Habsburg und Monarchie gehen in Österreich immer gut, jedes Schwarzbuch der Habsburger wird durch den Dauerbrenner „Sisi“ eines Besseren belehrt. Als Kaiserin Zita 1989 starb, partout in jenem Jahr, in dem das kurze 20. Jahrhundert zu Ende ging, meinte ein Wiener Feuilletonist über das Begräbnisritual, bei dem alle Habsburgertitel vor dem Einlass zur letzten Ruhestätte in der Kapuzinergruft verlesen werden: „Als Herzogin von Auschwitz kann man sie guten Gewissens aber nicht mehr bezeichnen!“ Das geschichtsbewusste Bonmot – so gut es klingen mag – ist dennoch falsch.
Der amerikanische, in Oxford ausgebildete und in Yale lehrende Historiker Timothy Snyder belehrt uns mit seinem Buch über Erzherzog Wilhelm Franz Joseph von Habsburg-Lothringen (Der König der Ukraine – im Original The Red Prince) eines Besseren. Habsburgs Geschichte reicht bis in die Gegenwart.
Am Rande Kakaniens
Geboren wurde Wilhelm als sechstes Kind des k.u.k Admirals Erzherzog Karl Stephan auf der Insel Losinj (im heutigen Kroatien) am 10.2.1896. Wilhelm besucht das Gymnasium in Wien – bald übersiedelt die Familie ins schlesische Saybusch. Wir befinden uns hier am Rande Kakaniens mit seinen notorischen Nationalitätenkonflikten – eine der am häufigsten diskutierten Fragen ist die Einigung Polens – und ein Teil dieser Frage die sogenannte „ukrainische Frage“. Wilhelm hat sie während eines Jagdausfluges entdeckt: „Die Ukraine – ein Volk ohne Königreich.“ An der Wiener Militärakademie wird Wilhelm von 1912–1915 denn auch zum ukrainischen Thronanwärter aufgebaut: Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist die Frage mehr als aktuell geworden: Auf die überraschende Eroberung der Festung Przemysl durch die Zaren-Armee erfolgt 1915 die Rückeroberung Lembergs. Wilhelm reitet an der Spitze „seiner“ ukrainischen Soldaten in der Ostgalizischen Hauptstadt ein. Den Titel „Roter Prinz“ erhält er aufgrund seiner Liebe zum einfachen Volk – das heißt, weil er sich im Ersten Weltkrieg gegenüber den „ruthenischen“ Bauern weniger rabiat verhielt als das in der k.u.k. Armee üblich war.
Umsichtig und vor allem in Kenntnis einer Vielzahl von Quellen dröselt Timothy Snyder die verwickelten Beziehungen zwischen Kakanien, Russland und Deutschland, zwischen dem neu ausgerufenen Königreich Polen und dem „Fürstentum Ukraine“ auf. Und er versteht es meisterlich und spannend seinen Protagonisten Wilhelm Habsburg, der sich mittlerweile Vasily Vyshyvaniy nennt, in Szene zu setzen: als der etwa im Zuge der österreichischen Besetzung der Ukraine mit seinen Ukrainischen Sitschower Schützen (Ukraїnski sichovi stril‘tsi) nach Odessa aufbricht – oder als er im Chaos der unzähligen ukrainischen Regierungen und als Militär der sogenannten Ukrainischen Volksrepublik am 6. November 1918 Czernowitz besetzt (das sogleich von rumänischen Truppen eingenommen wird). 1920, mit dem deutsch-sowjetischen Vertrag von Rappallo, ist der Traum einer unabhängigen Ukraine ausgeträumt. Wilhelm hat das Land längst verlassen und eröffnet in München, im Dunstkreis ehemaliger Militärs, rechter Freiwilligenverbände und der „Ukrainischen Nationalisten“ ein sogenanntes Agitationsbüro.
Wilhelms letzter Meinungs- und Frontwechsel, diesmal gegen die Nationalsozialisten, führt zu seinem Untergang.
„Das Europa des Jahres 1920“, so Timothy Snyder, „ist ein Treibhaus des Revisionismus“. Kein Land, das nicht auf eine Revision seiner Grenzen drängt, das Ganze ist ideologisch mit Bolschewismus und antibolschewistischen Bewegungen garniert, beide greifen immer mehr zu den Mitteln des Terrors. Seinen Traum von einer unabhängigen Ukraine hat Wilhelm noch nicht ganz aufgegeben – er gibt die Losung aus: „Ukrainer aller Länder vereinigt euch!“. Aufgegeben hat er auch nicht seine übernationalen Prinzipien: Als 1922 im Vertrag von Riga zwischen Polen und der Sowjetmacht Ostgalizien Warschau zugeschlagen wird, kommentiert er die Pogrome bei der Besetzung mit Lemberg in der Wiener Zeitung: „Macht das eine Kulturnation?“ (Mittlerweile träumen einige Habsburger wieder von Restauration.)
Fehlschlagen werden auch die diversen Projekte im internationalen Immobiliengeschäft, die Wilhelm in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre im Schutz seines Verwandten, des Spanischen Königs Alfons XIII., unternimmt: Stattdessen entdeckt er – immer auf der Suche nach einer Vaterfigur – seine Begeisterung für Benito Mussolini. Mit von Moritz Esterházy, einem anderen Verwandten, geborgten Geld kauft er ein Haus in der Nähe von Paris. Affären mit diversen Revue-Girls, darunter die Sängerin und Tänzerin Mistinguett, beherrschen das rauschende Pariser Jet-Set-Leben mit prominenten Randfiguren wie Djagilew oder Picasso – und vor allem Männer-Geschichten: „Wilhelm hat es gern derb und er hatte es auch gern orientalisch.“ Laut der Pariser Polizei, die natürlich wusste, dass sich hinter Vasily Vyshyvaniy ein Habsburgischer Erzherzog verbarg, war Wilhelm „ein Habitué“ in den „maisons spéciales“ – eine Umschreibung für die Homosexuellen-Klubs des Montmartre. Den fünf Jahren Gefängnis, wozu er infolge eines obskuren, möglicherweise vom tschechoslowakischen oder vom sowjetischen Geheimdienst angezettelten Finanzskandals verurteilt wird, kann er sich nur durch Flucht nach Wien entziehen. T. Snyder resümierend: „Das wichtigste Anliegen seines Lebens – wenn er sich nicht gerade im Bordell oder am Strand vergnügte – bestand darin, das schwer geprüfte ukrainische Volk von der Bolschewikenherrschaft zu befreien. In seiner Vision einer habsburgischen Restauration würden die Ukrainer die Monarchie wählen, gerade weil sie unter den Sowjets so sehr gelitten hatten. Bei all seiner Frivolität und Verantwortungslosigkeit, was die Natur des Kommunismus in der Ukraine anging, hatte er fraglos Recht.“
Vaterländische Front
Damit ist vor allem Stalins „Holocaust in der Ukraine“ angesprochen, die systematische Aushungerung von drei Millionen ukrainischen Bauern durch die Sowjetmacht, laut Snyder das „bis dahin furchtbarste Drama des 20. Jahrhunderts“. Wilhelm engagiert sich bei einer groß angelegten Spendensammlung. Dazu ist er, der noch immer als ukrainischer Thronfolger im Gespräch ist, auch verpflichtet – von Habsburg-Restauration ist in dieser Zeit des österreichischen Ständestaates ohnehin vielfach die Rede. Wilhelm wird Mitglied eines obskuren Georgs-Ordens, er tritt der „Vaterländischen Front“ bei, den „Anschluss“ im März 1938 begrüßt er weniger aus Sympathie für die Nazis als aus Befriedigung „finsterster Wünsche“ – Hitler ist den Plänen von Wilhelms Gegenspieler Otto von Habsburg zuvorgekommen. Und mittlerweile ist Wilhelm auch zum Antisemiten geworden. Es gehört zur Ironie der Geschichte (die kein Sándor Márai und kein Joseph Roth hätten erfinden können), dass der „letzte Habsburger“ von den Nazis zum Millionär gemacht wird: Als sogenannter „Rasse- und Kulturdeutscher“ erhält Wilhelm als Entschädigung für das von den Deutschen nationalisierte Landgut samt Brauerei in Żywiec in Polen eine Entschädigung, deren Höhe heute rund acht Millionen Euro entsprechen würde. Wilhelm ist ein gemachter Mann.
Das Europa des Jahres 1920 ist ein Treibhaus des Revisionismus.
Wilhelms letzter Meinungs- und Frontwechsel, diesmal gegen die Nationalsozialisten, führt zu seinem Untergang. Die von den Nazis (trotz massenhafter Kollaboration) enttäuschte Hoffnung auf eine selbständige Ukraine führt noch während des Zweiten Weltkrieges zu Kontakten mit dem britischen Geheimdienst: In der Annahme, die westlichen Alliierten würden in Hinkunft die Ukraine als antibolschewistisches Bollwerk gegen Moskau unterstützen, stellt er im mittlerweile befreiten und besetzten Wien des Jahres 1945 Kontakte zwischen nationalistischen ukrainischen Emigranten und dem französischem Geheimdienst her. Das bringt den sowjetischen Geheimdienst auf seine Spur. Als der zum österreichischen Demokraten geläuterte Wilhelm Habsburg (mittlerweile ÖVP-Mitglied) am 26. August 1947 seine Wohnung im 3. Wiener Gemeindebezirk verlässt, wird er vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und per Flugzeug nach Lemberg verbracht. Im Mai 1948 wird er in Kiew als englischer und französischer Spion zu 25 Jahren Haft verurteilt. „Am 18 August 1948, nach 337 Tagen in sowjetischem Gewahrsam, starb Wilhelm an Tuberkulose. Es war der Geburtstag von Kaiser Franz Joseph.“
Pikantes Detail nach dem Ende dieser tragisch-schillernden Lebensgeschichte: Als die österreichischen Behörden 1952 von den Sowjets eine offizielle Todesmitteilung erhalten, erklären sie sich für nicht zuständig. Wilhelm, der nie seinen Thronanspruch aufgegeben hatte, hätte 1936 gar keine Staatsbürgerschaft erhalten dürfen. Snyder trocken dazu: „Vier Jahre nach seinem Tod ließ Österreich ihn fallen.“