Kampfzonen

Menschheit – bio-, neuro-, informationsökonomisch. Von Manfred Faßler

Online seit: 15. Oktober 2019

Seit kurzem wissen wir: alle Menschen, die sich der digitalen Volks-, Körper- und Klickzählung unterziehen (z.B. 15 Millionen pro Sekunde allein bei/für Google), in dem sie in digitalen Netzwerken präsent sind, haben 2009 locker 800.000 Petabytes Daten der Welt, also sich geschenkt. Dazu beigetragen haben elektronische Beleidigungen, Liebesbriefe, Kochrezepte, Urlaubsfotos, idiotische oder humorvolle Videos, Mails, PDFs, Foren-Kommentare etc. Ärmlich wirken da die Megabytes der digitalen Kameras, schon etwas zeitgeistiger die Giga- und Terabytes der Festplatten im PC. Ende 2010 können wir die Korken knallen lassen: WIR (?!) überschreiten die Grenze von 1.000.000.000.000.000.000.000 Byte. Willkommen im ZETTA-UNIVERSUM. Was können wir damit machen? Ganz einfach: Wir können mit den DVDs, auf denen diese Daten speicherbar sind, 84 mal den Mont Blanc Tunnel füllen oder 41 mal das Wembley-Stadion „bis zum Dach“, wie Christoph Albrecht-Heider in der Frankfurter Rundschau vom 5.5.2010 schrieb, oder einmal zum Mond und wieder zurück. Wenn ich jetzt noch weiß, dass in meinem Durchschnittshirn 100 Milliarden Neuronen aktiv sind, und noch bedenke, dass dieses Gehirn jetzt weiß, dass gegenwärtig 6.815.500.000 von unserer Menschensorte auf diesem Planeten leben, und jede Sekunde weitere 2,5 Menschen hinzukommen, dann, ja, Moment mal, worum ging es? Brauche ich noch Daten, sollte ich für meine Antworten auf das Jahr 2020 warten, wenn 35 Zettabytes das Jahresbudget der Unterschiedsökonomie sein werden?

Nein, Abwarten hilft nicht.

Denn, obwohl viele Menschen mit diesen unsichtbaren Datenmassen und Datenkörpern nichts anzufangen wissen, werden diese genutzt, ökonomisiert, kommerzialisiert, in technomediale Systeme überführt, und technologisch in Archive als Situationspotentiale übersetzt. Auf sie wird „zugegriffen“, wie in einem Kampfeinsatz.  Ego-Shooting. Dem einzelnen Nutzer wird versprochen, über ein „individuelles“ Zugriffsmonopol auf das Netz zu verfügen. Wie lächerlich. Folgt man diesem Versprechen nicht, sondern weiß um die digital-offensichtlichen Spuren, stellt sich die Frage nach Verstecken, unentdeckten Kooperationen, sprachlich, wörtlich unauffälligen, also nicht über Sprach-Selektions-Listen kontrollierbaren Gesprächsverläufen. Ist die Nachfolge von Demokratie das digitale Highjacking, Culture Jamming, Cultural Hacking? Aber mit welchem Ziel? Unter welchen Auswahloptionen? Mit welchen Sinnangeboten?

Der wahrscheinliche Mensch

Den Kunden werden die Massen an Daten als großes Versprechen angeboten. Dabei ist immer klar, dass nicht die Massen, sondern die Auswahlen zählen, nicht die seriellen Schaltungen (also auch nicht die endlosen Verlinkungen), sondern die selektiven Codes. Die Verfügung über Auswahlcodes, über die Hackerintelligenz des gezielten Einbruchs durch rechtlich-offizielle Trojaner, über gezielte auswählende Sammlung von Nutzungs-, Link-, Kommunikations-, Wohn-, Kredit- und Gruppendaten, ist zur globalen Machttechnik geworden. Sie ist keine Macht „einmal für immer“, nicht einmal „für länger“, kein institutionelles oder staatliches Drohpotenzial. Es genügt zu versprechen (oder zu drohen), dass über den Schreib- und Sprechstil rückverfolgbar ist, wer dies schrieb oder sagte, dass jede Person über ihren Informationskonsum mit hoher Wahrscheinlichkeit treffend dargestellt werden kann. Informationskonsum als Ressource für unsichtbare Beobachtungs- und Polizeifunktionen.

Der spätbürgerliche Charme unwahrscheinlicher Individualität, in der noch der kleine Widerstand des Andersein-Könnens hockte, ist vorbei. Abgelöst ist er von dem wahrscheinlichen Datenkörper: von der genetischen Wahrscheinlichkeit bestimmter Krankheiten, der neuronalen Wahrscheinlichkeit von Denkereignissen oder der informationellen Markt-Wahrscheinlichkeit von Konsumereignissen. Diese können sich ändern, können variieren, dies aber nur im mikropolischen Arrangement zwischen Entstehung und Zirkulation. Es sind Kalküle, versteckt in Unsinnlichkeiten von Genomen, digitalen Maschinencodes und neuronalen Netzwerken.

Erschrecken sollten uns nicht die Massen an Daten oder deren Unsichtbarkeit. Denn wir sind evolutionär nicht gerade reichhaltig mit direkten biologischen Fähigkeiten ausgestattet, um Welt in den meisten Facetten zu beobachten. Dafür hat unsere Biologie koevolutionäre Techniken erfunden. Nicht einmal der Übergang vom Zetta-Bytes Weltalltag zum Yottabyte-Universum, vielleicht verwaltet von Quantencomputern, sollte irritieren.

Erschrecken sollten die mangelhaften, ja ärmlichen Versuche, Regelwerke auswählender visueller, semantischer, projektgebundener Verdichtungen für die Komplexitäten der Datenströme zu entwickeln.

Erschrecken sollten die Humanisierungsdefizite, die in den fahrlässigen und zahlreichen Verzichten bestehen, Lebenszeit mit Echtzeit in Zusammenhänge zu bringen. Stattdessen wird jene auf diese reduziert. Ich stimme K. S. Rajan in der Feststellung zu, dass der „experimentelle Moment in den Humanwissenschaften“ zunehmend an Bedeutung gewonnen hat (2009, 42). Erforderlich bleiben vom Moment unabhängige Erklärungen ihrer Verbindungen, will man nicht in ein Serienmodell von Momenten abgleiten.

Erschrecken sollten auch die Nachlässigkeiten, mit denen genetische, epigenetische, neuroökonomische oder informationsökonomische Unsichtbarkeiten in interaktive Bewegungen gesetzt werden. Folgen und Ergebnisse werden dabei nicht zur Diskussion gestellt. Auffällig ist, dass digitale Netze auf informationelle Selbsterhaltung programmiert sind. Folgen (im Sinne einer Informationsfolgenabschätzung) versickern im Content-Getümmel. Kritische Differenzen müssen sich informationell bewähren, lösen sich also wieder in Datenströmen des Beta-Testing auf.

Und Meinung, Einzigartiges, Irritierendes, Unbekanntes? Individualität? Erfinderische Intelligenz?

Kritik an dilettantischen oder naiven Beiträgen in unterschiedlichen Netzwerken, an unprofessionellen Artikeln über die Wissensbestände des Abendlandes auf Wikipedia oder hundert Millionen von Seminar-PDFs, ist wohlfeil. Die Kritik in den Erkenntnissen von Psychologie, Physik, Informatik etc. zu begründen, ist selbstverständlich und schlüssig, wie dies unter der koordinierenden Dauerarbeit von John Brockman von David Gelernter, Jaron Lanier, Stephen J. Gould, Daniel C. Dennett, Marvin Minsky und anderen  gemacht wird [http://www. edge.org ].

Allein, es reicht nicht oder setzt verkehrt an.

Denn es scheint mir wenig hilfreich, im Wissenschaftsgestus festzustellen, dass Menschen unter Informationsbeschuss langsam an struktureller, kombinatorischer Intelligenz einbüßen. Menschen verlieren nicht nur an Unterscheidungs- und Entwurfsintelligenz durch Sekundenlinks und Datenströme. Dies geschieht ebenso durch Wissenschaften, die sich nicht die Mühe machen, jene biotechnischen und soziotechnischen Zusammenhänge entwerfend und exakt zu beschreiben, die ihnen wichtig zu sein scheinen. Einesteils stimme ich dem Kollegen Martin Korte, Neurobiologe aus Braunschweig, zu: „Wir müssen klären,…wie Medien geschaffen sein sollten, damit sie unser Denken fördern.“ (FAZ, 30. April 2010) Anderenteils müssen wir klären, wie Realitätsmodelle (Heuristiken) geschaffen sein sollten, damit sie unser Denken fördern.

Zusammenhänge vorstellen

Einfach wird dies nicht. Wohin man blickt: bewegliche, kurzzeitige, reorganisierende Vermarktungen und Vermachtungen. Eingebettet in immer enger verknüpfte bio-, info- und neuroökonomische Wechselwirkungen, bilden sich kurzzeitige Welt- und Lebensoptionen. Ihre Empirien sind nicht mehr die von getrennten Segmenten. Flexible und flexibilisierte Machtlandschaften entstehen. In vernetzten Abhängigkeiten entstehen im 21. Jahrhundert  vorläuferlose Zusammenhänge, neue Ökologien, Wertschöpfungsketten, Produkte und Ökonomien menschlichen Lebens.

Ihre Betriebssysteme liefen über mehrere Jahrzehnte getrennt, ohne beobachtete koevolutionäre Grenzverwischungen. Digitale Veränderungen schienen nur die Werkzeugkisten der Kommunikation zu betreffen; das Fly Genome Project, das Human Genome Project oder solche für Schweine und Schimpansen erschienen als biologische Code- und Sprachspiele, vor allem in den öffentlichen Gesprächen auf empfundenem Abstand zum werdenden menschlichen Leben gehalten; The Decade of the Brain und hierdurch angestoßene Hirnforschungen traten die neurowissenschaftlichen und experimentalpsychologischen Entdeckungsreisen in die Areale des Nicht-Bewusstseins und Denkens an, ohne zunächst der künstlichen Intelligenz die Hand zu reichen; die pharmazeutische Industrie, als Life Science neu aufgestellt, trug Methylphenidat (Ritalin) als Gehirn-Leistungs-Steigerungsmittel (Neuro-Enhancement) bei. Ein Gesamteindruck schien nicht zu entstehen. Und: Wissenschaften suchten nicht nach Zusammenhängen, die in ihren Forschungsmodellen und Denkweisen bestehen oder durch die Anwendung ihrer Ergebnisse entstanden. Alles schien sich auf isolierbare Einzelereignisse, auf wissenschaftliches Abteilungswissen eingrenzen zu lassen; ‚gewachsenes‘ professionelles Selbstverständnis, – in der transdisziplinären Blindheit allerdings skandalös.

Bio-, Info- und Neuro-Prozesse, einander disziplinär fremd gehalten, schufen dennoch zunehmend stabilere Zusammenhänge. Sie überschritten die Grenzbereiche der fabrik-industriell ausgezehrten, im bürokratischen Verwaltungs- und Kontrollraum versunkenen Moderne. Dabei fällt auf: diese wissenschaftlich-technischen Dynamiken hatten nie Verbindung zu architektonischen, ästhetischen oder philosophischen Post-Modernen aufgenommen. Ging es diesen um entlastende Umdeutung der Stellung des Individuums, zielten alle angesprochenen Forschungen auf Codes und Programme zur Erzeugung anderer Lebensbedingungen, anderen Lebens. Verloren sich die einen im semantischen Gerangel, machten die anderen mit Themen und Forschungen Karriere, weil sie Neues (nicht nur anderes) versprachen und zu ermöglichen schienen. Was ihnen, trotz aller Anstrengungen nicht gelang, war eine Zusammenschau, der Blick auf die vielen Nebentische. Immer wieder versuchtes interdisziplinäres Denken gelang in Anträgen, kaum in Ergebnissen. Bezogen auf  (im weiten Sinne) bio-technische und sozio-technische Veränderungen gelang ergebnisreiche Interdisziplinarität gar nicht.

Was Wissenschaften nicht gelang, wird jetzt erzwungen durch Konsum und Ökonomie. Breit gestreuter privater Konsum info- und biotechnologischer Produkte, unter anderem die Ausdehnung der Leistungsbreiten von Bio- und Medizininformatik, der legale oder illegale Konsum von Neuro-Verstärkern, um den Anforderungen von Aufmerksamkeits- und Präsenzökonomie zu entsprechen, erschaffen die Zusammenhänge. Der Cyborgisierung des Körpers (Donna Haraway) folgt die Cyborgisierung aller Lebens- und Reproduktions- Zusammenhänge.

Zusammenhangs-Wissenschaften werden dringend. Gefragt sind Vorstellungskraft, Imagination der Informationsfolgen. Es ist an der Zeit, den Screens, Displays und Interfaces die exklusive Darstellungsmacht zu entziehen.

Das Gegenprojekt heißt IKONO-KRATIE. In ihr wird es um den Mehrwert an Vorstellungs- und Einflusszusammenhängen gehen. Information und Wahrscheinlichkeit mit Fiktion und pragmatischer Imagination zu verbinden wird zur vorrangigen Intelligenzleistung. Durch sie werden die vagen Begriffe wie Anwesenheit und Beteiligung im Netz mit Fragen nach Zeitformen, relativer Dauer, Meinungsverschiedenheit, informationelle Assoziationsfreiheit, virtuelle Versammlungsfreiheit etc.  verbunden. Es wird wichtig werden, die informationelle Darstellung als informationellen Ausdruck, als Lebens- und Welt-Anschauung zurückzugewinnen.

Bio-infopolitische Miniaturen

Erfindungen dominieren, die die körperlichen Entwicklungen, menschlichen Kooperationen von ‚innen heraus‘ verändern – vom Genom, den Neuronen, den Informationen ausgehend. Mit diesen greifen Menschen experimentell, risikobereit, ahnungslos in die Bahnungen und Faltungen des Denkens ebenso ein wie in die der Selbstorganisation des Organischen (von Menschen) und Anorganischen (von Vehikeln, Robotern). Grob gezählt sind es drei experimentelle Szenarien, die das 21. Jahrhundert beeinflussen: Molekularisierung (post-genomische Biologie), Miniaturisierung (nano-technologische und biotische Materialforschungen) und Mikrologisierung (daten- und informationstechnologische Veränderungen).

Im Verbund sind diese 3-M-Szenarien zu Betriebssystemen der Menschheit geworden, verändern diese. Es ist falsch, diese Entwicklungen als sich zuspitzende Technisierung oder Maschinisierung zu kritisieren. Ohne die digitalen Mikro-Technologien, die informatische Virtualisierung von Körpern, Orten, Beweisen, ohne die damit einhergehenden Lebenswissenschaften, Bio- und Medizininformatik wäre dies nicht machbar. Alles beginnt im Kleinsten und endet dort. Eine egoistische Mikrologik.

Allerdings: Es sind Bio-Techniken, in denen der Mensch zentral bleibt, als Ressource. Eine neue Ressourcenökonomie zeigt sich in Umrissen. Das gilt es zu verstehen. Geistiges, Wissenschaftliches, Technisches und Ökonomisches verlassen nie den biologischen Raum der Möglichkeiten. Dies erklären zu können, erfordert eine umfangreiche Naturalisierung der Forschungen und Vorhaben. Berechtigt ist deshalb die Forderung von Wolfgang Pauen und Gerhard Roth (2009) nach einem „aufgeklärten Naturalismus“. Eine aufgeklärte naturalistische Anthropologie ist damit angefragt.

Explosive Dehnungen der Innenwelten

Molekularisierung, Miniaturisierung, Mikrologisierung trennen den Menschen nicht nur von der klassischen Sicherheit der Formen. Ein anderer sozialer Klassiker bricht weg: Innen-Außen-Unterscheidung.

Die rasante Umstellung des menschlichen Differenzierungsvermögens auf Daten und Informationen treibt ganze Generationen von Menschen in das bedrohliche Gefühl, im Cyberspace, in Datenfluten und Bildermeeren verloren zu gehen. Überall liest man von Aufmerksamkeitsdefiziten. Dies gilt nicht nur für Schüler und Schülerinnen, sondern anscheinend auch für Zeitungsherausgeber. Mensch kommt nicht nach, kommt nicht mit, liest man. Zu wenig Links, zu wenig Tags, zu wenig Fans in Facebook, zu wenig wovon auch immer? Oder doch ein anderer Mangel? Die 3-M-Szenarien beunruhigen, weil sie ohne Abschluss sind. Ihre kombinatorische Offenheit verunsichert. Es fehlt jegliche Ästhetik und Politik der unsichtbaren, rasanten, zwingenden ‚künstlichen‘ Zusammenhänge.

Ungleichheit und Machtlosigkeiten entstehen durch die Verlagerung der sinnlich-reflexiv begründeten Innenwelten des Menschen in depersonalisierte Netzwelten. In ihnen muss sich der Nutzer-Mensch ‚neu zusammensetzen‘, unter den Bedingungen der informationellen Innenwelten. Informationelle Imitation. Zugleich sind diese netzweltlichen Innenräume informationell nicht zu bändigen. Es sind Fließzustände, chaotisch, heterogen, nicht mal einheitlich hierarchisch. Sie saugen Wahrnehmungsfähigkeiten ab und erzeugen Augenblicksgeschehen. Richard Sennett meinte in dieser „Neuen Kultur des Kapitalismus“ die Ökonomisierung von Sensibilität zu erkennen. Eine Art Dauernervosität entsteht. Ständige  Informationslinks ohne neuroökonomische Belohnung: User auf der Jagd nach dem abschließenden, alles stoppenden Erlösungslink?

Der Cyborgisierung des Körpers (Donna Haraway) folgt die Cyborgisierung aller Lebens- und Reproduktions-Zusammenhänge.

Die (3-M-)Ressourcenökonomien erzeugen eine „konzeptuelle Topologie“ des menschlichen Lebens, wie Kaushik Sunder Rajan (2009, 42/43) schreibt. Am Beispiel des Human Genome Projects erklärt er, dass die 5 Staaten, die dieses Projekt anfänglich trugen, eine globale Ökonomie der Genome-Erschließung erzeugten, – eine Menschenforschungslandschaft, abhängig von mal hier (von diesem Staat), mal dort (von jenen Staaten und Unternehmen) finanzierten Labor-Aktivitäten.

Es entsteht Gattungspolitik, genetisch, topologisch.

All diese Prozesse sind bislang in keine lokalisierende, individualisierende, sozialisierende Menschenkonzeption übersetzt worden. Auf sich selbst verwiesen, ohne empfohlene und gepflegte Imaginationen ausgestattet, erhöhen sich die Taktraten des kognitiven Flackerns.

Pharmazeutische Beruhigung statt interaktiver Belohnung? Es scheint so. Der Verbrauch von Methylphenidat in Deutschland ist von 34 Kilogramm 1993 auf 1617 Kilogramm 2008 und weiter auf 1735 Kilogramm 2009 gestiegen. Dies bezieht sich auf Fertigarzneimittel in Apotheken (Quelle: BfArM, Bundesopiumstelle). Der Konsum dieses Opiates mag im Einzelfall sinnvoll sein. Aber die Defizite sind ‚hausgemacht‘, ‚schulgemacht‘, ‚ökonomiegemacht‘. Wir haben es mit keiner Fehlversorgung oder Überversorgung mit Informationen, Arzneien und Diagnosen zu tun. Vielmehr dominieren mangelhafte Erfahrungen von dauerhaften, belastbaren, selbstverständlichen, differenzierungs- und kritikfähigen Zusammenhängen in Netzwerken. Vordigital waren es Sozialisationserfahrungen.

Es fehlen kognitions-politische Debatten über Informationsarbeit als Wahrnehmungsarbeit. Da können wir uns noch sosehr um e-Learning, e-Research, Serious Games, um Genome und Neuronen kümmern: ohne eine Kontroverse um ‚Brain-Ware‘, um die informationellen Innenräume, die die Wahrnehmungen körperlich und zeitlich distanzlos absorbieren, ist jedes Reden über Wissensgesellschaft fade.

Sich für die Zukunft schlau machen, aufgeklärt

Wie ist aufgeklärtes Forschen und Entwickeln denkbar, wenn die drei Szenarien der Unsichtbarkeit angesetzt werden?

Woraus bezieht der Anspruch der Aufklärung seine Selbstbegründung?

Nun, jede Wissenschaftsgeneration sollte sich fragen, welche Zusammenhänge ihr wichtig sind und ob/wie sie auf diese Einfluss nehmen will. Kontroversen um Durchsetzung, Pragmatik und Programme sind damit selbstverständlich. Kontrolle oder Steuerung spielen dabei keine Rolle. Allerdings sind Erwartungen gegenüber gewissenhafter Berücksichtigung der Wissensfolgen – ob in Denkmodellen oder gegenständlich-strukturellen Anwendungen – hoch. Auch wenn sich dies zunächst reduziert auf einen Konflikt zwischen Marktfähigkeit und Rückgewinnung des Konzepts Zukunft im wissenschaftlichen Denken: Der Konflikt ist es wert. In ihm entsteht die Chance, über absichtliche und unbeabsichtigte Einflüsse, über angestrebte oder vermeidbare Zustände zu streiten. Entstehende Zusammenhänge wissenschaftlich wieder aufzugreifen führt nicht zurück in rationale, zentralistische oder kollektivistische Planung. Auch wenn aus komplexitäts-, chaos- und interaktionswissenschaftlichen Gründen jedwede Zukunftssicherheit ausgeschlossen ist, ist die Anfrage wichtig: Wie lässt sich Morgen denken? Die Antworten werden, obwohl sie sich auf die Macht der Natur des Unsichtbaren und der Miniaturen beziehen müssen, nicht klein ausfallen können.

Die Miniaturen der Welt, unsichtbar und schwerelos, bereiten eine weightless economy ebenso vor, wie schwerelose Kulturen und Körper, Netzökonomien und Körperoptionen in der digitalen Simulation der Bioinformatik oder Medizininformatik. Das Gewicht der Körper und Maschinen verschwindet in den Informationsströmen. Die Imaginationen von kulturellen oder sozialen Zusammenhängen werden in den Pixelwelten der Displays, Screens, Monitore ebenso neu erfunden werden müssen, wie die Selbstkonzepte von Mensch(-lichkeit). Immer öfter wird davon berichtet, dass immer mehr Menschen an Informations-Strömen, Hyperlinks, Multimedia-Desks nicht mehr erkennen können, was diese mit dem Menschen zu tun haben. Forschungen belegen, dass dieser Verlust möglicher Selbstbezüge kaum noch wahrgenommen wird, sondern in den Schneeballsystemen von aktivierten Links-zu-Links aufgefangen werden. Die erforderliche ‚smartness‘, kooperative Geschicklichkeit und Offenheit, wird nicht erreicht: zu viel Informationen, zu viel Mini, zu viel verschwundene Formen?

Diese mikropolitischen 3Ms zielen auf Werden und Entstehen, genetisch, organisch und geistig. „Wer das ‚Werden‘ kontrolliert, kontrolliert die Welt.“ Auch, wenn die organisch-anorganischen Komplexitäten mit klassischen Kontrollbegriffen nicht verbunden werden können, ist dies als Markt- und Machtgeste zu erkennen. Entwicklungs- und Anwendungseliten aktivieren ökonomische Eigeninteressen, oder wecken Fremdinteressen, wenn der Chaos Computer Club mit Unternehmen oder Innenministerium ‚zu tun hat‘, Hacker Firewalls für Konzerne entwickeln, Spieleentwickler in den Bildungssektor ‚einsteigen‘, etc.

Modell-Standards erforderlicher Körper, erforderlicher Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten werden bestimmt, ausgesetzt in die Netzwerke globaler Regionalkulturen. Patente für pflanzliches und tierisches Genfood, Patente für Social-Software, Patente für digital modellierte Hirnaktivitäten werden nachgereicht. Codes, Patente, Programme, rechtlich und ökonomisch aufgehäuft, sind Grundlagen für evolutions- und geopolitische Eingriffsinteressen. Eigentumsrechte an Produktionsmitteln und Kontrolle. Produktmärkte werden verdrängt von Möglichkeitsmärkten. Deren Leitlinie ist: ausprobieren.

Wohin das alles gehen soll, wird von den bio- und ingenieurswissenschaftlichen Programmierern jener Betriebssysteme nicht gesagt, die die Veränderung von Gattungs- oder vernetzter Lokalintelligenz bewirken. Dies ist kein Vorwurf. Allerdings erfordert das Zusammenwirken von Molekularisierung, Miniaturisierung und Mikrologisierung, sich deren Strukturmacht zu stellen.

Macht, beiläufig?

2007 rechnete die UNO vor, dass 2032 Computer die Kapazität des menschlichen Gehirns erreicht haben werden, 2057 die aller menschlichen Hirne der Welt. Viele Menschen arbeiten daran, absichtlich, unabsichtlich, zufällig. Anstoß für die Berechnung gab Moore´s Law (Gordon Moore ist Halbleiterfabrikant), nachdem die Speicherkapazitäten der Chips sich alle 18 Monate verdoppelte. Andere, getrieben von Neugier und Konkurrenz, arbeiten an Software, die hirnähnliche Ergebnisse erbringen soll. Von in den 1950ern gestarteten Arbeiten an Künstlicher Intelligenz, von Ray Kurzweil über Nicolas Negroponte, Marvin Minsky oder dem BLUE BRAIN-Projekt in Lausanne geht die Nachricht aus: Künstliches Denken wird gelingen. Was nicht gesagt wird ist: Es wird nur gelingen, wenn das menschliche Denken sich dem algorithmischen Denken verpflichtet, unterordnet. Was anfangs als Forschungsidee des Künstlichen irritierte, dann durch verblüffende Geist-Werkzeuge faszinierte, ist inzwischen zu einem globalen Markt avanciert. Dies geschah vor Kurzem.

Erst seit wenigen Jahren lösen sich Konzepte kommerzialisierbarer Wahrnehmung aus den Labors, werden patentiert. Der Verkauf von Informationen und deren Produktionsprogrammen verbindet sich mit Modellen, in denen menschliche Wahrnehmung, unbewusste und bewusste Unterscheidung, Entscheidungen und Erwartungen mit Computer- und Vernetzungsprogrammen gekoppelt werden. Gelingt dies, stehen geistige, emotionale, kommunikative Ressourcen zur Verfügung, die sich aus der Beiläufigkeit von Macht durch Spielkonsolen und Serious Games lösen. Ihre Macht ist die unverminderte Mobilisierung von Wahrnehmung. Es ist eine Mikropolitik der Echtzeit-Entscheidung. Kein autoritärer Staat, sondern autoritäre Wahrnehmungsökonomie. In ihr wird Hirn zum Konsumenten seiner Produktivität und zum Produzenten seines Konsums, – und der Mensch bezahlt dafür und wird bezahlt.

Informationsmarkt wird zum Echtzeitereignis, ökonomisch, geistig. Das Informational Engineering hat Karriere gemacht. Social und Financial Engineers haben komplexe mathematische Instrumente entwickelt, die eine Gruppe einzelner nicht mehr kontrollieren kann – allerdings Ministerien und Netzbetreiber, Google und NSA.

Es ist an der Zeit, über Serious Thinking zu sprechen, solches in dem flackernden Licht eines aufgeklärten Naturalismus (Pauen/Roth) zu entwerfen. Man muss sich schon erheben, um den Zusammenhang auch einer digital vernetzten Menschengruppe zu erkennen.

Beabsichtigt oder gar vorhersehbar waren die bio- und infopolitischen Machtkartellierungen nicht. Über lange Jahrzehnte war Computertechnologie entweder unproduktive Investition im Militärsektor, Technikstruktur von Versicherungen und Banken oder finanziert über die privaten Konsumtionsfonds der Familienhaushalte. Öffentliche Haushalte, die Computer für Schulen, Nahverkehrsbetriebe etc. kaufen mussten, kamen diesen Prozessen kaum nach. Heute sind neue Konkurrenten auf den Märkten. Sie bauen Wertschöpfungsketten aus Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Informationserzeugung und -konsum auf. Einprägsam formuliert Matteo Pasquinelli: Ein „Kognitariat“ entstehe, „Chainworkers“, hineingezogen in die „globalen Kapitalströme“, – die er leider nicht weiter erläutert.

Blaumann, weißer Kittel, Graue Masse

Dass Kapitalformate entstehen würden, die tief in die Denk-, Wissens- und Wahrnehmungsprozesse eingreifen werden, war so nicht vorauszusehen. Manche Medienwissenschaftler, so Norbert Bolz, meinten, in den technischen Screens, Displays und Interfaces schon den „Durchgriff auf das Gehirn“ erkennen zu können. Sie verzichteten auf neuronale Wahrnehmungsforschung. Vielleicht eine Ahnung, getränkt mit dem versickernden Versprechen, Ideen und Geist fänden ihre existierende Heimat immer im Geistigen, fälschlich als Immaterielles gedacht. Ein Manipulationsverdacht gegenüber dem Materiellen, der sich gegenüber der fast beiläufigen Ökonomisierung und Vermachtung von Wahrnehmungsprozessen wie eine altkluge Denktechnik ausnimmt. Und ruft: „Schützt das Gehirn!“, wo es doch alles Sache des Gehirns ist. Nein, es ist nicht der Elfenbeinturm, der verteidigt wurde. In dem Ruf nach dem Schutz der Wahrnehmung vor ‚den Medien‘ drückt sich Hilflosigkeit aus. Erfundene und durchdachte Schreib-, Speicher-, Fotografie- und Programmier-Technologie plus Ökonomie machen sich über ihre Entstehungsbedingungen her (und zum Teil auch darüber lustig): über die Graue Masse, die Wetware, das Gehirn.

Selbstorganisation (menschlichen Gruppen-, Erfinder- oder Soziallebens) entziffert sich als Selbsterzeugung. Die materiellen Verwandten, in der Feldarbeit und in der Handwerkszunft, in Industriearbeit und Bürokratie, in Labors und Großtechnikanlagen erfahren, geschult, gescheitert und dem Leben verbunden, versammeln sich in unseren Köpfen unter der Frage: Wie machen wir Leben weiter?

Für viele ist das ein Horror der bio-technischen Evolution: nach Jahrtausenden der urbanen und medialen Selbstverwaltung und Jahrzehnten des drohenden atomaren Overkill, nun die Mikrologie der Selbsterzeugung und Selbstzerstörung? Kein bakterieller Krieg, sondern ein informationeller? Die informationellen Netzwerke (das Internet, so Der Spiegel) als Waffe? Kulturevolutionär sind dies Zwischenprodukte. Sie lassen sich dramatisieren. Aber auch weniger dramatisch bedacht ist ungewiss, wie diese Prozesse zu zähmen sein werden.

Der Verbrauch von Methylphenidat (Ritalin) in Deutschland ist von 34 Kilogramm im Jahr 1993 auf 1735 Kilogramm im Jahr 2009 gestiegen.

Sehr viele Menschen sind daran beteiligt, weltweit, außerhalb ihrer überlieferten kulturellen und aktuellen sozialen Regelwerke. Manche sind professionell forschend, andere testend-experimentell, die meisten zufällig, konsumierend, kleine Änderungsvorschläge in Netzwerken hinterlassend daran beteiligt. Der praktizierte Transkulturalismus ist ohne jegliches verabredetes Regelwerk. Er ist nicht neo-liberal, sondern regellos aggressiv, nicht mal Ausnahmezustand, sondern Crash-Economy. Er folgt den Logiken der – bislang technoprogrammatisch gedeuteten – neuronalen, genetischen und digitalen Betriebssysteme. Es sind Macht-Miniaturen, unsichtbare Mikrozusammenhänge, die durch eine politisch-institutionelle und kultur-idealistische Lehmschicht unglaubwürdiger Ahnungslosigkeit geschützt wird. Wie oft habe ich den Satz gehört: „Ist doch nur Technik. Was hat das mit Kultur zu tun?“

Lange Entwicklungen der kognitiven, optischen, maschinentechnischen, chemischen Beobachtungstechniken haben dazu geführt, dass sich der Mensch nicht nur sezieren, sondern genetisch ‚umschalten‘ kann. Er (er-)findet in sich Dimensionen, die über Jahrtausende unbekannt, unentdeckt waren. Plötzlich gibt es Bereiche, in denen evolutionär / genetisch etwas ‚schief gelaufen‘ sein soll. „Genetischer Müll“ wird entdeckt, ebenso wie „Datenmüll“. Der ziellose Reichtum von evolutionärem Geschehen wird geleugnet, der ‚neue Mensch‘ immer noch gesucht. Reinheitssyndrome. Der Verwaltung folgen kulturevolutionär die ständigen Eingriffe, Erfindungen, Korrekturen, Diagnosen – und Therapien. Rauchverbot, Besonnungsverbot – Strukturen einer gesundheitspolitischen Vorsorge- und informationellen Kommandodemokratie entstehen.

Neuro-Info-Gen-Komplex

In den programmatischen und programm-technischen Verbindungen von Hirn, Computer und digitalen Netzen entsteht ein Neuro-Info-Gen-Komplex. In ihm werden sich die Menschen in all ihren Fähigkeiten verändern. Über ihn werden globale Dynamiken der Informationserzeugung und des Informationskonsums ebenso bestimmt, wie die vorläufigen Formate der Individualität.

Ein Weltmarkt der multimedialen/multisensorischen Wahrnehmung und Denktechniken entsteht. Es ist ein Weltmarkt, der auf das Hirn als Produktivkraft, Produktionsort und Konsumorgan zielt, ethnienfrei, kulturentlastet, keiner lokalen sozialen Schichtung verpflichtet: ein Weltmarkt der Anthropotechniken.

Die bürgerlichen Denk- und Bildungskartelle verlieren immer mehr ihrer Exklusivrechte auf Denkvermögen. Eine biologisch nachwachsende Produktivkraft und ein nachwachsender Markt für Informationskonsum wird aufgebaut, sehr nah am Ideal eines sich ‚frei bewegenden‘, unstofflich, engelhaft wähnenden Finanz- und Informations-Kapitals. Das Versprechen ist: in jeder Wahrnehmungssekunde Zugang zu Weltinformationen haben zu können, also zu einem Global General Intellect/GGI. Die Ökonomisierung des Denkens ‚von Grund auf‘ ist Focus von Bio-Technik und Bio-Ökonomie.

Legitimationskrise des Gesellschaftlichen?

An den Beispielen China, Iran, Nordkorea, Birma zeigt sich: Digitale Netzwerke haben Demokratie nicht verstärken können, verstärken diese nicht selbstverständlich. In den westlichen Gesellschaften trifft dies, unter anderen Bedingungen, in derselben Weise zu. Die Anfangs- und Überraschungsmacht der Netzwerke, als Netz-Anarchie, individualisierte Weltkommunikation, elektronische Pionierbewegung begrüßt, mit einer Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace (John. P. Barlow) versehen, ist verschwunden. Digital Hijack, von der Schweizer Künstlergruppe ETOY Mitte der 1990er umgesetzt, ist zu einem Großunternehmen geworden. Informational Hijack durch Google, Amazon etc. in Verbindung mit NSA, Sicherheitsbehörden, Innenministerien.

Es ist nicht gelungen, informationelle Politik zu formulieren. Stabile Zusammenhänge von Internet und dauerhaft entscheidungsrelevanter Beteiligung (alt: Öffentlichkeit) sind nicht gelungen. Wir nähern uns im Blindflug völlig veränderten menschlichen Lebensbedingungen, und die globalen Intelligenzen interessiert es nicht. Eine Debatte um sinnvolle und wertvolle Lebenszusammenhänge unter den Bedingungen der erreichten (digitalen) Miniaturisierung und (biologischen) Mikrologisierungen ist nicht zu erkennen.

Sollte man wütend sein, aufgebracht, zornig? Es wird nicht genügen. Ein alte Frage ist zu stellen: Wer hat das alles zugelassen? Die Antwort birgt den Kern der derzeitigen Humanitätskrisen, die in dem Weltmarkt der Anthropotechniken sich anreichern. Denn: Niemand hat diese koevolutionären Dynamiken ‚als Ganze‘ geplant oder vorausgesehen. So sind Bestände exzellenten Grundlagenwissens, ebenso exzellenten Experimental- und Spielerwissens entstanden. Begleitet werden sie von Tests in Genlabors, von Programmiervorschlägen in Netzlabors, von Milliarden Konsumenten, die als Beta-Tester nicht nur Software ihres Rechners verbessern, sondern Programme für Zusammenhänge mit erzeugen. Zugleich wird ‚Wissen im Netz‘ immer dilettantischer. Die Menge der Informationen nimmt zu, aber die Modelle, sie zu reduzieren und zu bewerten, werden weniger. Die Wissensausschläge flachen ab. Das Diktat der verkaufbaren Anwendung verhindert, dass einer aus der Rille springt, heute noch ‚unrealistisches Zeug‘ entwirft. Mensch, als Erfinder geboren, übt sich in Dilettantismus.

In einem radikalen Sinne verbinden sich die Miniaturen der biotechnisch unsichtbaren Zusammenhänge mit ‚User Generated Contents‘. Eine Welt der indirekten (anthropotechnischen) Biologie liegt vor uns. Sie ist organisiert nach den Prinzipien von Experiment-Markt-Konsum. Es gibt keine eingriffsfähigen (das heißt selektionsfähigen) gesellschaftlichen Regelwerke, die diesen (kognitiven und informationellen) Mikromodulen der Globalisierung entsprächen. Biologisch ist es dasselbe, wie das Beispiel Stammzellen-Forschung belegt.

Seit Jahrzehnten expandieren nicht nur die bio-technischen und informations-technischen Märkte. Nutzungs-, Wahrnehmungs-, Vernetzungs- oder Konsum-Gewohnheiten sind entstanden, die nicht nur Freie Warenmärkte erfordern. Sie verändern mit jedem Lernschritt die komplexen neuronalen Netzwerke der Wahrnehmung und die ebenso komplexen Fließformen des Denkens. Über Jahrhunderte waren Wahrnehmung und Denken über Schrift und Buch, Bedeutungsschulung und Institution relativ stabil gehalten worden. Bildung und Wissenserzeugung war öffentliches Gut. Hierin begründeten sich Ministerien, Verlagslizenzen, Staatsexamen für Lehramt, parteiliche Wahlfähigkeit und politische Legitimation für Steuermittelverwendung.

Nichts ist davon bislang in die Zusammenhänge der Informations- und Kognitions-Weltmärkte eingebracht. Wo sind die legitimierenden Argumente für eine veränderte Bildungspolitik? Wo sind die parteipolitischen Gedanken, die auf dem skizzierten Feld eine Position erkennen lassen? Sicher gibt es weder für die Entstehung, noch für die Durchsetzungen des Neuro-Info-Gen-Komplexes ‚eindeutige‘ Träger oder Gegner. Allerdings erfordern die Anwendungen und hieraus entstehenden selektiven Veränderungen aller Lebensumstände mehr und anderes als den rhetorischen Pakt von Humboldt und Bildung.

Ich teile die Einschätzung von Jaron Lanier, der in einem Amazon-Interview über seinen Text zu Digital Maoism und seiner Kritik am digitalen Kollektivismus sagt: „Web 2.0 is a formula to kill the middle class and undo centuries of social progress.“ (Jaron Lanier, Interview mit Amazon Q&A). Kollektivismus entsteht hier durch selbstverstummende Demokratie. Dass diese nicht mehr allein Land und Leute umfasst, ist lange geläufig.

Es ist Zeit, gegen Politik aufzubegehren, die sich jeder transreligiösen und anthropologischen Neubestimmung von Humanitätskriterien unter den Bedingungen der globalen Neuro-Info-Gen-Strukturen entzieht, beziehungsweise angesichts dieser versagt.

Ein stiller Weltbürgerkrieg?

Gegen die stummen Datenströme und stummen Politiken anzudenken, eine andere Denkökonomie zu entwerfen, ist nicht leicht. Wohl aber dringend. Wer ist Träger dieser Veränderung? Anzunehmen ist, dass es Teile der Weltbevölkerung sein müssen, die den Job übernehmen. Da es nicht vorrangig um Inhalte, sondern um Strukturen des Denkvermögens geht, stellt sich die Frage: Ist eine Opposition gegen Denkvermögen denkbar? Oder ist dies ein aussichtsloser Einstieg in die Mikropolitik der sich organisierenden Unterschiede, datentechnisch, genetisch, neuronal?

Niemand ist darauf vorbereitet, sich auf den Konkurrenz-Kampf um Denkvermögen einzulassen. Ausgerufen wird er ständig: ob in den Reden über die dringend zu pflegende ‚Ressource Wissen‘, über globale Wissensgesellschaft oder globale Informationsgesellschaft. Es fiel nicht auf, als unter dem Schutz von Roman Herzog in den 1990ern von Wissen als Ressource gesprochen wurde. Eine bessere Steilvorlage für die kulturelle Fusion von Hirnforschung und Digitaltechnologien konnte es kaum geben.

Gedacht als Aufruf, mehr in Bildung zu investieren, bestimmt die Rohstoff-Idee die globalen Konkurrenzkämpfe. Sie sind nicht auf kulturelle Identität, Positionen im politischen Gefüge, nicht auf Steinkohle, Energiequellen, Lebensraum bezogen. Es geht um bio- und soziotechnische Bedingungen des Denkvermögens. Anstürmen gegen Denken wird darin unsinnig. Aber wie sehen die pragmatischen oder normativen Maßstäbe aus, die Handeln gegen die Biopolitik des Denkens, des Informationskonsums, der Informationsproduktion begründen und begleiten? Wer will schon dumm dastehen, wenn er sich den Strukturen von Global General Intellect, den weltweiten Informationsströmen und Wissensräumen verweigert? Wie kann ein Kampf um die Programme des Denkvermögens aussehen? Einer der Schritte ist, aufzudecken, worum es geht:

Bewirtschaftung des Denkvermögens

Das Gehirn wird zur maschinenfreien Fabrik, ist im neurologischen und topologischen Dauereinsatz.

Es ist zum Ressourcenfeld möglicher Zukünfte geworden. Fern jeder Idee von Philosophen- oder Geist-Republiken, bilden sich Umrisse einer Neuro-Techno-Zivilisation aus.

Dies schließt blutige Kriege um die letzten klassischen Ressourcen auf unserem Planeten mit ein. Das Schmelzen der Polareiskappen forciert dies noch. Die letzten Rohstoffreserven für ein oder zwei Jahrhunderte können noch erobert werden. Ob dies mit konventionellen Kriegen oder über massive ökonomisch-politische Abhängigkeit geregelt wird, vermag ich nicht zu sagen. Ebenso ist die Aufteilung der Meeresböden noch lange nicht entschieden. Auch, wenn jeder Akteur weiß, dass es in solchen globalen Verteilungskriegen nur verlorene Sieger geben wird, wird aufgerüstet.

Dies werde ich hier nicht vertiefen. Befassen wir uns mit dem Neuro-Info-Gen-Komplex, der sich als neue globale Ressourcen- und Machtstruktur abzeichnet.

Beabsichtigt oder vorgesehen waren dessen Entwicklungen nicht. John v. Neumann, Claude E. Shannon, Alan Turing, Konrad Zuse hatten nicht vor, den Planeten mit Computern zu besiedeln, diese milliardenfach zu vernetzen und in Nanosekunden wechselseitig zu aktivieren. Francis Crick und James Watson hatten nie vor, DNA, Silizium und physikalische Vehikel verwachsen zu lassen, Benjamin Libet zielte mit seinen Experimenten von vor zehn Jahren auch nicht auf eine autonome biotechnische Intelligenz. Dennoch ist durch sie und Milliarden Nutzer, Erfinder, Anwender ein neues Erbe der Menschheit entstanden: die Kopplung des wahrnehmenden Denkens an die Echtzeit globaler Informationsströme.

Es ist eine Echtzeitökonomie entstanden. In ihr werden die liebevollen, abgelehnten, neu entworfenen Inseln von Lebenszeit aufgesaugt. Sie verschwinden in den Wirbeln des Global General Intellect, in wissensbasierten Ökonomien, globalen Wahrnehmungsnetzen, Informationsgesellschaften, visuellen Verständigungswelten, „Kognitariat“ (Matteo Pasquinelli), Inkonokratie (Manfred Faßler).

Der wievielte Kapitalismus? Die wievielte Kultur?

Beliebt ist derzeit die Drei. Der „Dritte Kapitalismus“ (Y. Boutang Moulier), „Die Dritte Kultur“ (Brockman und die edge-Gruppe), früher war es „Die Dritte Welle“ (J. Rifkin). Im Deutschen muss man sich mit dieser Zahl zurückhalten. Nehmen wir den Taufschleier der Drei weg, so schauen wir auf die sich zunehmend optimierenden Bedingungen für eine globale Denkgüterwirtschaft. Neuro-physiologische und technologische Betriebssysteme hierfür bestehen schon und werden verbessert.

Wertschöpfungsketten des Denkens werden erfunden. Neue Kapitalformate entstehen.

Da es Geldeigentümern immer egal ist, durch welche Ware die Kapitalisierung, also Profitabilität entsteht, ist der Schritt vom Organ- oder Informations- zum Gedankenhandel kein Systembruch.

Die Gedanken sind nicht mehr frei, wie es in der revolutionären Naivität des Vormärz in den 1840ern noch gesungen wurde. „Niemand kann sie erraten“, war die andere Idee. Nun, wahrscheinlich sind sie geworden.

Die Verschmelzung von Biotechniken des Denkens mit wirtschaftlichen Verwertungsinteressen ist allerdings nicht gleichzusetzen mit Handels-, Manufaktur- oder Fabrikkapitalen des 19. und 20. Jahrhunderts. Man wird unterscheiden müssen zwischen den Ansiedlungen von Kapitalen, die Geräte- und Chipproduktion betreiben, Softwareproduktion für Betriebssysteme, Spieleproduktion und Vernetzungsprogrammen, Portalen etc. Ein Wirtschaftssystem, das über längere Zeit ‚ansässig‘ ist, Land und Leute beherrscht, ist hierüber nicht zu beschreiben. Ein „kognitiver Kapitalismus“, der historisch Handels- und Industriekapitalismus ablöst, wie ihn Y. Boutang Moulier anspricht, oder ein informationskapitalistisches „Empire“, wie Toni Negri vermutet, ist (noch) nicht in Sicht.  Vielmehr bedienen sich die entstehenden Kapitalformen der Vernetzungsregeln: einer an alle, alle an alle. Der Informationskonsum regelt die Informationsproduktion: User Generated Content / Market / Capital.

Wahrscheinliche Menschen

Der alte Mythos vom Neuen Menschen weicht dem stumpfen Glanz des Wahrscheinlichen Menschen. Zu befürchten ist, dass dieser auch die Welt belasten wird.

Seit den 1950ern und mit der Etablierung der Künstlichen Intelligenz wurde an der Künstlichen Verwandtschaft digitaler und genetischer Wahrscheinlichkeit gebaut. Aus Computerclustern, Robotern, Elektrogehirnen, Vehikeln, Robotern, Cyborgs, Aibos, elektronischen Assistenten entstanden Szenarien der technischen und organisatorischen Lastenverteilung. Digitalisierung als nachindustrieller Lastenausgleich. Je länger dies dauerte, umso größer wurde der Druck auf den einzelnen Menschen, auf Berufsgruppen, Populationen. Die Entlastung schlug um in Konkurrenz mit den Zeitökonomien anonymer Netzwerke. In sich endlos erneuerndem zeitintensiven Anpassungs-, Lern- und Veränderungsdruck zeichnete sich die Härte des Prinzips der Konvergenz: Der Mensch konnte in Robotern, Aibos oder automatischen Assistenten nichts los werden. Das sich entfernende Außen, auf das Marshall McLuhan bei Medien setzte, in denen sich der Mensch im narzisstischen Rückspiegel betrachtete, kehrte rasant zurück.

Eine grandiose Fehleinschätzung hat viele Medien- und Kommunikationsmeister begleitet. Sie meinten, Denken, Technik und Medien beriefen sich auf einen entwicklungsfreien, metakulturellen Abstraktionsbestand, der sich vorrangig in Zahlen und Rechenverfahren ausdrücke. Man glaubte Werkzeuge, Tools, Displays gebaut zu haben, hatte aber mit ihnen und den sie erzeugenden Denkwelten tief in die Biotechniken menschlichen Lebens eingegriffen. Man rief nach Tools, und es kamen Lebenskrisen.

Die abstraktesten menschlichen Erfindungen und Systeme machen gemeinsame Sache mit dem denkenden Leben, dem Homo sapiens sapiens. Es zeichnet sich inzwischen eine unhintergehbare Materialverwandtschaft zwischen Leben und Unbelebtem, erfinderischen Gedanken und automatisierten Programmen ab. Es ist nicht mehr die verwandtschaftliche Ähnlichkeit von Maschinenmechanik und tierischem, menschlichem Skelett, die seit gut 2500 Jahren immer wieder inszeniert wurde, oder von ökologischen Kreislaufmodellen und menschlichem Stoffwechsel. Es ist vielmehr die Verwandtschaft von biologischen Denkprozessen und automatisierten Unterscheidungs-Synthesen. Aus dem Lastenausgleich ist eine herbe Enttäuschung und Konkurrenz geworden: einzelmenschliches Gehirn gegen Netzwerke, die von zahllosen Menschen in Informationsbewegung gehalten werden.

Das Ergebnis ist klar: Der einzelne Mensch kann nicht einmal einen Anschlusstreffer in den dynamischen 24-Stunden-Online-Netzwerken landen.

Schwarm, Leute, Crowd

Eine Antwort hierauf lautete: ‚Du musst nicht alles wissen und können, da Du Teil einer Schwarmintelligenz bist.‘ Es ist eine paranoide Fabel über einen neuen kollektiven Akteur. Schwarm statt Klasse, Nation o. ä. Schwarm erhält ein Symbolmandat, kann die kollektive Rolle des nationalen Bildungssystems oder der Kultur spielen. Richtig daran ist, dass diese kaum mehr anschlussfähig an die biotechnischen und soziotechnischen Netzwerke sind. Falsch ist dies, da Schwarm die biologische Individualität und phantastische erfinderische Einzelwelt der Individuen unterschlägt. Schwarm ist ein trickreich eingeführtes Steuerungselement des „cognitive capitalism“, von dem Y. Boutang Moulier 2001 und Hanno Pohl und Lars Meyer 2007 sprachen. Ihm entspricht auch die Idee der globalen Leutenetzwerke und des Crowdsourcing.

Es ist eine geschickte Reaktion auf den angesprochenen Konkurrenzkampf zwischen einzelmenschlichem Denken und netzimmanenten Massenakteuren. Und dennoch merken Menschen, dass es ihnen nicht hilft. Sie stehen in den vernetzten Prozessen der Überlegenheit, der ständigen Verluste von Zeit- und Unterscheidungssouveränität.

Die Entlastungsversprechen, die mit Datenströmen verbunden waren, schlagen um in die Belastungsökonomie einer ständig reflexionsarmen Aufmerksamkeit. Gleichzeitige Unter- und Überforderung sind ohne Verbindungen zu neurologischen Belohnungsbedürfnissen. Statt des Schwarms kündigt sich eine pharmakologische Ökonomie des Neuro-Enhancements an. Die elektronisch-digitale Steigerung der Datenverarbeitung, Speicherung und Informationserzeugung fordert das Gehirn beruflich, kommunikativ, erkennend, entscheidend heraus.

Der gegenwärtige Mensch tritt in den Ring mit seinen Erfindungen, und zwar geistig, das heißt hier: pragmatisch. Denkendes Wahrnehmen, das in den Entwicklungsverläufen menschlicher Lebensweisen entstand, verändert wurde, auf sich selbst Einfluss nahm, sich angstfrei vor- und nachdenkend entwarf, steht im Schlagabtausch mit intelligent gemachten Entscheidungsalgorithmen und vielen gesammelten schlauen Detailbeiträgen von Netznutzern. Wer dabei Hase und Igel ist, muss nicht weiter diskutiert werden. Die Antwort ist: „medikamentöse Verbesserung psychischer Eigenschaften“, wie es in „Neuro-Enhancement. Das Memorandum“ heißt. Ritalin-Orgien des wunschlosen Unglücks?

Netzindustrien

Die aristotelische Empfehlung, Glück als Ziel des guten Lebens dadurch zu erreichen, dass Mensch Verstandes- und Charaktertugenden einübt, wird in die Mikroprozessoren bio-, neuro- und info-ökonomischer Inanspruchnahme zerlegt. Tugend (virtus) wird zur zusammengesetzten Mitwelt. Informationstechnologische Netzwerke koppeln menschliches Wahrnehmen und Denken an seine autonomen Ergebnisse. Diese algorithmischen Kulturen verarbeiten im Dunkeln, was Menschen über leuchtende Displays und Interfaces eingegeben haben.

Nicht das Vertrauen in Blackboxes, nicht die Glaubwürdigkeit des Unsichtbaren muss erzeugt werden. Dies ist durch lange Jahrtausende religiöser, philosophischer, ästhetischer Symbolerziehung im Verhaltensgedächtnis. Auch ist die Telepräsenz längst durch Telefon und Television, Radio und WWW selbstverständlich geworden. Die Kapitale, die sich für die ökonomische Verwertung des Konsums von Fernanwesenheit interessierten (Post, Telekom, Medienunternehmen) haben etliches damit verdient und verdienen noch.

Allerdings ist ein neuer Wertschöpfungs- und Verwertungsbereich entstanden: eben jenes Information erzeugende, verschwendende, konsumierende wahrnehmende Denken. Ging es dabei um die vielen einzelnen Menschen, würde sich kein Kapitalisierungsinteresse regen. Alles könnte schön in ‚öffentlicher Hand‘ bleiben, über Steuern finanzierte verlorene oder später verwertbare Zuschüsse. Da aber Nutzungs-, Lern-, Entwurfs-, Kritikverläufe innerhalb der Informationsströme und Netzwerke erfolgen, entsteht eine Imaginations- und Wissensökonomie. Ihr Produktions- und Konsumraum wird durch die Kopplung von einzelmenschlicher Aktivität und Medien-Mensch-Netzwerken erzeugt. Der Nutzen des digital Unsichtbaren ist seine geschwinde Anwesenheit, und dass diese multisensorisch übersetzbar ist.

2007 rechnete die UNO vor, dass 2032 Computer die Kapazität des menschlichen Gehirns erreicht haben werden, 2057 die aller menschlichen Hirne der Welt.

Das Unsichtbare war Menschen schon lange glaubwürdig denkbar, geträumt als Transzendenz, als Immaterielles. Im bio-neuro-informationsindustriellen Komplex kehrt die Materialität zurück in das Denken, als Biochemie des Denkens, als Körper, Gefühl, Selbstorganisation, Medikament, Cyborg, Aufmerksamkeitsökonomie, Emotionsindustrie. Unsichtbare Daten, Informationen, Synapsen, Genome werden als globale, evolutionäre Lebensweisen erkannt – und zur Produktivkraft umgestaltet. Evolution als industrieller Assistent? Für welche Industrie? Die Festigung und Ausdehnung der Informationsökonomien hat in den letzten beiden Jahrzehnten eine Netzindustrie entstehen lassen.

Nicht allein die Produktion von Geräten und Software für digitale Netze ist damit gemeint. Netzwerke in sich sind zu mächtigen Reproduktoren und Produzenten ihrer ‚Generationsfolgen‘ geworden. Eine Art virtuelle Selbstindustrialisierung globaler Populationen ist entstanden. Frühe Phänomene waren die ‚Pro-sumer‘-Debatten in den 1980ern, von Alvin Toffler angestoßen, die Produzenten und Konsumenten im direkten Geschäft der Produktentwicklung sahen. Aktuell wird vom ‚Prod-user‘ gesprochen, von Social Software, vom Netznutzer, der durch Software-Nutzung deren verändernde Entwicklung erzeugt. Dingliche und sachliche Funktionsabstände und -unterschiede verschwinden in den Nanopolitiken der Schaltungs-, Entscheidungs- und Änderungsereignisse. Der Bio-Neuro-Info-Komplex verspricht eine ‚Allianz fürs Leben‘.

Verzehrt sich der Mensch? …

So als verzehre sich der Mensch in seinen abstrakten Erfindungen, als verlöre er sich in mikrobiologischen oder mikrotechnischen Welten, wird von den Unfähigkeiten abgelenkt, die „Arbeit der Imagination“, die Arjun Appadurai anspricht, zu beginnen. Den wirklich nicht zu überschauenden, nicht zählbaren, niemals erlebbaren Mengen an Informationen und beteiligten Menschen, Zellen, Atomen, Servern, Modems, Kanälen und vielem mehr ist nicht beizukommen. Warum auch? Welcher Kontrollhunger treibt die Kritiker, ‚alles in den Griff‘ zu bekommen? Bescheidenheit ist gefordert. Und diese heißt empirisch: einschränken können, reduzieren.

Unerwartet und unkalkuliert treiben die großen Abstraktionsräume Biologie (Zell- und Genomforschung), Physik (angewandte Mathematik, Informatik) und Neurophysiologie (Kognitionsforschung) aufeinander zu. Es gibt keinen Zusammenstoß. In vielen Prozessen der letzten Jahrzehnte haben sich diese Wissen- und Technikbereiche aufeinander vorbereitet. Im Kleinen der Desoxyribonukleinsäuren (DNS), der digitalen Femto- und  Nano-Schaltungen und der Neuronen, Dendriten, Synapsen und Neurotransmitter sind sie sich ähnlich geworden. Auch im Grundgedanken, die Welt von innen heraus zu verändern, aus den unsinnlichen Gefilden eines unterscheidungsreichen abstrakten Mikrokosmos.

… oder macht er sich?

Der Mensch macht sich mal wieder. Die genomischen, digitalen oder neurologischen Erfindungen liegen nicht mehr auf dem Schreibtisch oder im sozio-technischen Werkzeugkasten herum. Es sind keine ungegenständlichen Maschinen, sondern Mikro-Zustände, die ständig in anderen Körpern, Formaten, Formen auftreten können. Körperspiele. Informationeller Materialismus. Materialverwandtschaften zwischen allen bio-technischen Systemen. Neue Auseinandersetzungen über Menschenrechte, über kognitive und reflexive Eigenständigkeit, über Zeit- und Wahrnehmungsdemokratien stehen an, da die Kampfzonen des globalisierten Bio-Neuro-Info-Komplexes längst die alten Wissens-, Interessen- und Meinungsformate zur massenmedialen Folklore herabgestuft haben. Rasant wechselnde Aufmerksamkeits- und Beteiligungsratings überspringen die Redezeiten jeden Parlaments, die Bedeutungssuchen aller Talk-Shows. Globale Gen-, Neuro- und Interaktivitätspatente erzeugen aggressive Projekt- und Community-Ökonomien, die längst auch die klassen- und schichtenpolitische Streitgesellschaft hinter sich gelassen haben. Mit jedem Klick entstehen neue Wechselwirkungen, neue Wahrnehmungs- und Auswahloptionen. Wie lassen sich für mögliche Zukünfte Netzgesellschaften formulieren? Wie sind die Wechselwirkungen von Lokalität, Ansässigkeit, angesichtigen Beziehungen zu delokalisierter Sekundenglobalität, Communities of projects, Zufallskollektiven und Offshore-Societies zu beeinflussen? Wie können Respekt, Beteiligung, Zusammenhang, Verbindung und Verbindlichkeit in den Bio-Neuro-Info-Ökonomien eingebracht werden, – quantitativ, qualitativ? Oder sind sie längst im globalen Aufmerksamkeits- und Interaktivitätsrating abgewertet, liegen außerhalb der hochspekulativen Mikropolitiken auf eine wahrscheinlich andere Menschheit?

Heimweh nach dem Universalen?

„Heimweh nach dem Universalen“ sah Piet Mondrian (1872–1944) im Bemühen von Künstlern, eine weltweit zugängliche Bildsprache zu entwickeln. Es war eine einprägsame Haltung. Etliche Künstler widmeten sich der Abstraktion als Universalsprache, Wissenschaftler, wie Otto Neurath, folgten dem Bestreben. Aber die Deutungen waren doch sehr verschieden, reichten von religiöser Bildreduktion bis zu ikonotypischen Vereinfachungen der politischen Kommunikation. Es ist gerade diese Vielfalt im Umgang mit Abstraktionen, die auf etwas hindeutet: Menschen setzen Abstraktion nicht nur als Kritik gegen Ornament, Impressionismus oder Kitsch ein. Abstraktion nahm Gestalt an, sie rückte in die Zentren der ästhetischen, wissenschaftlichen, technischen Erfindungen. Abstraktion wurde Absicht. Und in dieser Weise war sie Befreiung und Bedrohung zugleich.

Noch waren Abstraktionen sichtbar oder konnten mit künstlerischer Hand sichtbar gemacht werden. Aber bereits Atomkern-Debatten und Vererbungsforschungen zeigten am Beginn des 20. Jahrhunderts: Wege der Forschung, Erklärung und Gestaltung führen unumkehrbar in unsichtbare Abstraktionen. Im Grunde war damit ein völlig neues Denken gefordert, eines, das sich auf den menschlichen Zwang zum denkenden Entwerfen bezieht, und nicht auf selbstverständliches Irgendwas. Es kam nicht in Schwung. In den wissenschaftlichen und künstlerischen Abstraktions-Zeichen wurden immer noch Geheimnisse ‚vor oder hinter der Sprache‘ vermutet, universale Bedeutung in der Abstraktion. Reste von Versöhnung schwingen bei Mondrian, Malewitsch und vielen anderen noch mit.

Allerdings: Universales, in das hinein Heimat und Heimweh adressiert werden konnten, zerfiel in der Nebelkammer und in den ersten Elektronenmikroskopen.

Eine biologisch-kognitive Sammlung von universalen Zeichen schien die Alternative. Den Gesichtsausdrücken wurde ebensoviel Aufmerksamkeit gewidmet, wie den Vermutungen über Archetypen der Erinnerung (C. G. Jung). Es begann die Suche nach universalen Abstraktionsregeln oder Abstraktionstypen. Obwohl noch unter Herren- und Rassendruck, hoffte man, den Sprach- und Bildquellen, den Zahlen und Formeln ebenso auf die Spur zu kommen, wie den Gesichtsausdrücken und Körperhaltungen. Allerdings zeigte sich schon bald, dass die nonverbalen Codes der Gesichter und Körper, evolutionär und damit genetisch bestimmt sind, während alle anderen Abstraktionen vom Menschen gemacht sind.

Eine Versöhnung im Zeichen der Zeichen zerplatzte.

Möglich, dass Jean François Lyotard seine Kritik an der Negation des Sinnlichen im Erhabenen auch dieser Situation dankte. Der Konflikt zwischen Bedeutung, die die Sinne negiert, und Pragmatik und Erfindung, die die Sinne und deren Informationsströme erfordert, ist damit nicht vom Tisch. Allerdings gewann das Verständnis von Abstraktion als „Offensichtlichmachen“, wie Ernesto Grassi es formulierte, an Erklärungskraft und reicht heute bis zum digitalen Feinstaub der unsichtbaren Globalisierung.

Abstraktion wird zur unsinnlichen Erkenntnis, zu einer erdachten Welt. Eine anthropologische Bedingung der Selbstorganisation rückt in den Blick: die zweiseitige Unterscheidung, die immer organisiert, immer Zusammenhang erzeugt, immer kognitiv-sinnlich ist, also Abstraktion und Design meint.

Dies hatte mit den Verhaltensweisen von Menschen und mit den sehr verschiedenen Prozessen der abstrahierenden Fähigkeiten/Selbstbefähigungen zu tun.

Evolutionäre Signaturen

Menschengruppen trennten sich in ihren Wanderungen voneinander, wurden sich auf den Wegen aus dem südöstlichen Afrika fremd, verloren sich in der Welt zwischen 150.000 bis 10.000 vor Heute aus den Augen und Erinnerungen, und trafen sich viele Generationen später als Konkurrenten, als Gegner, als Feinde wieder. Mondrians künstlerisches Hoffen ist Pathos eines erahnten Lebenszusammenhangs. Um diese künstlerische, weltliche und pragmatische Ahnung am Beginn des 20. Jahrhunderts geht es hier. Es war das künstlerische Versprechen, dass es möglich sein wird, über sichtbare, standardisierte, formalisierte Zeichen, nicht nur in der Fläche des Gemäldes Universales anwesend zu machen, sondern Menschen in der Welt anzusprechen, von ihrem universalen Zusammenhang zu überzeugen. Die künstlerische war eine anthropologische Nachricht. Die geometrischen Abstraktionen, die er einsetzte, versprachen universale Wahrnehmungstechnik und Wahrnehmungsstil. Nicht viele Menschen mochten dies, wurden in ihren Idyllen der Nachahmungen, der symbolischen Überfrachtung gestört. Einmal mehr waren Künstler wie Seismographen.

‚Abstraktion‘ und das ‚Universale‘ wurden die evolutionären Signaturen des 20. Jahrhunderts. Kunst, Biologie, Physik, Ingenieurs- und Technikwissenschaft setzten auf die Erfindung und Eroberung der Mikrostrukturen von Weltzusammenhängen. In den Abschwung der künstlerischen Verteidigung des Abstrakten traten Genforschung, synthetische Evolutionstheorien und schließlich Kybernetik auf. Sie stießen die Tore zur Welt erst auf.

Abstraktionen wurden in genetischen Kodes, digitalen Kodes, in elektrischen Röhren, Transistoren, in digitalen Programmen und rechnenden Räumen zur Quelle neuer Welten. Und mit ihnen begannen Menschen, nicht nur ihre Lebenszusammenhänge zu verändern. Sie zielten auf Lebensbedingungen und Lebenschancen.

Bereits im 20. Jahrhundert zeichnete sich ein Globaler Konflikt ab, der nicht nur durch Familiengenerationen geht, sondern durch die Menschheitsgenerationen. Zwei Generationen sind seit ca. 1950 mit Doppel-Helix, Genen, DNS, Television, elektronischen Gehirnen, Computern, EC-Karte, dem Verschwinden des TV-Testbildes, des Morsealphabets, der Scheckhefte, mit Video on Demand, Hyperlinks, Tschernobyl, Social Software erwachsen geworden. In ihren Wahrnehmungen sind Weltmuster und -modelle entstanden, die nicht nur unter die Haut gehen, sondern darauf beruhen, dass Unsichtbares Sichtbares erzeugt und umgekehrt. Zugleich stehen sie dafür ein, dass keine Form verlässlich ist, da sie den unsichtbaren Strömen der Informationen folgen.

An den Beispielen China, Iran, Nordkorea, Birma zeigt sich: Digitale Netzwerke verstärken Demokratie nicht selbstverständlich.

Der pragmatische, technologische, mediale und ökonomische Universalismus, der hierüber in Gang gekommen ist, betreibt einen stillen aber massiven Zusammenstoß von zwei Menschheitsvisionen. Die eine speist sich aus emotional aufgeregten monotheistischen Schöpfungs-, Vorsehungs-, Prädestinations- und Erlösungsglauben, denen Wissenschaft entweder verboten oder erst seit Kurzem in cartesianischer Variante erlaubt wurde. Ihr liegt der Sinn des Ganzen in der Integrität der Formen. Die andere speist sich aus offenen Menschheitsbildern, die auf evolutionäre Auswahlen, auf veränderndes Tun, auf veränderungsintensive Wechselwirkungen, auf Koevolution setzen. Individuelle Antworten sind für beide möglich. Die Entscheidungen darüber, welche Zusammenhangsversprechen gelten werden, sind allerdings im Bild des Individuums falsch platziert.

Die Selbstgespräche, die sich mit den Bildern, Geräten, Rechenverfahren, Beweisketten, Medien, Maschinen über wenige Jahrtausende ihre Menschenthemen suchten, setzen nun auf ein  neues Thema: der Mensch als Teil universaler Informations-Ökologien, als Energie-, Stoff- und Informationsverschwender und verschwenderischer Erzeuger.

Ein Zusammenstoß der Menschheitsbilder und der menschlichen Lebenserwartungen bestimmt die globalen Tagesordnungen. Es wird keine Konfliktstruktur mehr zwischen Norden und Süden, zwischen Westen und Orient sein, obwohl empirische, semantische und sachliche Bereiche oft und länger noch diesen Mustern folgen werden. Vielmehr werden diese Zusammenstöße durch die Gesellschaften und Kulturen gehen: völlig unterschiedlich differenzierte Welt-, Mensch- und Realitätskonzepte stehen gegeneinander.

Hören wir auf zu hantieren!

Die typografischen, industriellen und bürokratischen Architekturen der Selbstkontrolle, über zwei Jahrhunderte erarbeitet, geraten ins Wanken. Kulturen und Menschen waren und sind unvorbereitet auf diese neuen, anonymen, verbindenden und kontrollierenden Technologien des ‚Wir‘, in denen gleichzeitig Heimweh nach der gemeinsamen Lebensrealität und Abwehr der anthropologischen Gemeinsamkeit auftreten.

Jaron Lanier, Erfinder des Terminus ‚Virtuelle Realitäten‘ und intellektueller Begleiter der Netzentwicklungen, sprach vor Kurzem diese Technologien des ‚Wir‘ als „digitalen Kollektivismus“, als „Digital Maoism“ an. Haben diese anthropologischen Techniken wirklich den Hang, zwanghafte Kollektivierungen durchzuführen? Ist dieses Heimweh eine Falle? Eine Falle für Individualität, für krumme Wege, für Integrität der Persönlichkeit?

Hätten wir Menschen doch eher beim Fernweh bleiben sollen, bei entweichenden Horizonten, bei Sehnsucht und einem Leben mit unerreichbaren Zielsetzungen?

Vieles deutet daraufhin, dass Mensch sich hätte Zeit nehmen sollen, um diese massiven Kommunikations- und Kontrolltechniken zu entwickeln, also auf sich selbst anzuwenden. Aber alles zeigt, dass es keinerlei Entscheidungsgremium für diese koevolutionären Prozesse gab.

So stehen wir in Entwicklungen, in denen in der Tat alles das digitalisiert wird, was digitalisiert werden kann. Vor 25 Jahren war dies eine hingenommene Ankündigung. Gegenwärtig lesen wir täglich von Trojanern, die die PCs durchstöbern, ausspionieren, vom Durchbrechen der Firewall eines Unternehmens, von illegalem Sammeln personenbezogener Daten und deren Verkauf, vom Speichern einzelmenschlichen Nutzungs-, Konsum- und Kommunikationsverhaltens, von hierüber gesteuerten Milliarden von Werbe- und Spam-Mails. Und sie kommen von irgendwo. Das Prinzip der vernetzten Server löscht die Kulturtechnik der ‚festen‘ Haus- und Straßenadresse oder verschiebt diese in einen kaum aufzudeckenden Hintergrund aus Anonymität, Pseudonymen, elektronischen Adressen. Sollte sich das Heimweh in einem adressen- und gesichterlosen, aber kontrollintensiven Universum wiederfinden?

Es sind nicht die Technologien, die in diese Problematik geführt haben. Es sind die lässigen, unbedachten, kriterienlosen Prozesse der ‚Digitalisierung von allem‘, die damit einhergehenden Privat-Anarchien der globalen Netzentwicklungen, sowie, was wohl das wichtigste ist, die ökonomische Privatisierung von Daten aller Art, von Gesundheits- über Meinungsdaten, Finanz- bis Kontaktdaten.

Aber es geschah mehr als dies. Aus einem Missverständnis wurde eine erklärende Behauptung. Das Missverständnis entstand in einem fatalen Umkehrschluss: die Aussage, dass ‚Kultur die Technologie hervorbringe‘ wurde zu: ‚Technologie bringt Kultur hervor‘, was dann der flachen Fantasie die Tür öffnete, der Computer- oder Mediengebrauch mache den Menschen zum Kulturproduzenten. So wenig die Standards der Lesefähigkeit zu Verständnis des Textes oder gar der ihn ermöglichenden Welt führen, führt die Nutzung eines Lichtschalters zum Verständnis der Elektrizität oder der Politik von Energiekonzernen.

Und in den Technik- und Medien-Kritiken wurde zu viel mit Kultur hantiert, statt sie zu wagen, Distanzen zu begründen, Erwartungen zu formulieren, Fehlentwicklungen vielleicht auch fehlerhaft, aber ernsthaft anzusprechen. Die Kritiker haben ebenso beim Entwerfen von Dimensionen kultureller Bedingungen versagt, wie die Nutzer und Entwickler, die sich auf den fatalen Umkehrschluss verließen. Aber Technik ist kein Schicksal (fatum), Kultur ebenso wenig.

Menschheit: aus der Pipette und im Netz

Vordergründig ändert sich im Mensch-Werkzeug-Verhältnis wenig. Der Mensch bleibt ein tool making animal. Die These, der Mensch beginne, Leben von innen heraus, aus den kleinsten, denk- und beeinflussbaren Organisationseinheiten, zu entwerfen, deutet in eine andere Richtung.

Kein Genom und keine Information lassen sich katalytisch einfangen, wie dies bei Werkzeugen und Maschinen angenommen wurde. Der nicht verändernde Einsatz (Katalyse) findet nicht statt. Noch denken viele Menschen im Gestus der Unbescheidenheit, mit der die Herrschaft über die Maschine behauptet wurde, oder im Gestus der Zerstörungserwartung, mit der die Machtübernahme durch die Maschinen angstvoll verbreitet wird. Weder Menschen- noch Maschinenkontrolle ist schlüssig erwartbar. Überhaupt ist Kontrolle in komplexen Systemen, die hier organisch und anorganisch vorausgesetzt sind, nicht möglich. Sensibilität sei das Merkzeichen der „Neuen Kultur des Kapitalismus“, merkte Richard Sennett an. Angesprochen sind damit individuelle Lebensentscheidungen unter Bedingungen flexibilisierter Produktions-, Berufs-, Wissens- und Kapitalstrukturen. Ich ergänze dies in Richtung Vorsicht, Bescheidenheit und Kontrollverzicht. Vorausgesetzt ist dabei, dass man um die dramatischen Veränderungen weiß, die nicht zur Flexibilisierung führen, sondern zur Erzeugung neuer Bedingungen menschlichen Selbsterhalts, zu einer neuen Menschheit, wie dies Serge Moscovici bereits in seiner „Menschlichen Geschichte der Natur“ betonte.

Es ist, zugespitzt, eine Menschheit aus der Pipette und dem Netz. Mikro-logien des Organischen und Anorganischen werden in wechselseitig abhängige Bewegung versetzt.

In diesen biologisch-molekularen und informatisch-modularen Transformationsmoden der Gegenwart geht es nicht mehr um Werkzeuge, Amputationen und Prothesen, wie Marshall McLuhan noch mutmaßte. Alle Investitionen ins exteriore Milieu der Sinne, in die Reichweiten und in die spiegelneurotische Sicherheit, sich darin wiederzuerkennen, wirken nachgerade komisch gegenüber den mikrologischen Veränderungsfantasien.

Dennoch erklären diese nicht die empfundene und reale Bedrohlichkeit dieser Prozesse. Sie besteht darin, dass der wissentliche, ökonomische, dingliche, soziale Selbsterhalt der Menschheit in ein Dauerexperiment zweiten Grades gehoben wurde. Dabei geht es nicht um Organisation und Experiment. Dies begleitet den Menschen von Beginn an. Der Mensch befand sich schon immer in evolutionär-experimentellen Umständen. Der erste Grad dieser Experimente versammelte Sesshaftigkeit, Verwaltung, Staaten- und Gesellschaftsbildung, Zeichen-, Sprachen- und Medienerfindungen. Der zweite Grad versammelt Fotografie, Röntgenstrahlen, Radio- und Fernsehröhren, Digitalität, Kybernetik, Netzentwicklung sowie Gene, Zellforschung, Hirnforschung, Nanowelten etc.

Erst langsam wird diese Welt aus den kleinsten Unterschieden, den kleinsten, nicht zusammengesetzten Informationen erkennbar. (Der konstitutive Sinn der Unterscheidung, Daten, Informationen, Regeln, Normen. Und: Je größer die Mengen zusammengesetzter Organe sind, je instabiler …) Der Weg dieses Erkennens ist dabei interessant: Er führt über die Feststellung, dass im Netz Daten gesammelt werden, Persönlichkeit, Gesundheit, Freundschaften, Klick-Wolken der Netznutzung durchleuchtet und gespeichert werden. Enteignung von Autoren, Verlagen und Lebensräumen durch Google-Scans aller Art (von Büchern, Zeitschriften, Infrastrukturen aus dem Orbit, Häusern und Straßenbewegungen auf Augenhöhe) werden dabei herangezogen, Betriebssystem-Monopole kritisiert und verklagt, so geschehen von EU-Kommission gegen Microsoft. Die Pipette, die Genome, die Zellen werden damit nur sehr selten in Beziehung gebracht.

Dabei sind gerade die sich intensivierenden Zusammenhänge molekularer und modularer Transformationsmoden und -ökonomien Treiber der Veränderung. Sie zusammengenommen erlauben die These: Der Mensch befindet sich in einer anthropotechnischen Schwellensituation.

Literaturhinweise

Kaushik Sunder Rajan 2009: Biokapitalismus. Werte im postgenomischen Zeitalter, Frankfurt am Main

Michael Pauen / Gerhard Roth 2008: Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, Frankfurt am Main

Manfred Faßler, geboren 1949, ist Professor für Kulturanthropologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen Erdachte Welten (Springer, Edition Transfer 2005) und Der infogene Mensch (Fink, 2008).

Quelle: Recherche 2/2010

Online seit: 15. Oktober 2019