Er war Mediziner und einer der ersten Meeresbiologen, gewissermaßen aber auch Künstler und Philosoph. Eine faszinierende Figur und ein radikaler Grenzgänger in der modernen Wissenschaftsgeschichte. Universitäre wie kirchliche Lehrmeinungen provozierend, kulminierte in Ernst Haeckels atheistischem Materialismus – so sein Selbstverständnis – das große 19. Jahrhundert der Naturwissenschaften. An dessen Ende stand nun die Lösung aller großen „Welträtsel“ an – Probleme, vor denen die Philosophie kapitulieren musste und die Haeckel in seinem evolutionistischen Biologismus vermeintlich aufgelöst hat: die großen Fragen zur Entstehung des Lebens, zum Zweck der Natur, zum menschlichen Bewusstsein und zur Willensfreiheit.
Wenn auch diese Fragen heute anders angegangen werden, so war Ernst Haeckel einer der ersten Wissenschaftler, die unter dem neuen Paradigma der „Ökologie“ die Arbeit an der Auflösung des anthropozentrischen Dogmas aufgenommen haben. Sein Forschungsansatz beruhte auf neuen Einblicken in die Natur. Die Einsichten in die Lebensbedingungen von Mikroorganismen verdankten sich aber auch neuer Instrumententechnik: Komplementär zum Teleskop in der Astrophysik ermöglichte der Einsatz des Mikroskops in der Biologie den Einblick in zuvor unbekannte Welten; zudem generierte die Evolutionstheorie eine neue Sicht auf die kontinuierliche, nicht zielgerichtete Entwicklung von Leben.
Als Biologe wandte sich Haeckel vor allem gegen den Zeitgeist seiner Epoche, der noch vom deutschen Idealismus geprägt war. Allein die Naturforschung rette vor den metaphysischen Spekulationen der philosophischen Dogmen in der Tradition Kants, das war sein Jahrzehnte später von Konrad Lorenz repliziertes Credo. Für seine empirische Erforschung der Beziehung von Organismen und ihren Umwelten prägte er den Begriff Ökologie. In der Nachfolge Alexander von Humboldts verstand Haeckel sich als Forscher und Aufklärer, der all seine offenbar nicht geringe Energie dazu einsetzte, das „Wahrheitsbacillus“ zu verbreiten.
Damit war natürlich die Evolutionstheorie Charles Darwins gemeint, zu deren Verbreitung im deutschsprachigen Raum Haeckel federführend beitrug und die er auch radikalisierte: Bei ihm gilt der Mensch nicht mehr als Krone der Schöpfung, sondern nurmehr als das „am höchsten entwickelte Wirbeltier“. So radikal äußerte sich nicht einmal Darwin selbst. „My dear Sir“, schreibt ihm dieser anlässlich Haeckels anschaulicher Darstellung der Morphologie von Organismen, hier sehe er für seine Theorie „the most magnificent analogies which it has ever received & I am most truely gratified“. Der Mensch allerdings stammt nicht vom Affen ab, wie die Karikatur es will, sondern die Deszendenztheorie Haeckels besagt, dass alle Wirbeltiere gemeinsame Vorfahren haben – bis hin zu den „niedrig organisierten Fischen“.
Freilich unterschied Haeckel auch niedriger und höher entwickelte Menschenarten. Er gilt als Wegbereiter der Sterbehilfe oder gar der Euthanasie, der Ausmerzung „lebensunwerten“ Lebens.
Freilich unterschied Haeckel auch niedriger und höher entwickelte Menschenarten. Er gilt als Wegbereiter der Sterbehilfe oder gar der Euthanasie, der Ausmerzung „lebensunwerten“ Lebens. Liest man entsprechende Texte in dem vorliegenden Band absolute Ernst Haeckel, etwa „Erlösung vom Übel“, dann wird aber auch klar, dass diese Einschätzung viel mit der späteren Vereinnahmung durch nationalsozialistische Ideologen zu tun hat und dass Haeckels Ansichten etwa vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Sterbehilfe-Debatte durchaus berechtigte Elemente aufweisen.
Es ließe sich nun vieles zu Haeckel diskutieren: wie er durch das wissenschaftliche Studium seinen tiefen christlichen Glauben verlor, wie er in den „Welträtseln“ mit emphatischem Duktus vermeintlich alle philosophischen Probleme löste, insbesondere die des deutschen Idealismus (und damit die evolutionäre Erkenntnis-
theorie begründet), oder wie er mit der Energie des Konvertiten zusammen mit Wilhelm Ostwald den Monistenbund gründete, von dessen Anhängern ihm als eine Art Wissenschaftspapst eine quasi-religiöse Verehrung zuteil wurde. Überhaupt steckt in der Figur Haeckels bereits sehr viel von einer heute bei Genforschern und Neurowissenschaftlern zu beobachtenden Haltung, nach der eine alles erklärende Wissenschaft wie ein Religionsersatz betrieben wird.
Aber ein ganz anderer Aspekt lässt Haeckel gerade heute wieder interessant erschienen: Als Naturforscher arbeitete er mit Visualisierungen, in einer Art Grenzgang zwischen Wissenschaft und Kunst. Haeckel, der dem Geheimnis der organischen Entwicklung auf die Spur zu kommen trachtete, sammelte seine Untersuchungsobjekte – niedere Meerestiere, sogenannte Radiolarien, das sind einzellige Plankton-Organismen – selbst am Atlantik und am Mittelmeer. Ebenso wie Teleskop und Kamera, erschloss das Mikroskop für die Forscher neue Sichtweisen auf die Natur. Haeckel erwarb bei einem Physiker in Florenz ein Mikroskop mit Wasserimmersionsobjektiv, mit dem er die Formenvielfalt der Skelette von Radiolarien untersuchen konnte.
Das Problem in jener Zeit war, dass Fotografien sich zwar auch von mikroskopischen Untersuchungen machen ließen, doch konnten diese noch nicht zufriedenstellend in Druckwerken reproduziert werden. Haeckels Radiolarien-Monografie von 1862 hat zwei Teile, einen für Text, und einen diesen ergänzenden Bildatlas. Dieser zeigt eine Welt, in die Menschen bislang keinen Einblick hatten. Ihre Bewohner sind Radiolarien, Pflanzen, Wirbeltiere und Quallen, die später in den berühmten „Kunstformen der Natur“, eine 1899–1904 publizierte Folge von zehn Heften, noch einmal vorgeführt wurde. Man kann sie heute online1 bewundern, im Nachdruck oder, als Wissenschaftler, im Original in der Villa Medusa (jetzt das Ernst-Haeckel-Museum in Jena). Doch Spuren dieser Ästhetik sind auch im Wiener Naturhistorischen Museum zu finden.
Das Material stammte von der englischen Schiffsexpedition „HMS Challenger“, die in den 1870er-Jahren aus den Tiefen der Weltmeere Proben gesammelt hatte und an deren Auswertung Haeckel beteiligt war; dabei entdeckte man fast 4000 neue Arten. An diesen Auswertungen und den Publikationen ist zweierlei bemerkenswert: dass einerseits der Wissenschaftler Haeckel eine künstlerische Ausdrucksform entwickelt, und dass er andererseits die Natur selbst als kunstschaffend betrachtet. Abgestoßen vom Pomp der religiösen Kunst, die er bei seinen Italienreisen kennengelernt hatte, wandte er sich den biologischen Formen zu. „Die Natur erzeugt in ihrem Schoße eine unerschöpfliche Fülle von wunderbaren Gestalten, durch deren Schönheit und Mannigfaltigkeit alle vom Menschen geschaffenen Kunstformen weitaus übertroffen werden.“
Haeckel zählte zu den ersten Wissenschaftlern, die bildliche Evidenz einsetzten, um ihre Erkenntnisse zu verbreiten.
Unter „Natur“ verstand Haeckel gemäß seines materialistischen Monismus sowohl organische wie auch anorganische Formen. „Kunst“ aber ist kein Produkt eines bewussten kreativen Aktes, sondern Teil der natürlichen Erscheinung. Selbst ein begeisterter Maler und Zeichner, der nach dem Vorbild Alexander von Humboldts von seinen eigenen, ca. 90 Forschungsreisen Aquarelle und Ölbilder als Reisedokumente mitbrachte, war Haeckel auch einer der ersten Wissenschaftler, der bildliche Evidenz dazu eingesetzt hat, um seine Erkenntnisse zu verbreiten.
Von Bildern aber weiß auch der unkritische Betrachter, dass sie „gemacht“ sind, also nicht unbedingt die Wirklichkeit wiedergeben, sondern vielleicht auch bloß die Ansicht ihres Erzeugers. Diesem Vorwurf sah sich Haeckel ausgesetzt. Seine Abbildungen der Radiolarienskelette und der Medusen sind in ihrer symmetrischen Ästhetik wunderbar. Sie beeinflussten die Kunst und Architektur des Jugendstils (Art nouveau). Doch welchen Anteil trägt hierbei der Wissenschaftler als Gestalter? Es ist bekannt, dass Haeckel manchen seiner Illustrationen den gewünschten Dreh verlieh, damit sie umso überzeugender wirken sollten. Er präsentierte seine wissenschaftlichen Überzeugungen ästhetisch ansprechend, etwa die „biogenetische Grundregel“, nach der die Ontogenese eines Lebewesens die Phylogenese der Art rekapituliert.
Mehr als bloß zufällig kommt seinen Wissenschaftsbildern die Rolle einer diskursiven Munition zu. Die Vereinfachungen und Verfälschungen, die Haeckel vornahm, führten zur „Embryonenkontroverse“, die Vorwürfe kamen seitens der jesuitischen Theologen. Haeckel selbst antwortete schon auf den Vorwurf, er habe Abbildungen von so nicht existierenden Tieren und Pflanzen erfunden, mit der Geschichte vom Bauern im Berliner Zoo, der zum ersten Mal Elefanten und Nashörner, Giraffen und Kängurus sah. Zurück im Dorf habe der Bauer erzählt: „Da laufen lebendige Tiere umher, die es gar nicht gibt!“
Tatsache aber ist, dass Haeckel der bildlichen Evidenz seiner Schemata etwas nachgeholfen und vor allem das Anschauungsmaterial zur embryonalen Entwicklung zurechtgebogen hat. Darüber hinaus hat er mit dem Stammbaum und anderen Evolutionsschemata (Verzweigungen) visuelle Stereotypen geschaffen, die den Entwicklungsweg vom Einfachen zum Komplexen problematisch vereinfachen – „kanonische Bilder“ (Stephen J. Gould), deren Anschaulichkeit die in ihnen versteckten Hierarchien und politischen Implikationen überdeckt.2
Der vorliegende Band betont den künstlerischen Wert von Haeckels Visualisierungen. Ihr ästhetischer Reiz wird hervorgehoben, doch es bleiben dabei viele Fragen offen. Etwa die nach dem Anteil an der Ästhetik der reproduzierten Bildtafeln seitens des Berliner Kupferstechers namens Wagenschieber, der nach Haeckels Vorlagen gearbeitet hat. Es wäre wünschenswert gewesen, mehr zu den Details dieses Zusammenspiels von Wissenschaft und Kunst zu erfahren.
Ein Vorteil des Konzepts der „absolute“-Reihe zu originellen Köpfen der wissenschaftlichen und kulturellen Moderne ist es unbedingt, dass die Bücher Originaltexte und biografischen Kommentar des Herausgebers mit Bildmaterial und Bibliografie kombinieren. Leider ist das nicht immer so übersichtlich, wie beabsichtigt, leider sind Satzspiegel und strenges Schriftbild nicht so ganz lesefreundlich, und leider wurde auch die originelle Bindung der Anfangsbände zu Flusser oder McLuhan aufgegeben. Wahrscheinlich waren einige Käufer so naiv zu glauben, die in Schweizer Broschur gebundenen Bücher wären beschädigt. Wie dem auch sei, aus der Überfülle anstrengender und nicht immer empfehlenswerter Einführungstexte ragt dieses vorbildliche Konzept deutlich hervor.
1 http://caliban.mpiz-koeln.mpg.de/haeckel/kunstformen/natur.html
2 Vgl. Martin Kemp: Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene. Köln 2003, S. 138f.