Innerhalb weniger Jahrzehnte ist Spanien von einem traditionellen Auswanderungsland zu einem der wichtigsten Einwanderungsländer in Europa geworden. In den 1960er- und 1970er-Jahren reduzierte sich die Auswanderung nach Lateinamerika und in die europäischen Staaten auf drastische Weise. Stattdessen setzte allmählich eine Zuwanderung nach Spanien ein, die seit Ende der 1990er-Jahre sukzessive anwuchs und 1995 zur Errichtung der Grenzzäune der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika führte, die seither zu politischen Ikonen der „Festung Europa“ gehören. Beide Städte haben im Rahmen des Schengener Abkommens zur Sicherung der europäischen Außengrenze einen Sonderstatus, da sie die einzigen Landgrenzen der EU zum afrikanischen Kontinent darstellen.
Nachdem der spanische Grenzschutz im Auftrag des Innenministeriums seit Sommer 2002 das radargestützte Grenzüberwachungssystem SIVE (Integriertes System zur Außenüberwachung) an den Küstenstreifen Andalusiens und der Kanarischen Inseln eingerichtet hat, haben sich die Migrationsrouten verschoben. Seither wird eine vermehrte Zahl „illegaler Einreiseversuche“ in großen Gruppen auf das EU-Territorium in Ceuta und Melilla registriert (vgl. www.guardiacivil.org). Diese Verschiebung der Migrationsrouten darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sogenannte „irreguläre Aufenthalt“ in Spanien hauptsächlich durch die Ausdehnung des Aufenthalts über die erlaubte Dauer nach legaler Einreise erfolgt (Visa-Überschreitung). Die illegale Einreise durch die Überfahrt von Nordafrika über die Straße von Gibraltar oder durch das Überschreiten der Landgrenze der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika – hat einen sehr viel geringeren Umfang, auch wenn sie in den Medien eine größere Aufmerksamkeit erfährt. Heute besteht die 8,3 km lange und 50 Millionen Euro teure Grenzsicherung in Ceuta, der spanischen Exklave an der Meerenge von Gibraltar, aus zwei Zaunreihen mit Stacheldrahtaufsatz in der Höhe bis sechs Metern, 25 Wachtürmen, Wehrmauern, 100 Flutlichtmasten, ferngesteuerten Überwachungskameras und Bewegungsmeldern (Faath 1999: 11; Thiele 2005: 71f). Melilla ist umgeben von marokkanischem Territorium, gehört aber seit 1497 zu Spanien. Mit dem Bau des 10,2 km langen Grenzzaunes wurde dort 1996 begonnen. Beide Grenzanlagen sollen das EU-Territorium vor „illegalen“ Migrantinnen und Migranten sichern und sind mit EU-Geldern errichtet worden.
1. Die politische Dimension des Zeitraffers
Einen maßgeblichen Anteil an der Aufwertung und Verbreitung des Grenzzaunes als Ikone der „Festung Europa“ haben Fernsehbilder geleistet: „Dass in den Reportagen und Dokumentationen immer häufiger und fast schon vorhersagbar Bilder von der Grenzanlage in Ceuta auftauchen, liegt vor allem daran, dass sie für das Bildmedium Fernsehen als ein Realsymbol fungiert.“ (1) (Thiele 2005: 71) Der spanische Grenzschutz, die Guardia Civil, veröffentlichte im September 2005 die Kontrollbilder der Überwachungskameras für die Legitimation der eigenen – und vielerorts kritisierten – Flüchtlingspolitik (vgl. www.es.amnesty.org) und bot sie dem Informationsbereich des Fernsehens zur Veröffentlichung an. Diese Bilder sollten einen visuellen Beweis für den „Ansturm“ der illegalen Einwanderer aus Schwarzafrika über den doppelten Grenzzaun liefern.
Um das Bildmaterial in seiner Aussagekraft zu verstärken, veränderte der spanische Grenzschutz das filmische Zeitkontinuum mit Hilfe der Zeitraffertechnologie (auch: Zeitdehnung). Zu sehen sind Nachtaufnahmen „illegaler“ Überquerungen der Grenzanlagen, die oft im Zeitraffer wiedergegeben worden sind, um den Eindruck einer „massenhaften Erstürmung“ der Grenzanlagen zu suggerieren. Die filmische Technologie des Zeitraffers hat folglich maßgeblich dazu beigetragen, ein medial generiertes Bild vom angeblichen „Anschlag auf die Grenze“ und vom „Ansturm auf die Festung Europa“ zu konstruieren (vgl. www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21064/1.html). Die im Zeitraffer dargestellten, nächtlichen Kontrollbilder von der EU-Außengrenze zeigen die Überquerungen der Grenzzäune zusätzlich aus mehreren Perspektiven (overlapping editing), die einen Teil des Geschehens aus einem anderen Blickwinkel wiederholen. So ist in der zweiten Einstellung ein Moment zu sehen, der bereits von der ersten Einstellung her bekannt ist. Die Schnittmontage der Guardia Civil bricht damit mit der narrativen Zeitachse dokumentarischer Echtzeit und operiert mit einer Schnitttechnik, die darauf abzielt, ‚Action‘ herzustellen.
Der Zeitraffer ist eine seit den Anfängen des Kinos gebräuchliche Erzähltechnik, um die Ereignisse vor der Kamera auf spektakuläre Weise narrativ zu verdichten und damit Unsichtbares sichtbar zu machen (vgl. Levin 2004: 349-366; Stiglegger 2006: 345-357). Mit dieser Technologie werden Raum und Zeit zum Experimentierfeld medialer Repräsentation definiert; die dargestellten Akteure werden dadurch verfügbarer Bestandteil einer filmtechnischen Manipulation. Die filmische Transformation vermittels der Zeitraffer-Aufnahme kann folglich nicht nur als eine apparative, sondern auch als ein epistemisches Stilelement geltend gemacht werden, das Rezeptions- und Wahrnehmungskulturen medial überformt. Die filmische Methode zur Verlangsamung der Aufzeichnung von Bewegungsabläufen macht als Mehrwissen etwas sichtbar, das den einzelnen Akteuren so nicht bewusst ist. Damit markiert die Zeitraffer-Technologie einen Wissensvorsprung, der dem Betrachter (dem ‚Europäer‘) eingeräumt und dem Betrachteten (dem ‚Afrikaner‘) aberkannt wird.
Die Zeitraffer-Aufnahme kann auch als eine sinnbildliche Visualisierung der phrasenhaft verwendeten Flutsymbolik verstanden werden.
Die Zeitraffer-Aufnahme kann vor diesem Hintergrund auch als eine sinnbildliche Visualisierung der in der Medienberichterstattung phrasenhaft verwendeten Flutsymbolik verstanden werden. Sie dient in diesem Zusammenhang vor allem dazu, die neorassistische Bildmetapher von ‚eindringenden Flüchtlingen‘ als unabzählbare ‚Masse‘ oder ‚Strom‘ abzurufen. Ein weiteres Referenzbild ist die Symbolik der Festung und des Festungssturms: Die von den ‚Afrikanern‘ gebastelten Leitern stehen in diesem Zusammenhang für eine ‚anachronistische‘ und ‚naive‘ Methode der Kriegsführung, die der Hochtechnologie der europäischen Grenzüberwachung gegenüber gestellt wird. Die Pictura ‚Festung‘ dient „zur affirmativen Anschauung der als überlebensnotwendig geltenden, Sicherheit und Stabilität garantierenden Maßnahmen zur Sicherung der europäischen Außengrenzen.“ (Thiele 2005: 72)
Der Zeitraffer ist in diesem Sinne weit mehr als nur ein filmischer Stil oder ein filmisches Verfahren: Ihm inhäriert eine politische Dimension. Seine Medienspezifik trägt wesentlich zur diskursiven Kodierung und medialen Verbreitung des Bildes vom Einwanderer als ‚gefährlicher Andrang‘, ‚anonyme Masse‘ und ‚bedrohliche Flut‘ bei. Die nächtlichen Bilder aus Ceuta zeigen ausschließlich die eindringende Masse, die sich scheinbar ‚hemmungslos‘ und ‚unaufhaltsam‘ ihren Weg über die EU-Grenze bahnt. In diesem Konnex wird Migration auf eine kriminalisierte Grenzüberschreitung reduziert, die zur polizeilichen, administrativen und sozialen Überforderung zu werden droht. Die erst im Zeitraffer sichtbar gemachten Massen von Eindringlingen zeichnen ein bedrohliches Bild einer außer Kontrolle geratenen Zu- und Einwanderung.
Im Kontext der „illegalen“ Grenzüberschreitung der EU-Außengrenze wird also der Zeitraffer vor allem dazu eingesetzt, um die Flüchtlinge zu depersonalisieren und sie als anonyme Masse in Szene zu setzen. Ausgeblendet werden soziale, politische und ökonomische Motive der Migration. Die Zeitraffer-Aufnahme relativiert den Realitätseindruck der Überwachungsbilder, indem sie ein neuartiges dramaturgisches Element etabliert: Sie verdichtet die dargestellten Ereignisse und erzeugt ein künstliches Bild einer ununterbrochenen Massenbewegung. Sie simuliert dabei eine „allwissende“ Blickperspektive, indem sie vorgibt, alle ‚illegalen‘ Phänomene, die sich im Laufe einer einzigen Nacht ereignet haben, abzubilden. Sie kumuliert die dokumentierten Vorfälle am EU-Grenzzaun aber nicht mit dem Ziel, die Fälle in ihrer distinkten Besonderheit darzustellen, sondern erzeugt – diametral entgegengesetzt – das Bild eines amorphen und gesichtslosen ‚Ansturms‘, dem die zuständigen Sicherheitsbehörden nicht (mehr) gewachsen sein sollen. Da die Aufnahmen vom spanischen Grenzschutz selbst in Umlauf gebracht worden sind, können sie auch als ein Appell an die EU verstanden werden, mehr in die Sicherheit ihrer gemeinsamen EU-Grenzanlagen zu investieren, um den suggerierten ‚Ansturm‘ auf die ‚Festung Europa‘ einzudämmen.
2. Videolow/Videohigh
Heute werden Bilder von Überwachungskameras in Nachrichtensendungen vermehrt eingesetzt, um Authentizität zu evozieren. Im Fernsehen wird auf diese Weise jedoch nicht die reine und unverfälschte Authentizität, Realität oder Wahrheit sichtbar gemacht, die der Fiktion, Fantasie oder Narration gegenübersteht, sondern eine fiktionalisierende Darstellung des Authentischen, die erst mit der Medialisierung der Nachrichten entsteht (vgl. Reichert 2005: S. 106–111). In seiner Fernsehanalyse von Videoaufnahmen aus einer Überwachungskamera differenziert Ralph Adelmann zwei unterschiedliche visuelle Authentifizierungsstrategien in Fernsehformaten. Er unterscheidet zwischen videolow-Aufnahmen, die „aus den konventionalisierten visuellen Symbolsystemen der Bedienungsführung in Videokameras stammen“ (Adelmann 2003: 222) und den Verfahren videohigh, die durch die nachträglichen Bearbeitungen des Videomaterials – durch Vergrößerungen, Wiederholungen und Montagen – herbeigeführt werden. Dieses als visuelles Beweismittel für eine tatsächliche Begebenheit verwendete Filmmaterial enthält keine Schwenks, keine Zooms und keine Kamerafahrten. Diese Videoästhetik der Überwachungskamera soll eine neutrale und interesselose Blickposition vermitteln, die für einen objektivierenden Medienkanal einstehen soll.
Die Kontrollbilder der Kameras, die ursprünglich ausschließlich für Überwachungszwecke verwendet wurden, stehen in ihrem neuen Gebrauchskontext im Fernsehen für eine neue Sinndimension: Sie fungieren als Evidenzbeweise der Bedrohung und dienen als politische Rechtfertigung für die restriktive Migrationspolitik der EU-Administration. Diese Aufnahmen suggerieren eine objektive Wahrnehmungskontrolle über das Geschehen – die Überwachungskamera kann in diesem Zusammenhang auf ein registrierendes Aufnahmemedium reduziert werden. Mit der Fixierung des Blickpunkts, der Festlegung des Bildrahmens, der unbeweglichen Kameraführung und der starren Fokussierung des Bildfeldes wird nicht nur die Überwachungskamera als protokollierende Instanz, sondern auch ihre Videoästhetik (Unschärfe, Sicherheitsbeleuchtung, Nachtaufnahme, Vogelperspektive) als evidenzstiftende Besonderheit aufgewertet. Die unbewegte Kamera und die statische Einstellung auf ein determiniertes Bildfeld kann in den folgenden Diskursivierungen des Filmmaterials in den Nachrichtenformaten als ein visuelles Kennzeichen einer sich selbst aufzeichnenden Natur veranschlagt werden.
Mit der Statik der montierten Überwachungskamera und der Stabilität des filmischen Bildraums plausibilisiert sich eine objektivierende Wissensrepräsentation der Migration. Gleichermaßen soll aber das Fernsehen in seiner Funktion als wahrheitsstiftendes Medium aufgewertet werden. Mit der Verwendung der Überwachungsbilder inszeniert es sich als Informationsmedium, das seine Berichterstattung auf authentische Quellen und Beweise abstützt. Die Medienberichterstattung über Ceuta und Melilla kann folglich auch als eine fernsehimmanente Beglaubigungsstrategie verstanden werden, in der es darum geht, den medienspezifischen Stellenwert der Fernsehnachrichten (Aktualität, Bewegtbild) hervorzuheben.
So schreibt der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1998:27) in seiner Abhandlung Über das Fernsehen: „Die politischen Gefahren, die mit der üblichen Nutzung des Fernsehens verbunden sind, kommen daher, dass es erzeugen kann, was Literaturkritiker den effet du réel nennen, den Wirklichkeitseffekt: Es kann zeigen und dadurch erreichen, dass man glaubt, was man sieht.“ Das von der Guardia Civil zeitlich fiktionalisierte Überwachungsvideo wird in der weiteren Verwendung und Austrahlung durch diverse Fernsehsender als authentisches Abbild einer außerfilmischen Wirklichkeit präsentiert. So deklarieren im September 2005 zahlreiche nationale Fernsehstationen der EU-Mitgliedsländer das von der Guardia Civil präparierte Video als faktisches Belegmaterial. In Verbindung mit einem Zeigegestus, der auf eine vorfilmische Realität verweist, wird dem filmischen Material eine eye-witness des unmittelbaren Einblicks in die Objektivität faktischer Ereignisse unterstellt. Diesem Anspruch widersprechen allerdings die in der Postproduktion zusätzlich eingebrachten Evidenzstrategien (Off-Kommentar, Schriftinserts, Timecode), die das dokumentarische Filmbild zusätzlich mit einem erzählerischen Bedeutungszusammenhang konnotieren: So wurde das filmische Archivmaterial in mehreren Versionen etwa mit akustischen Signalen (z.B. Schritte) und (anonymisierten) Lautäußerungen (z.B. Zurufe) synchronisiert, um die auratische Authentizität des Sichtbaren zu verstärken.
Insgesamt dient die Überlagerung von fiktivem und dokumentarischem Material zur Evidenzstiftung der gezeigten Bilder.
Mit dem videohigh-Verfahren benennt Adelmann einen sekundären Bearbeitungsschritt im Rahmen der Informationsverarbeitung in den jeweiligen Fernsehformaten. Für eine didaktisierende Blickführung in den Fernsehnachrichten werden
„(…) die Visualisierungen nachträglich durch Vergrößerungen, Wiederholungen und Montage – also Verfahren des videohigh – bearbeitet. Das Videomaterial kann aufgrund seiner ästhetisch-technischen Merkmale trotzdem wie ein Beweismittel behandelt werden, da der Off-Kommentar das ‚Offensichtliche‘ längst kanalisiert hat. Analog zum instant replay eines Fouls in einer Sportsendung dienen die Verfahren des videohigh zur Beweis- und Wissenssicherung der im Kommentar vorbereiteten Semantisierung. Das Authentische bleibt demnach die notwendige ‚Kulisse‘, vor der im Off-Kommentar die binäre Maschine mit schuldig/nicht-schuldig oder wahr/falsch operiert. Durch die intervisuellen Verweise auf Praxen der Video-produktion wird die Konstruktion des videolow authentifiziert.“ (Adelmann 2003: 222)
Sowohl videolow als auch videohigh sind filmische Verfahrensweisen zur Herstellung von Plausibilität und Evidenz. Das Verfahren des videolow fokussiert die faktische Gegebenheit authentischer Ereignisse und operiert mit dokumentarischem Material; im sekundären Verarbeitungsprozess des videohigh wird das zur Verfügung stehende Material affektiv, narrativ und kausal-begründend verdichtet. Insgesamt zielt die Bildkomposition des videohigh auf eine effiziente Konditionierung der Lektüre, die in relativ kurzer Zeitspanne die Wirkung sofort erzielen muss. Die gezeigten Bilder müssen auf den ersten Blick klar sein, und zugleich muss mit ihnen ein Moment der Attraktion oder des Schreckens mit ins Spiel kommen, um das Interesse des betrachtenden Lektüresubjekts zu wecken.
In den Nachtaufnahmen der EU-Außengrenze in Ceuta und Melilla verdichten sich intermediale und intertextuelle Bezüge, die aus der zwingenden Rahmenbedingung zeitlicher Begrenztheit hervorgehen. Ihr televisionärer Repräsentationsmodus der dramaturgisch verdichteten Filmzeit zielt in Schnitt und Montage auf die Herstellung einer Nichtnormalität: Sie zeigen das ‚ethnisch‘ begründete Feindbild eines finsteren Kollektivs, das sich die Zugehörigkeit zur europäischen Gemeinschaft auf illegitime Weise ‚erschleichen‘ will: „Der neue Rassismus ist ein Rassismus der Epoche der ‚Entkolonialisierung‘, in der sich die Bewegungsrichtung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den alten ‚Mutterländern‘ umkehrt.“ (Balibar 1992: 28) Nach Etienne Balibar beschränken sich die Medienpraktiken des Neorassismus, der sich um den Komplex der Immigration herausgebildet hat, darauf, „die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten.“ (ebd.) Das zentrale Merkmal dieser medialen Ikonografie richtet sich auf die Dehumanisierung des ‚Eindringlings‘, dem als illegale Existenz jeglicher Subjektstatus abgesprochen wird:
„Als ‚Masse‘, ‚Flut‘ und ‚Strom‘ kann den Flüchtlingen und undokumentierten Einwanderern schwerlich der Status eines Subjekts im Sinne einer rational-autonomen, quasi-juristischen Person zugesprochen werden. Die Strom- und Fluchtsymbolik schließt die Möglichkeit aus, sie sich symbolisch als Verhandlungspartner oder als ebenbürtiger Gegner zu denken. Vorstellbar sind sie lediglich als außermenschliche subjektlose Bedrohung, als ‚anschwellender‘ oder sich ‚aufstauender‘ Strom, in dem immer schon die imaginäre, für die Zuschauer mit rezipierbare, lebensgefährliche Subjekt-Situation des ‚Dammbruchs‘ beziehungsweise der ‚Überflutung‘ enthalten ist. Durch den fehlenden Subjektstatus fordert das Feindbild ‚Illegale‘ (…) ein rein technisches, Gefahren abwehrendes Verhalten – ein Dialog erscheint gegenüber ‚Fluten‘ und ‚Strömen‘ geradezu absurd.“ (Thiele 2005: 65)
3. Sendeort
Ein entscheidendes Auswertungskriterium der empirischen Medienanalyse stellt die Berücksichtigung des Sendeortes dar (Taylor 2001: S. 171–177). Die hier untersuchten Überwachungsbilder der EU-Außengrenze wurden in Österreich erstmals im Senderahmen des ORF-Nachrichtenmagazins Weltjournal (2) vom 5. Oktober 2005 ausgestrahlt.
In diesem Zusammenhang wurden die Bilder über den Grenzzaun bei Ceuta und Melilla mit fiktivem Material des Kinofilmes Der Marsch (1990) kontextualisiert, der auch den Fernsehbeitrag über die EU-Grenze einleitete. Der Film wurde im Rahmen des ARD-Programmschwerpunktes Eine Welt für alle im Jahr 1990 ausgestrahlt und wird weiterhin als ein ‚informativ-aufklärender‘ Film für den Einsatz in der Bildungsarbeit empfohlen wird. Der Marsch ist ein von der BBC produzierter Film des britischen Regisseurs David Wheatley über den Auswanderungsdruck afrikanischer „Entwicklungsländer“ aus dem Jahr 1990. Die Stoffvorlage des Films ist ein gleichnamiger Roman von William Nicholson. Der Roman verlagert Migrationsszenarien in eine unbestimmte Zukunft, in der aufgrund des Klimawandels große Teile Afrikas unbewohnbar geworden sind, während gleichzeitig Europa vom Rassismus gespalten ist.
Die Befestigungsanlagen in Ceuta und Melilla sind zum fixen Bestandteil des europäischen Bildgedächtnisses aufgestiegen.
Der Marsch betrachtet den Kontinent ‚Afrika‘ mehr oder weniger entdifferenziert durch ein bestimmtes Raster und verbreitet dabei gängige Klischees. ‚Afrika‘ wird repräsentiert durch Bilder der ‚Katastrophe‘, des ‚Leidens‘ und des ‚Elends‘; ‚Afrikaner‘ handeln hier emotional, statt rational zu überlegen, denn „sie [die ‚Afrikaner‘] analysieren die Lage nicht, sind uninformiert, unorganisiert und völlig demoralisiert“; Schuld an der politischen Situation ‚Afrikas‘ sind korrupte Regierungen, also innerafrikanische Verhältnisse; die Entwicklungshilfe „versandet im Boden“, denn „Afrika ist ein Fass ohne Boden“; schließlich zeigt der Film ‚Afrikaner‘ als Ameisen, die sich ‚instinktmäßig‘ zusammenschließen. Inszeniert wird eine Horde gesichts- und geschichtsloser Gestalten ohne Wurzeln, die ihrem „Führer“ blind folgen, wie Schafe dem Leithammel, „getragen von der simplen Idee, die sie mobilisiert: ‚Wir sind arm, weil ihr reich seid.‘“ Der ORF wählte in seinem Beitrag aus dem Jahr 2005 einen Ausschnitt aus diesem Streifen, der sich vor allem auf diese angesprochenen Massenszenen des Films konzentriert. Der Ausschnitt zeigt panische Menschenmengen, die aus ihren ärmlichen Booten steigen und das Land (Europa) stürmen (Abb. 3). Damit konnotiert die Reportage Migration mit der Ikone des Bootes und mit einer spezifischen ethnischen Zugehörigkeit. In mehreren Schuss-Gegenschuss-Montagen konstruiert der Film oppositionelle Konstellationen zwischen den anstürmenden Massen und dem EU-Grenzschutz. In mehreren aufeinanderfolgenden Einstellungen werden die ‚Afrikaner‘ von einer erhöhten Blickposition aufgenommen, um den Eindruck einer Massenbewegung zu verstärken. Diese Mise-en-scène der bedrohlichen Immigration montiert der Film mit polizeilichen Kontrollbildern (Hubschrauber, Grenzzäune, bewaffnete EU-Grenzschutztruppen), die konfrontativ arrangiert sind. In einer bemerkenswert offensiven Kontrastmontage sind halbnahe Einstellungen auf den Betrachter zulaufender ‚Afrikanerinnen‘ und ‚Afrikaner‘ (subjektive Einstellung) mit einer nahen Einstellung montiert, die einen mit einem Gewehr bewaffneten Grenzschutzpolizisten zeigt, der direkt auf die Migrantinnen und Migranten zielt. Damit legt der Film auch eine Handlungsmöglichkeit nahe, die zum Umgang mit ‚unkontrollierter‘ Migration als überlegenswert erscheint: Im Notfall kann von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden. Das Weltjournal wiederholt und bestätigt legitimierend das ikonische Material aus dem Jahr 1990 und beglaubigt damit die andauernde Problematik des Flüchtlingsstromes, der in der nachfolgenden Passage (Überwachungsbilder im Zeitraffer) bestätigt wird. Insgesamt dient die Überlagerung von fiktivem und dokumentarischem Material zur Evidenzstiftung der gezeigten Bilder.
Zusammenfassung
Die hier untersuchten Aufnahmen entstammen den Überwachungskameras der spanischen Grenzschutzpolizei und markieren einen neuartigen Trend der Informationspolitik in der Medienberichterstattung (vgl. Pauleit 1999: 99–106). Seit Mitte der 1990er-Jahre tauchen dokumentarische Bilder der Videoüberwachung und anderer visueller Kontrollsysteme zur Beweissicherung und Evidenzstiftung im öffentlichen Diskurs auf. Kritiker der zunehmenden Videoüberwachung öffentlicher Räume machen darauf aufmerksam, dass die Videokameras weniger als ein Kontroll- und Überwachungsinstrument der Verbrechensbekämpfung, sondern vielmehr ihre Bilder als ein kulturelles Phänomen unserer Zeit erinnert werden. (vgl. Norris 2001: 249–281) Es ist eine neue visuelle Kultur der Überwachung entstanden, die heute zum Bestandteil des kollektiven Erinnerns gehört (vgl. Link 1982; Becker et. al. 1997: 70–154). Beispiele für die Neuorientierung der visuellen Politik sind die letzten Bewegtbilder der Lady Di, aufgenommen durch die Überwachungskamera eines Pariser Luxushotels, die Kriegsbilder der intelligenten Lenkwaffen im Golfkrieg und die Aufnahmen der 9/11-Terroristen durch Überwachungskameras auf dem New Yorker Flughafen. Wenn die Diskursivierung von Überwachung und Kontrolle weniger durch die quantitative Zunahme der Videoüberwachung, sondern vielmehr durch die Omnipräsenz der Bilder der Überwachung entscheidend geprägt wird, dann kann eine sich transformierende visuelle Kultur durchaus als ein Indiz der Normalisierung sozialer Kontrolle verstanden werden (Graham 1999: 89–112). Die hier besprochene filmische Ikonographie der „Festung Europa“ jedenfalls deutet in diese Richtung. Neben ihrer vielschichtigen Grenzsemantik sind die Befestigungsanlagen in Ceuta und Melilla aufgrund ihrer medialen Konstruktion im Fernsehen zum fixen Bestandteil des europäischen Bildgedächtnisses aufgestiegen. Die Zeitrafferaufnahmen vom nächtlichen „Ansturm“ der „illegalen“ Immigranten haben nicht nur das Bild einer permanent „bedrohten“ und „schutzbedürftigen“ EU-Grenze maßgeblich geprägt, sondern gleichermaßen den EU-Grenzschutz (zum Beispiel den Aufbau der EU-Grenzschutz-Agentur Frontex) mit visueller Evidenz und argumentativer Plausibilität unterstützt. Das vom Fernsehen gemachte Medienereignis der „Migration im Zeitraffer“ dient letztlich weniger der Proliferation von Unterhaltungs- und Schauwerten, sondern demonstriert auf nachdrückliche Weise den engen Zusammenhang von visueller Kultur und politischer Macht.
Literaturhinweise
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Pauleit, Winfried (1999): „Videoüberwachung und die ‘condition postmoderne’“, in: Ästhetik & Kommunikation 30/106, S. 99–106.
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Stiglegger, Marcus (2006): „Zeit-Lupe. Versuch zur Philosophie gedehnter Zeit im Film“, in: Thomas Koebner/ Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München: edition text+kritik, S. 345–357.
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Thiele, Matthias (2005): Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen, Konstanz UVK.
Internetquellen
Offizielle Homepage der Guardia Civil,
Offizielle Homepage der spanischen Organisation von Amnesty International,
Internetmagazin heise.de
(1) Nach Matthias Thiele (2005: 71) findet sich das Sujet der Grenzsicherung in Ceuta u. a. in folgenden Reportagen und Dokumentationen: Mare Nostrum. Wem gehört das Mittelmeer? Von Gibraltar bis nach Beirut (ZDF 2000), Wer darf bleiben? (ARTE/ZDF 2000), Festung Europa (ARTE 2001), Grenzen des Reichtums. Beobachtungen an den Toren der Festung Europa (VOX 2002), Tarifa, Traffic. Tod in Gibraltar (3SAT/ZDF 2003).
(2) Das ORF-Auslandsmagazin „Weltjournal“ hat einen fixen Sendeplatz und informiert über Ereignisse aus aller Welt jeden Mittwoch um 22.30 Uhr in ORF 2.