USA.

Zwischen den ungestillten Bedürfnissen der Ohnmächtigen und den unstillbaren Bedürfnissen der Mächtigen, heißt es in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno, besteht eine prästabilisierte Harmonie. Der jüdische Appell an die Ideen von Gleichheit, Freiheit, Menschlichkeit habe nicht wahrhaben wollen, dass jene bloßer Überbau für die Partikularinteressen der Bourgeoisie waren. Eine der großen Illusionen der Juden war der Glaube, „der Antisemitismus erst entstelle die Ordnung, die doch in Wahrheit ohne die Entstellung der Menschen nicht leben kann.“12 Die Juden wurden konstituierender Bestandteil ihres eigenen Problems. In Antizipation des gegen sie gerichteten Partikularismusverdachts spielten sie – ohnehin Ohnmächtige – ihre Interessen herunter, ja blendeten sie aus: Assimilation als Gefahr für die Weiterexistenz eines Judentums, das sich letztlich selbst zum Verschwinden bringt:

„Die dialektische Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft, das Doppelverhältnis des Fortschritts zu Grausamkeit und Befreiung, das die Juden bei den großen Aufklärern wie den demokratischen Volksbewegungen zu fühlen bekamen, zeigt sich auch im Wesen der Assimilierten selbst.“13

Angesichts der Haltung Arendts wie der des IfS kann es paradox erscheinen, dass gerade die von ihnen kritisierten jüdischen Organisationen zu den Trägern der systematischen Antisemitismusforschung wurden, die überwiegend von Juden betrieben wurde. Die Antisemitismusstudien, die das IfS durchführte, entstanden in Kooperation mit dem American Jewish Committee und dem Jewish Labor Committee. Für Ersteres leitete Horkheimer seit 1945 die Research Abteilung in New York, und aus dieser Kooperation entstanden die Studies in Prejudice (1949–1950) einschließlich The Authoritarian Personality.

1941 war für Hannah Arendt eine der wichtigsten Fragen die Forderung nach einer jüdischen Armee.

Mit dem Jewish Labor Committee erarbeitete das IfS aus dem aktuellen politischen Anlass der Race Riots von 1943 den bis heute unveröffentlichten Forschungsbericht Antisemitism among American Labor (1945), die erste empirische Studie über Antisemitismus in den USA überhaupt. Diese Laborstudy entstand mit dem jüdischen Sozialphilosophen Horace M. Kallen als Berater.14 Kallen war ein Schüler von William James und ist als Sozialphilosoph der Cambridge School of Pragmatism zuzuordnen. Im Feld der jüdischen Aktivisten stellte er eine Sonderfigur dar, die dem Profil des Jewish Labor Committees zutiefst entsprach. Die Idee des „melting pot“ bestritt er zugunsten der Idee eines „kulturellen Pluralismus“ und des Rechts jeder ethnischen Gruppe auf Entfaltung ihrer Eigenständigkeit gegen die Assimilationsidee – dies war vielleicht nicht so weit entfernt von Arendts Formel in ihrer Rede zu ihrer Auszeichnung durch den Sonning-Preis 1975: „citizenship without assimilation“, Staatsbürgerschaft ohne Assimilation.

Adorno und Horkheimer vollbrachten einen äußerst schwierigen Spagat zwischen zwei fast immer an entgegengesetzten Polen des jüdischen Spektrums agierenden Gruppierungen, von denen beiden sie gleichermaßen differierten, mit denen beiden sie sich aber darin einig wussten, dass das Ziel nicht nur in der Analyse von Vorurteilen bestand, sondern ihrer Bekämpfung dienen sollte.

Hannah Arendt war nach wie vor in die politische Arbeit involviert. Sie arbeitete seit 1944 als Research Director für die Conference on Jewish Relations (später Conference on Jewish Social Studies). Auch diese war im April 1933, unter anderem von Salo W. Baron, expressis verbis mit dem Ziel initiiert worden, Daten über „die Stellung des Juden in der modernen Welt vorzulegen“, um der NS-Propaganda entgegenzuwirken. In den frühen 1940er-Jahren gründete die Conference die Commission on Jewish Cultural Reconstruction, deren Forschungsarbeit Hannah Arendt leitete und für die sie in minutiöser Kleinarbeit gestohlenes jüdisches Kulturgut in Europa ortete, um es nach 1946 an die Besitzer und jüdische Einrichtungen zurückzuführen, soweit diese noch existierten. Diese Forschungsarbeit war für Arendt eine der ersten Einsichten in die später ‚polykratisch‘ genannte Ämterstruktur des Nationalsozialismus. Die im Rahmen dieser Arbeit erstellten Listen bereiteten die Rettung, Rückgabe und Verteilung von 1,5 Millionen Bänden Hebraica und Judaica sowie Kunstgegenständen der Jewish Cultural Reconstruction vor, deren Geschäftsführerin Arendt von 1948 bis 1952 war. Für diese reiste sie 1949/50 nach Europa, um die großangelegte Operation zu leiten. Erkenntnisse zur Multiplikation von Institutionen und Kompetenzchaos im Nationalsozialismus sollten The Origins of Totalitarianism fundieren (gerade die Polykratiethese stand dann in einem gewissen Sinn im Widerspruch zu ihrer Totalitarismustheorie).

In diesen Jahren entfaltete sich ein sich intensivierender Forschungszusammenhang, der weit über Arendt und Adorno hinausging und der durch die Kooperation von exilierten Europäern und jüdischen Amerikanern sowie durch Interdisziplinarität charakterisiert war. Bemerkenswert ist die große Offenheit für die Freud’sche Psychoanalyse. Es ging um die Entwicklung kritischer, wissenschaftlich plausibler Theorien, um die Anwendung dieser Theorien in der praktischen Aufklärungsarbeit und um die Auslösung von Reflexionsprozessen in genau definierten Zielgruppen – um angemessene Strategien, taktische Fragen und den politischen Kampf.15 Drei große transdisziplinäre Sammelbände der Dekade dokumentieren dieses Bestreben: Jews in a Gentile World (1942), herausgegeben von Isacque Graeber und Stuart H. Britt; Essays on Antisemitism (1942/46), herausgegeben von Koppel S. Pinson; und Anti-Semitism. A Social Disease (1946), herausgegeben von dem exilierten Psychoanalytiker Ernst Simmel.16

Zusätzlich wurden zahlreiche Einzelstudien publiziert, vor allem in der Theologie, Antiken- und Mittelalterforschung. An soziologischen Untersuchungen jenseits des Instituts für Sozialforschung sind hervorhebenswert Eugene L. Hartleys Problems in Prejudice (1946), von der Conference on Jewish Relations mitfinanziert, Beiträge von Talcott Parsons und Everett V. Stonequist. Die großen philosophischen Beschreibungen des Antisemitismus stammten weder von Arendt noch Adorno, sondern von zwei Franzosen, die aus verschiedenen Gründen in den 1940er-Jahren in Nordamerika sehr prominent wahrgenommen wurden: Jacques Maritain und Jean-Paul Sartre.17

1945 schloß das Institut für Sozialforschung seinen unpubliziert gebliebenen Forschungsbericht Antisemitism among American Labor ab, der in Gewerkschaftskreisen und dem Jewish Labor Committee sowie unter Multiplikatoren der „community relations“ zirkulierte. 1949 und 1950 schließlich erschienen die fünf Bände der Reihe Studies in Prejudice, herausgegeben vom American Jewish Committee und dem IfS, von denen der dritte Band, The Authoritarian Personality, ein Kooperationsprojekt des Instituts für Sozialforschung und einer Forschungsgruppe um den in Berkeley lehrenden R. Nevitt Sanford, der erfolgreichste wurde. Im folgenden Jahr kam Arendts The Origins of Totalitarianism heraus, ein Buch, das wesentlich auf zahlreichen Artikeln beruht, die sie im Lauf der 1940er-Jahre für Zeitschriften wie Partisan Review, Nation, Dissent und Commentary schrieb.

Die seit den 1970er-Jahren dominierende Disziplin der Antisemitismusforschung, die Geschichtswissenschaft, war verglichen mit heute überraschend schwach vertreten. Nur ein Buch der Studies in Prejudice, Paul Massings Rehearsal for Destruction (1949), hatte mit dem Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich überhaupt einen historischen Gegenstand.18 Die von Pinson edierten Essays on Antisemitism der Conference of Jewish Relations konzentrierten sich auf historisch vergleichende Darstellungen, doch gerade das wurde in Commentary in einer Rezension des bekannten Vorurteilsforschers Arnold Rose im Sommer 1947 entschieden kritisch bewertet.

Dass in der Emergenz dieses Forschungsfeldes aber etwas wirklich Neues entstand, hatte Nathan Glazer in Commentary schon 1946 hervorgehoben: Nicht nur eine „intellektuelle Strömung” sei der Grund für das starke Interesse der Forschung, sondern auch die Tatsache, dass die großen jüdischen Organisation zur Abwehr des Antisemitismus und zahlreiche „community relations groups“ ihre Forschung gezielt antrieben und finanzierten.

Trotz der eingangs zitierten Sätze Arendts, aus denen tiefe Ambivalenz gegenüber einer ‚dienstfertigen Wissenschaft‘ spricht, die politisch-ökonomischen Wünschen Folge leistet, wurden Adorno und letztlich auch Arendt Teil dieses Forschungsfeldes, des ‚Betriebs‘. Und die großen jüdischen Interessenverbände betrieben, wie der Name schon sagt, in der Tat kein interessefreies Mäzenatentum. Die Antisemitismusforschung war den heteronomen Einflüssen der jüdischen Interessenverbände und ihren politischen und ideologischen Kämpfen unterworfen. Argumentiert man mit Pierre Bourdieus Thesen in Vom Gebrauch der Wissenschaft (1998), dann bedeutet die „Politisierung“ eines wissenschaftlichen Fachs nicht mehr, sondern weniger Autonomie – in dem Sinn, dass interessengeleitete Wissenschaft sich als solche definiert, aber in diesem spezifischen Fall zugleich die jüdischen Exilanten aus Europa zwang, sich als Juden zu Juden zu positionieren. Aber: zu welchen Juden? Die Vorstellung vom amerikanischen Judentum als durch grundlegende Interessen und Meinungen geeint ist ja auch nur eine imaginäre Konstruktion. ‚Das‘ amerikanische Judentum war letztlich nicht mehr als eine „imagined community“.

Arendt wie Adorno waren als Refugees persönlich betroffen. Beide hatten ein zutiefst ambivalentes Verhältnis zu den jüdischen US-Organisationen. Für Arendt war Jüdischsein eine „Tatsache“, ein „Aussehen“,19 für Adorno, der einen jüdischen Vater, keine jüdische Mutter hatte, der katholisch getauft, protestantisch konfirmiert und nach halachischem Verständnis kein Jude war, eine Zurechnung zum Judentum, die im Exil und noch mehr in der Remigration nach Westdeutschland für ihn eine Tatsache wurde. Walter Benjamin, mit einem weniger komplizierten religiösen Familienhintergrund, soll 1938 gesagt haben: „Ich lerne Jude, weil ich endlich begriffen habe, daß ich einer bin.“20 Man könnte für diese Haltung viele weitere Beispiele anführen. In einem Brief Horkheimers (jüdischer Junge aus deutsch-patriotischem Elternhaus) von 1947 an einen nichtjüdischen Weggenossen hieß es:

„Um über meinen eigenen Platz in der Welt niemals im Zweifel zu sein, halte ich seit den ersten Hitler-Jahren stets ein Exemplar der ‚Besonderen Lagerordnung für das Gefangenen-Barackenlager‘ der ‚Konzentrationslager Esterwegen Kommandantur‘ in meiner Schreibtischschublade bereit.“21

Dieser Satz Horkheimers lässt sich freilich in doppeltem Sinne lesen – im Hinblick auf sein Jüdischsein und im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur Linken, die 1933/34 zuallererst von den Nationalsozialisten gnadenlos verfolgt und lückenlos ausgeschaltet wurde.

IV. Die Antisemitismustheorien Arendts und Adornos

1948 schrieb Adorno auf 30 Seiten ein internes Memorandum zur Selbstverständigung über The Authoritarian Personality.22 Das Memorandum war eine minutiöse Bestandsaufnahme, die den neuesten Forschungsstand in vielen Disziplinen gründlich reflektierte. Arendt erwähnte er nicht; ihr Buch war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen. Adorno entwickelte hier die konsequenteste Interpretation der eigenen Antisemitismustheorie, die das ihr Spezifische in der Tat in der kritischen Theorie sieht.

Die von Adorno diskutierten Studien arbeiteten – für- oder gegeneinander, aber sich gegenseitig meist ignorierend – mit den zeitgenössisch akzeptierten Modellen. Dazu gehörten die Aggressions-Frustrationsthese von Dollard/Doob/Miller; die Unterscheidung von In-Group und Out-Group von Allport; die Anomiethese von Durkheim, u.a. bei Parsons; die These des „marginal man“ von Park, u.a. bei Stonequist; der (Georg) Simmel’sche „Fremde“; abgewandelte Freud’sche Modelle einer überdeterminierten Soziopathologie oder Psychopathologie des Alltags: Projektion, Übertragung und Rationalisierung; empirisch-sozialpsychologische und theologische Analysen des Judenhasses als christlichen oder antichristlichen Phänomens; wirtschafts-, sozial- und geistesgeschichtliche Ansätze; und schließlich gehörte dazu auch der existenzialistische Ansatz Sartres.

All diese Studien, so die überraschende Conclusio Adornos, „seem to come quite close to our own approach“, in manchen Fällen herrsche sogar „a considerable affinity“. Prominent für die Soziologie hob Adorno die Studie Hartleys hervor, für die Philosophie aber Sartres Überlegungen. Von allen uns bekannten philosophischen Erörterungen, schrieb er in seinem Memorandum, käme diese seiner eigenen Interpretation am nächsten:

„The amazing thing is that Sartre’s statements, which became known to us only after we had already started to formulate our final results, coincide with our own interpretation down to exceedingly concrete details, the kind of details […] which, as a rule, can be expected only from empirical investigations. Though his terminology is completely different from our own, the nucleus of insight is almost the same.“23

Adorno zeigte dies wortwörtlich bis ins Detail der berühmten Faschismus-Skala in The Authoritarian Personality, die zu dieser Zeit allerdings noch nicht publiziert war. Viele Befunde waren schon vor deren Erscheinen solche der Normalwissenschaft und wurden, zum Teil zunächst bloße Intuitionen, durch die spätere historische Forschung und Vorurteilsforschung bestätigt.

Gerade diese Übereinstimmungen aber waren es, die Adorno das Spezifische der eigenen Arbeiten so erklärungsbedürftig machten. Er sah nüchtern die Gefahr der Neutralisierung ihres gesellschaftskritischen Gehalts. Adorno dachte marxistisch und psychoanalytisch: Der Hass auf die Juden sei auf den Klassenantagonismus der gesamten Gesellschaft zu beziehen und seine Ambivalenz im Sinne des psychoanalytischen terminus technicus stets mitzureflektieren:

„No matter how ‚sensible‘ the sociological explanations may appear, one aspect reveals their inadequacy: the alleged self-evidence of their major catgories. Historical experience has conditioned thinking to such an extent that a thesis such as ‚the in-group is hostile to the out-group‘, or […] ‚the stranger is always hated‘, seems obvious and self-explanatory. […]. A naive person […] may well ask: ‚Why is the stranger hated?’ […] The naivety of such questioning should not be discouraged. Even on a surface level the hatred of the stranger is not unambiguous. Literature is full of accounts of the erotic spell cast by strange women, by the ‚Mädchen aus der Fremde‘; the uncommon, novel is often painted as incomparably more attractive than the routine of the world to which one is used, of the ‚in-group‘; in numerous primitive societies the stranger is by no means regarded with plain hostility but with awe and positive affection.“24

Diesem dialektischen Muster begegnet man auch in privaten Kommunikationen Arendts. „Ich fühle mich als das, was ich nun eben einmal bin, das Mädchen aus der Fremde“, schrieb sie im Februar 1950 an Heidegger, als dieser sie zu einer Aussprache mit seiner bekanntermaßen antisemitischen Ehefrau Elfriede gebracht hatte und Arendt sich gegen deren Selbstbezeichnung als „deutsche Frau“ abgrenzen wollte.25

„Das“ amerikanische Judentum war letztlich nicht mehr als eine „imagined community“.

Zentrale Gedanken in The Origins of Totalitarianism – über das Neue des modernen Antisemitismus, die These des Erfahrungsverlusts beziehungsweise der Erfahrungslosigkeit des Judenhasses, den Funktionsverlust des Pogromantisemitismus, das Besondere des totalitären Antisemitismus etc. – lassen sich auch in Texten Adornos finden. Berührungen Arendts mit Arbeiten aus dem weiter gespannten Arbeitszusammenhang des IfS, insbesondere von Massing, Bruno Bettelheim und Franz L. Neumann, sind noch viel deutlicher. In jüngeren Arbeiten sind Arendt und Adorno beziehungsweise die Frankfurter Schule entsprechend verglichen‚ ‚harmonisiert‘ und einander angenähert worden. In der Antisemitismusforschung ist das naheliegend. Beide reformulierten ja in der Tat vieles, was um 1950 weit über ihre Arbeiten hinausgehend Forschungskonsense waren; vor allem aber ist diese Harmonisierung möglich, weil sie sich mit völlig verschiedenen Ebenen beschäftigten: The Authoritarian Personality konzentrierte sich, wie Adorno betonte, auf „subjektive Aspekte“ und ging mikrosoziologisch vor. Gerade in diesem Buch ging es nicht um objektive soziale Faktoren oder historische Determinanten.

The Origins of Totalitarianism hatte hingegen einen diachronen, historisch-funktionalistischen Ansatz und wollte gerade, wie Jaspers sagte, historische Erkenntnis. Trotzdem scheint es mir weder im Sinn von Arendt noch Adorno, die Orientierung der Kritischen Theorie an der politischen Ökonomie von Marx und die Einführung des dynamischen Persönlichkeitsmodells von Freud in die Analyse von Individuum und Gesellschaft mit Arendt zu harmonisieren, die in ihren Denktagebüchern das gesamte Fundament der Theorie Adornos später einmal schlechtweg als „Unsinn“ des Freud’schen Unbewussten abtat und deren generelle Zurückweisung geschichtsphilosophischer Erklärungen auf den griechisch-römischen wie augustinisch-christlichen Wurzeln ihres politischen Denkens beruhte.

Arendts und Adornos Analysen der Ursachen des Antisemitismus hatten sich angesichts der tiefen Zäsur des Jahres 1945 entscheidend verändert. Diesen Unterschied sollte man sich in der heutigen Rezeption ihrer Antisemitismusanalysen unbedingt vergegenwärtigen. Die klassische Dynamik von Über-Ich, Ich und Es, wie Freud sie konstruiert hatte, traf Adorno zufolge auf den Menschen im modernen Spätkapitalismus nunmehr ebensowenig zu wie die Annahme von Marx, der Kapitalismus werde sich durch die ihm immanenten Krisen schließlich selbst zerstören. Im modernen Staatskapitalismus sah Adorno den Klassenantagonismus pazifiziert und die klassische Dynamik von Ich, Es und Über-Ich außer Kraft gesetzt. Diese partiellen ‚Revisionen‘ des an beiden Denkern geschulten Adorno waren die Basis für seine am Ende der 40er-Jahre gewandelte Hypothese vom Stellenwert des Antisemitismus für eine Theorie der Gesellschaft als einer kritischen Theorie: Antisemitismus „is due to the total structure of our society or, to put it more sweepingly, to every basically coercive society. This totality manifests itself in numerous aspects, all of which are comprised in it and appear as particular ‚causes‘ only to the kind of thinking which, naively following the pattern of natural sciences, forgets that all social facts bear the imprint of the system in which they appear and which can never be explained satisfactorily by atomistic enumeration of various causes.“26

Arendts Auffassung zusammenzufassen, ist komplizierter. Wie Hauke Brunkhorst zeigte, wandelte sich ihre Position nicht nur mit dem neunten Kapitel von The Origins of Totalitarianism, sondern später noch einmal wesentlich.27 In jedem Fall aber gelangte Arendt zu der Überzeugung, die moderne Gesellschaft tendiere zur Nivellierung, einer Nivellierung, die zuletzt im Begriff der Masse sich ausdrückte und die im Totalitarismus den extremsten, gewissermaßen vollendetsten Ausdruck erhielt, dann aber in dieser extrem vollendeten Gestalt den Begriff des Juden zugunsten (beziehungsweise zu Lasten) dem der überflüssigen Menschheit ‚verschwinden‘ ließ.

Während der Erfolg und die Orginalität von The Authoritarian Personality darauf beruhte, mit der berühmten Faschismus-Skala die in der amerikanischen Normalwissenschaft gebräuchliche Methoden zur indirekten Messung von Vorurteilen mit einer ambitionierten, philosophisch unterlegten Sozialpsychologie zu verbinden und auf den neuen Forschungsgegenstand in einer Form anzuwenden, die angesichts der Popularität der Psychoanalyse in den USA voll im Trend lag, beruhten der Erfolg und die Originalität von The Origins of Totalitarianism gerade darauf, gegen den antihistoristischen Trend mit einer historisch-funktionalistischen Methode eine politisch-theoretisch ambitionierte Geschichte des Antisemitismus zu entwerfen und mit den aktuellen Aporien der Menschenrechte in Zusammenhang zu bringen.

Beide Publikationen, The Authoritarian Personality und noch viel mehr The Origins of Totalitarianism, reagierten schon auf die politischen Konstellationen des Kalten Krieges, was ihnen höchste Aktualität verlieh. Dies dürfte zweifellos zu ihrem Welterfolg beigetragen haben, da sie verallgemeinerbare, politisch verwertbare Perspektiven boten und beide dies um den Preis extremer dystopischer – aber gegensätzlicher – Vereinfachungen taten. Dass diese klassischen Texte der 1940er-Jahre in einem ambivalenten Sinn für die heutige Antisemitismusforschung aktuell sind, dass zeigt der oben zitierte Satz aus der Dialektik der Aufklärung über die nicht nur von Juden gehegte Illusion, „der Antisemitismus erst entstelle die Ordnung, die doch in Wahrheit ohne die Entstellung der Menschen nicht leben kann.“28

1 Vgl. Die Kontroverse. Hannah Arendt, Eichmann und die Juden, München 1964; Adorno, Theodor W./Dahrendorf, Ralf/Pilot, Harald/Albert, Hans/Habermas, Jürgen/Popper, Karl R., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1969.

2 Adorno, Theodor W./Frenkel-Brunswik, Else/Levinson, Daniel J./Sanford, R. Nevitt, mit Betty Aron, Maria Hertz Levinson und William Morrow, The Authoritarian Personality, Social Studies Series III, New York 1950; Arendt, Hannah, The Origins of Totalitarianism, New York 1951, dtsch.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955.

3 Zur Frankfurter Schule vgl. Ziege, Eva-Maria, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil, Frankfurt a.M. 2009.

4 Vgl. Bergmann, Werner/Körte, Mona (Hg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004.

5 Arendt, Hannah, Die Krise des Zionismus (This Means You), in: Aufbau (22.10.1942), in dies., Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher, Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung „Aufbau“ 1941 – 1945, hrsg. v. Marie Luise Knott, München/Zürich 2000, S. 94-104, hier S. 95.

6 Arendt, Hannah, Papier und Wirklichkeit (This Means You), in: Aufbau (10.4.1942), ebd., S. 48-51, hier S. 48 f.

7 Vgl. Brief v. Jaspers, 16.11.1931, in: Arendt, Hannah/Jaspers, Karl, Briefwechsel 1926-1969, hg. von Lotte Köhler/Hans Saner, München/Zürich 1985, S. 50.

8 Grossmann an Horkheimer, 30.4.1943, in: Horkheimer, Max, Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 443 f.

9 Bailyn, Bernard/Fleming, Donald (Hg.), The Intellectual Migration. Europe and America, 1930-1960, Cambridge, Mass. 1969.

10 Löwenthal, Leo, „Ich will den Traum von der Utopie nicht aufgeben“, in: Funke, Hajo (Hg.), Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil, Frankfurt a.M. 1989, S. 168-185, hier S. 176.

11 Institute of Social Research, Studies in Antisemitism, August 1944, hekt. Bericht, Horkheimer-Pollock-Archiv der Stadt Frankfurt am Main, IX 121 a., S. 132.

12 Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 1944 hekt., veränd. Druckfassung Amsterdam 1947, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 13-290, hier S. 199.

13 Ebd., S. 198.

14 Kallen, Horace Meyer (1882-1974), geboren in Berenstadt in Schlesien, 1887 Emigration in die USA, Philosoph. 1908-1911 Harvard University, 1911-1918 University of Wisconsin. Mitbegründer der New School of Social Research in New York 1919, dort Professor 1919-1952, Chairman des YIVO Academic Council, Vizepräsident der American Association for Jewish Education.

15 Vgl. in ganz anderem Zusammenhang Habermas, Jürgen, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, 1963, Frankfurt a.M. 1971, S. 37.

16 Graeber, Isacque/Britt, Steuart Henderson (Hg.), Jews in a Gentile World. The Problem of Anti-Semitism, New York 1942; Pinson, Koppel S. (Hg.), Essays on Antisemitism. Jewish Social Studies, Publications Nr. 2, Vorw. v. Salo W. Baron, New York 1942, 21946; Simmel, Ernst (Hg.), Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1993.

17 Vgl. Maritain, Jacques, Ransoming the Time, New York 1941; ders., L’impossible antisémitisme, Paris 1994 (Texte aus den Jahren 1921-1942 und Reaktionen auf Maritains Thesen u.a. von André Gide, Emmanuel Lévinas); Sartre, Jean-Paul, Portrait of the antisemite, in: Partisan Review 13 (1946), S. 163-178; ders., Réflexions sur la question juive, Paris 1954, dtsch. Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek b. Hamburg 1994.

18 Massing, Paul, Rehearsal for Destruction. A Study of Political Anti-Semitism in Imperial Germany, Social Studies Series II, New York 1949, dtsch.: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1959, 21961.

19 Kristeva, Julia, Das weibliche Genie. I. Hannah Arendt, Berlin/Wien 2001, S. 171.

20 Brief v. Heinrich Blücher, 22.10.1938, in: Arendt, Hannah/Blücher, Heinrich, Briefe 1936-1968, hg. & eingel. von Lotte Köhler, München/Zürich 1996, S. 88.

21 Horkheimer an Massing, 24.5.1947, Nr. 763, in Horkheimer, Max, Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 814.

22 Adorno, Theodor W., Remarks on „The Authoritarian Personality“ by Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson, Sanford (1948), Horkheimer-Pollock-Archiv der Stadt Frankfurt am Main, VI 1 D. 71-100.

23 Ebd. Bl. 91 f.

24 Ebd. Bl. 86-87.

25 Brief v. Arendt an Heidegger, 9.2.1950, Nr. 48, in: Arendt, Hannah/Heidegger, Martin, Briefe 1925-1975 und andere Zeugnisse, Frankfurt a.M. 19992, S. 76. Heidegger schrieb auf diese Worte hin ein Liebesgedicht für Arendt mit dem Titel „Das Mädchen aus der Fremde“. Vgl. ebd. S. 79 f.

26 Adorno, Remarks, Bl. 81.

27 Brunkhorst, Hauke, Hannah Arendt, München 1999.

28 Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 1944 hekt., veränd. Druckfassung Amsterdam 1947, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 13-290, hier S. 199.

Eva-Maria Ziege ist Soziologin mit den Arbeitsfeldern Kultursoziologie, Sozialtheorie, Wissenschaftsgeschichte, Kultursemiotik und Diskursanalyse, Antisemitismusforschung und Jüdische Studien. Zur Zeit ist sie Visiting Fellow am Centre for the Study of Jewish-Christian Relations, Cambridge (U.K.), seit 2006 DAAD Acting Associate Professor an der Henry M. Jackson School of International Studies, University of Washington, Seattle. Davor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus (Universitätsverlag Konstanz, 2002) und Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil (Suhrkamp, 2009).

Dieser Text beruht auf einem umfangreicheren Manuskript für den 2011 erscheinenden Sammelband von Liliane Weissberg (Hg.), Hannah Arendt und die Frankfurter Schule, Campus Verlag Frankfurt a.M. 2011, der die gleichnamige Tagung des Fritz-Bauer-Instituts Frankfurt in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Frankfurt am 11.1.2010 dokumentiert.

Quelle: Recherche 1/2010

Online seit: 10. Oktober 2019

Die Online-Version unterscheidet sich geringfügig von der Print-Variante, Tippfehler wurden korrigiert.