Von der Befreiung des Individuums zum Management des Selbst

Die unheimliche Karriere von Therapie, Beratung und Coaching seit 1968. Von Jens Elberfeld

Online seit: 20. Oktober 2019

Wohin man heutzutage auch schaut, der unheimliche Siegeszug von Therapie, Beratung und Coaching scheint vor keinem Bereich des Lebens und der Gesellschaft Halt zu machen. Aus Wissenschaft und Medizin erfahren wir, dass ein Drittel aller Menschen im Laufe ihres Lebens an Depressionen erkrankt, Studien der Krankenkassen belegen eine deutliche Zunahme von Arbeitsausfällen aufgrund psychischer Störungen, das Fernsehen bringt einem in Coaching-Formaten bei, seine Kinder zu erziehen oder wenigstens nicht ins Schuldenchaos zu stürzen und in unzähligen Seminaren und Ratgebern wird einem beigebracht, wie man sein Leben vereinfacht, seine Zeit effizienter nutzt, selbstbewusster mit Vorgesetzten kommuniziert oder die Promotion endlich erfolgreich abschließt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich eine therapeutische Arbeit am Selbst gesellschaftlich etablieren und institutionalisieren können, deren ethischem Imperativ jüngst sogar philosophische Weihen zuteil wurden: „Du musst dein Leben ändern.“

Nicht nur dem geneigten Historiker muss sich an dieser Stelle die Frage aufdrängen, wie es dazu kommen konnte. Obwohl sich in Gestalt der Psychoanalyse bereits im Fin de Siècle Anfänge der Therapeutisierung ausfindig machen lassen, konnte sie sich im deutschsprachigen Raum erst gegen Ende der 1960er-Jahre auf gesellschaftlich breiter Front durchsetzen. Einige Zahlen vermögen diese Datierung des „Psychobooms“ zu veranschaulichen. Gab es 1974 in Westdeutschland 1263 Psychotherapeuten, so stieg ihre Zahl bis 1990 bereits auf 3895 an, bis sie im Jahr 1999 und in der wiedervereinigten BRD 20.970 betrug. Heute dürfte sie um ein etliches darüber liegen. Eine vergleichbare, jedoch früher einsetzende Entwicklung kann man in den USA beobachten, wo die Zahl der klinischen Psychologen von nur 200 im Jahr 1919, über 2000 1939 auf immerhin schon 30.00 1970 und schließlich auf mehr als 250.000 im Jahr 1995 anstieg. Noch wichtiger als das quantitative Wachstum waren indes die qualitativen Veränderungen. Psychologisches Wissen und therapeutische Methoden fanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr nur in Kliniken und Arztpraxen Anwendung, sondern begannen sich in unterschiedlichen sozialen Feldern auszubreiten. Dies umfasste so disparate gesellschaftliche Institutionen wie die Fabrik, die Familie, die Schule und das Militär. Mit der sozialräumlichen Ausdehnung ging ein grundlegender Wandel in der Anwendung einher. Beschränkten sich Psychiater und Psychotherapeuten zuvor auf die Behandlung von Krankheiten und die Heilung von Patienten, boten sie nun potentiell allen Menschen ihre Dienste an bei der Veränderung ihres Verhaltens und ihrer psychischen Befindlichkeit. Diese „Psychiatrisierung des Alltags“ (Robert Castel) ist in den letzten zehn Jahren zum Gegenstand soziologischer und historischer Untersuchungen gemacht worden. Ich nähere mich der Thematik nun aus der Perspektive einer „Genealogie des Selbst“. Damit gemeint ist die Annahme, dass das menschliche Subjekt nichts natürlich Gegebenes, Universales und Ahistorisches ist. Stattdessen hat es eine eigene Geschichte und kann unterschiedlichste Formen annehmen. Ferner ist es in dieser Sichtweise immer erst Effekt eines Subjektivierungsprozesses, der aus sozialen Praktiken, Wissensbeständen und Diskursen besteht. Mit anderen Worten ist man nicht einfach ein Subjekt und hat eine individuelle Persönlichkeit, sondern man wird es, indem man etwas tut und an sich arbeitet.

Metamorphosen der „psychiatrischen Ordnung“ um 1970

Der Ende der 1960er auf breiter Front einsetzende Prozess der Therapeutisierung war Bestandteil eines umfassenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Dazu gehörten sozialliberale Reformprojekte wie der Ausbau und Umbau des Wohlfahrtsstaates und des Bildungssystems, die Studentenbewegung und Neue Linke mitsamt ihrer Fundamentalpolitisierung ebenso wie grundlegende Veränderungen in den Geschlechter- und Generationenbeziehungen.

Erst diese konkreten historischen Bedingungen ermöglichten dem Therapie-Diskurs seine Entfaltung. Entscheidend dabei war, dass er sich seit Ende der 1960er-Jahre in verschiedenen sozialen und medialen Bereichen einzurichten vermochte.

Erstens gelang es der Psychotherapie Anfang der 1970er, sich endgültig im Rahmen der Psychiatrie und im Gesundheitssystem zu etablieren und zu institutionalisieren. Nachdem es psychotherapeutische Ansätze und Verfahren seit ihrem Entstehen gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerade in Deutschland lange Zeit schwer hatten, seitens einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychiatrie Akzeptanz zu finden, stellte die Psychiatrie-Enquête der frühen 1970er-Jahre diesbezüglich einen Durchbruch dar. So wiesen die Sachverständigen in ihrem Gutachtenbericht explizit auf einen Mangel an psychotherapeutischen Angeboten und Fachpersonal hin und rieten vehement zu einer Behebung dieses Defizits im Bereich der psychischen Versorgung der Bevölkerung. In Verbindung mit der sozialliberalen Bildungsreform kam es folgerichtig zu einer Änderung der medizinischen Curricula, zum Ausbau des Studienganges Psychologie sowie der Entwicklung und Einführung verschiedenster psychotherapeutischer Aus-, Fort- und Weiterbildungsgänge. Dadurch wurde die Produktion therapeutischer Experten stark forciert, welche in der Folgezeit zu wichtigen Trägern eben jenes Diskurses wurden.

Zweitens war die Rezeption und Anwendung der Psychotherapie nicht auf einige wenige Bereiche, Institutionen oder Diskurse beschränkt. Bereits Ende der 1960er-Jahre reichte das Spektrum von der katholischen Seelsorge bis zur sozialpädagogischen Jugendhilfe, von Familienberatungsstellen bis zur psychiatrischen Klinik. Diese große Anschlussfähigkeit des Therapie-Diskurses an unterschiedlichste Konstellationen, Problemlagen und Aufgabenbereiche war ein wesentlicher Grund für dessen rasante Verbreitung.

Seit 1919 hat sich die Zahl der klinischen Psychologen in den USA vertausendfacht.

Drittens fanden therapeutische Methoden Eingang in wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen und nicht-medizinische Professionen. Insbesondere die Pädagogik und die Soziale Arbeit, die zu jener Zeit zahlenmäßig wuchsen und sich konzeptionell wandelten, griffen auf sie zurück.  Dabei diente psychotherapeutisches Wissen sowohl der eigenen Professionalisierung und wissenschaftlichen Legitimierung als auch zur internen Kritik an einer bisherigen Praxis, die normativ und disziplinierend sei und den Klienten bevormunde. Institutionell konnte sich die Psychotherapie besonders in der Familien-, Ehe- und Erziehungsberatung etablieren. Insofern profitierte die Therapeutisierung vom massiven Ausbau der Beratungseinrichtungen gegen Ende der 1960er-Jahre, die Bestandteil sozialliberaler Gesellschaftspolitik waren.

Viertens entstanden seit den späten 1960er-Jahren unzählige neue Psychotherapierichtungen und -schulen. Zu den bekannten und bis heute einflussreichen gehörten die Verhaltenstherapie, die Gesprächstherapie bzw. Humanistische Psychologie im Anschluss an Carl Rogers und Abraham Maslow sowie die Familientherapie. Mit der Gründung von Instituten, Verbänden, Zeitschriften und Verlagen, mit der Veranstaltung von Tagungen und Workshops oder der Schaffung von eigenen Ausbildungsgängen und Zertifikaten fand eine Etablierung und Institutionalisierung jenseits von Gesundheitssystem, Wissenschaft und Wohlfahrtsstaat statt. Damit kamen zwei Prozesse in Gang, die die Entwicklung der „Psy-Disciplines“ (Nikolas Rose) bis heute prägen. Zum einen entstand mit der Zeit ein eigenständiges therapeutisches Feld, das quer zu bisherigen Grenzziehungen von der wissenschaftlich etablierten Psychiatrie bis zum Grauen Therapie-Markt der „New Age“- und Esoterik-Szene reichte. Zum anderen trugen die starke Konkurrenzsituation und die daraus resultierenden Konflikte zur großen Dynamik des Feldes bei, was nicht zuletzt zu ständigen Neuschöpfungen führte.

Fünftens schließlich wurden seit den 1960er-Jahren sowohl die Psychiatrie als auch die Psychotherapie zu Themen der massenmedialen Öffentlichkeit. So ging der Psychiatrie-Enquête der 1970er-Jahre eine Debatte über Verbrechen der Psychiatrie im Nationalsozialismus sowie die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Demokratisierung und Modernisierung voraus. In den Medien tauchten zudem immer mehr Artikel auf, in denen die katastrophale Situation in den Anstalten skandalisiert wurde. Die radikalste Kritik äußerten Anhänger der Anti-Psychiatrie-Bewegung, die über die USA und England sowie Italien auch den deutschsprachigen Raum erreichte. Zeitgleich fanden psychotherapeutische Konzepte auch ihren Weg in die Massenmedien und den Buchmarkt. Beispielsweise beriefen sich Artikel zu Fragen der Erziehung, Partnerschaft und Sexualität in der 1966 gegründeten und sehr erfolgreichen Zeitschrift Eltern in erster Linie auf therapeutisches Wissen. Auf diese Weise löste die Psychotherapie sukzessive moralisch-religiöse und medizinisch-physiologische Normen ab. Psychotherapeutische Beratung fand darüber hinaus in verschiedenen Ratgeberkolumnen und Leserbriefseiten statt und reichte vom „Dr. Sommer“ der Bravo bis zur „Lieben Marta“ des Schweizer Blick. Daneben entstand auf dem Buchmarkt mit der Ratgeberliteratur ein weiteres, bis heute extrem populäres Segment, in dem der Psychotherapie eine tragende Rolle zuteil wurde.

„Befreiung des Individuums“. Das Subjekt der Therapie seit ’68

Ein zentraler Aspekt der skizzierten Entwicklung war die Verbindung von Therapeutisierung und einem Wandel der hegemonialen „Subjektkultur“ (Andreas Reckwitz) im Zuge gegenkultureller Bewegungen um 1968. Diese forderten den „Neuen Menschen“ gerade nicht nur theoretisch ein, sondern wollten ihn ganz praktisch mittels therapeutischer Techniken erlernen und einüben. Ausgangspunkt dieser Bemühungen um die Entfaltung einer alternativen Subjektivität war die Annahme, dass sich das Individuum in der modernen Gesellschaft immer stärker von sich selbst entfremde und seine eigentlichen Wünsche zu unterdrücken habe. Ihre Kritik an dieser Zurichtung der menschlichen Psyche durch Kapitalismus, Bürokratie und den Staat basierte auf einer freudo-marxistischen Gesellschaftstheorie, wie sie die antiautoritäre Studentenbewegung und „Neue Linke“ den Schriften Wilhelm Reichs, Erich Fromms und Herbert Marcuses entnahm. Gegen die diagnostizierte Repression vermittelt über gesellschaftliche Institutionen wie Familie, Ehe, Schule und Fabrik riefen sie zu einer „Befreiung des Individuums“ von allen Zwängen auf. Dies zeigte sich beispielsweise in Semantiken der Liberalisierung, Authentizität, Emanzipation oder Selbstverwirklichung, die gerade nicht auf den zahlenmäßig kleinen Kreis der „68er“ beschränkt blieben. Stets handelte es sich dabei um verschiedene Formen der Problematisierung von und Kritik an Traditionen, Strukturen, Beziehungen etc., die das Selbst an seiner aktiven Entfaltung und individuellen Verwirklichung hindern würde. Im Fall des Familiendiskurses betraf dies etwa dominante Rollenzuschreibungen seitens der Eltern, eine traditionelle Geschlechterhierarchie in der Paarbeziehung oder schlichtweg zu starke Bindungen zwischen den Familienmitgliedern, zu dessen Umschreibung ein Begriff wie „Familienghetto“ verwendet wurde.

Damit verbunden war eine Abgrenzung von Verhaltensweisen und Einstellungen, die sich mit Andreas Reckwitz’ Terminologie dem so genannten Angestellten-Subjekt der organisierten Moderne zuschreiben lassen, das in der BRD bis zum Ende der 1960er-Jahre vorherrschend blieb und durch eine starre Kontrolle der eigenen Gefühle, hohe Leistungsbereitschaft sowie die öffentlich zur Schau getragene Ausrichtung an den Werten der umgebenden „nivellierten Mittelschichtgesellschaft“ gekennzeichnet war. Dagegen propagierten die „68er“ alternative Werte und Ideale, wie die offene Kommunikation über die eigenen Gefühle, ein aktives und kreatives Verhalten, selbstverantwortliches und individuelles Handeln, die partnerschaftliche Gestaltung von privaten und beruflichen Beziehungen sowie die Aufhebung der Trennung zwischen Arbeit und Leben, Privat und Öffentlich. Entscheidend war für sie die Frage, wie sie dahin gelangen konnten. Und genau hier kam der zeitgenössische Therapie-Diskurs ins Spiel.

Therapeutische Techniken wurden um 1968 zu dem Instrument der erhofften „Befreiung des Individuums“. Prominent zeigte sich das etwa in der 1967 gegründeten Westberliner „Kommune Zwei“, in der eine „Reihenanalyse“ zum festen Bestandteil des gemeinsamen Zusammenlebens wie auch der politischen Aktion zählte: „Es gab keine feste Gesprächsform. Die Sitzungen begannen gewöhnlich mit Berichten über Tagesereignisse und ihre psychische Verarbeitung. Anlässe gab es genug, man hatte sich geärgert, war frustriert, oder zu bestimmten Ereignissen waren Erinnerungen aufgetaucht.“1 Ein anderes über die Szene-Öffentlichkeit hinaus bekannt gewordenes Beispiel stellte das „Sozialistische Patientenkollektiv“ in Heidelberg dar. Ausgehend von antipsychiatrischen Konzepten hatte sich hier um einen Assistenzarzt der Uniklinik eine Selbsthilfegruppe für Psychiatriepatienten gegründet, die aber auch politisch Interessierte anzog. Hierzu gehörte auch das spätere RAF-Mitglied Margrit Schiller. Ihre Autobiografie wirft ein prägnantes Schlaglicht auf die zeittypische Verbindung von Politik und Psyche: „Ich schrieb mich sofort für Einzelgespräche ein, die im SPK ‚Einzelagitationen‘ hießen. In den Sitzungen hatte ich ein großes Bedürfnis, erst einmal über mich, meine Lebensgeschichte, meine Unsicherheiten, Ängste und meine Suche nach etwas anderem zu sprechen. (…) Es war immer was los. Kleine oder größere Gruppen diskutierten hitzig über aktuelle Ereignisse, die Lage in der Welt, über Bücher oder persönliche Fragen.“2 Sicherlich waren die „Kommune Zwei“ und das „SPK“ besondere Ausprägungen des Diskurses, der sich gleichwohl nicht auf sie reduzieren lässt. So gehörten Freudomarxismus und die damit legitimierten therapeutischen Techniken auch zum Alltag der Kinderladen- und der Landkommunen-Bewegung, den unzähligen Selbsthilfegruppen des „Alternativen Milieus“, die im Verlauf der 1970er-Jahre in nahezu jeder größeren Stadt Westdeutschlands entstanden, sowie zur Zweiten Frauenbewegung. Diese Form der Zweckentfremdung therapeutischer Techniken war allerdings nur möglich geworden, da sich mit der fortschreitenden Therapeutisierung auch ein anderes Konzept von psychischer Krankheit entwickelt hatte.

Die „68er“ forderten nicht nur theoretisch den „Neuen Menschen“, sondern wollten ihn ganz praktisch mittels therapeutischer Techniken erlernen und einüben.

Seit Ende der 1960er-Jahre geriet das bisherige Verständnis von Krankheit in den „Psy-Disciplines“ vermehrt in die Kritik. Zwar stand die Psychotherapie in gewisser Weise schon seit ihren Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts in kritischer Distanz zur naturwissenschaftlich orientierten Medizin und Psychiatrie. Deren Ansatz hatte Wilhelm Griesinger, einer der Begründer der modernen Psychiatrie im 19. Jahrhundert, mit seinem bekannten Ausspruch auf den Punkt gebracht, Geisteskrankheiten seien Gehirnkrankheiten. Die Kritik an diesem sogenannten medizinischen Modell wurde jedoch erst mit dem Aufschwung der Psychotherapie, dem Entstehen einer Sozialpsychiatriebewegung sowie der rasch Aufmerksamkeit zuteil werdenden Anti-Psychiatrie gegen Ende der 1960er-Jahre virulenter und erhielt eine breitere gesellschaftliche Basis. Trotz aller Unterschiede beruhte ihr Verständnis psychischer Krankheiten auf einem sozialen Modell, welches wahlweise die Umwelt des Individuums, frühkindliche Erfahrungen, die Sozialisation oder familiäre Beziehungen in den Mittelpunkt ihrer Erklärungen rückte. Damit einher ging indes auch die Transformation der binären Dichotomie von „krank“ und „gesund“ in ein Kontinuum des Normalen. Dahinter stand nicht zuletzt die Absicht einer Entpathologisierung psychisch Kranker sowie die Liberalisierung und Demokratisierung des Umgangs mit ihnen sowohl in der Anstalt als auch in der Gesellschaft. Die Kehrseite dieses Unterfangens war jedoch, dass wenn keiner richtig krank war, auch niemand ganz gesund sein konnte. Dieser paradoxe Effekt der Normalisierung psychischer Krankheit führte mit dazu, dass der Therapie-Diskurs sich über die Anstaltsmauern hinaus ausbreiten und seitdem potentiell die gesamte Bevölkerung adressieren konnte. Die „68er“ waren schlichtweg die ersten, die sich dieses Wissen rein zum Zweck der Veränderung und der Arbeit am eigenen Selbst aneigneten. Insofern kann man ihnen eine Vorreiterrolle im Hinblick auf die Entstehung eines neuen Subjekts und die Indienstnahme therapeutischer Methoden als „Technologien des Selbst“ (Michel Foucault) zusprechen. Gleichwohl bedurfte es einer gesellschaftlich weiter reichenden Rezeption und Diffusion dieses Psychowissens, wozu dann in den „langen 1970er-Jahren“ vor allem das „Alternative Milieu“ sowie Teile des linksliberalen Bürgertums beitrugen.

„Management des Selbst“ und die Ökonomisierung des Sozialen seit den 1980er-Jahren

Die „Befreiung des Individuums“ wurde seit Anfang der 1980er-Jahre mehr und mehr abgelöst vom Leitbild eines „Management des Selbst“. Dies war verknüpft mit dem Aufstieg eines neuen Subjektentwurfs, der Differenzierung des therapeutischen Anwendungsbereichs und einem veränderten Krankheitskonzept. Generell erlebte die Psychotherapie seit den 1980er-Jahren eine weitere Ausdehnung und Differenzierung ihres Feldes. Außerdem wurde sie spätestens mit dem Psychotherapeutengesetz Ende der 1990er-Jahre, welches in der BRD die Zulassung und damit letztlich auch den Zugang zu den Geldern der Krankenkassen regelt, endgültig als eigenständige Profession im Gesundheitswesen anerkannt. Da dies aber bis heute nur für einige wenige Therapierichtungen gilt, nämlich Psychoanalyse, Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie, entwickelte sich auch der Graue Markt psychotherapeutischer Dienstleistungen weiter.

Eine wichtige Entwicklung bestand in der Verwischung bisheriger Grenzziehungen zwischen Psychotherapie und Beratung und einer daran anschließenden Binnendifferenzierung zwischen Therapie, Beratung, Coaching etc. Auf diese Weise konnte die Therapeutisierung sowohl neue Anwendungskontexte erschließen als auch unterschiedliche Dienstleistungen anbieten, je nach Kundenkreis und Nachfragesituation. Neben Gesundheitssystem und Wohlfahrtsstaat wendete sich die Therapeutisierung spätestens Ende der 1980er-Jahre immer stärker dem Bereich der Ökonomie zu. Dies zeigte sich an der Verbreitung von Konzepten des Management-Coachings und der Unternehmensberatung, die ehedem der Psychotherapie entstammten. Dieser Prozess, der in den USA bereits Anfang der 1970er-Jahre eingesetzt hatte, hing eng zusammen mit dem Wandel der Arbeitsgesellschaft in Richtung einer post-fordistischen, immaterielle Güter produzierenden Ökonomie. Gerade in diesen neuen Produktions- und Arbeitsformen fanden therapeutische Konzepte und Techniken Anwendung, die auf eine Veränderung und Verbesserung von Kommunikationsprozessen oder der Organisation sozialer Systeme abzielten. Vorausgegangen waren dem zwei Entwicklungen, die sich ausgehend von entgegen gesetzten Polen des politischen Spektrums annäherten und schließlich überschnitten.

Therapeutische Techniken wurden um 1968 zum Instrument der erhofften „Befreiung des Individuums“.

Im „Alternativen Milieu“ der 1970er- und frühen 1980er-Jahre entstanden Ansätze einer Alternativökonomie, die ausgehend von der Kritik an entfremdender Lohnarbeit den Wunsch nach einem hierarchiefreien Zusammenleben praktisch umzusetzen versuchte. Dies waren für gewöhnlich selbstorganisierte Kollektive, zum Beispiel Buchhandlungen, Bioläden, Bauernhöfe und Werkstätten. Gemeinsames Merkmal war neben den „flachen“ Hierarchien und dem geringen Profit vor allem die hohe Identifikation mit dem gemeinsamen Projekt und dem erzeugten bzw. vertriebenen Produkt sowie das tendenzielle Verschwimmen der Grenzen von Arbeit und Leben. Auch als Reaktion auf diese Kritik entwickelten auf der anderen Seite des politischen Spektrums Arbeitswissenschafter, Organisationssoziologen und Betriebspsychologen ebenfalls neue Ansätze. Dabei griffen sie Begriffe und Konzepte aus dem gegenkulturellen Diskurs auf, wie die Forderung nach größeren Partizipationsmöglichkeiten, nach weniger Hierarchien und mehr Eigenverantwortung ebenso wie die Betonung von Kommunikation und Kreativität. Diese Entwicklung verband sich zudem mit gewerkschaftlichen Forderungen nach stärkerer Mitbestimmung und einer umfassenden „Humanisierung der Arbeitswelt“. Unabhängig von der politischen Positionierung rückte das „Individuum“ folglich in das Zentrum des ökonomischen Diskurses. Da es jeweils um Aktivierung und Empowerment, Förderung von Kreativität und Kommunikationsfähigkeit ging, entstand so eine diskursive Schnittmenge zwischen der „Befreiung des Individuums“ und dem „Management des Selbst“.

Seit den 1980er-Jahren setzte sich diese Verbindung eines post-disziplinären, sich selbst regulierenden Subjekts, therapeutischen Techniken des Coachings und eines grundlegenden ökonomischen Wandels fort. Das befreite Individuum der „68er“, das als Ausdruck einer radikalen Kritik an der kapitalistisch verfassten Gesellschaft entstanden war, wurde dabei mehr und mehr zur gesellschaftlichen Norm.

Drei Aspekte sind hier hervorzuheben: Erstens konnten sich therapeutische Techniken der Menschenführung immer weiter in Unternehmen und Betrieben ausbreiten. Nicht zuletzt die „Psy-Disciplines“ waren für die Entwicklung ständig neuer Methoden verantwortlich. Gemeinsamer Fluchtpunkt war die Überantwortung von Aufgaben der Motivation und Kontrolle von Seiten des Managements auf die Beschäftigten. Auf diesem Weg wollte man sowohl die Produktivität steigern als auch der gesellschaftlichen Tendenz nach individueller Autonomie entgegenkommen. Luc Boltanski und Ève Chiapello haben diesen „neuen Geist des Kapitalismus“ überzeugend an der Gestaltung von Arbeit als einem temporären Projekt untersucht. Neben dieser Therapeutisierung im Rahmen der Ökonomie wurde, zweitens, das Leitbild des autonom und selbstverantwortlich handelnden Individuums auch zur Basis für die Gestaltung anderer Bereiche der Gesellschaft. So muss zum Beispiel der Umbau des Wohlfahrtsstaates in den letzten zwei Jahrzehnten auch vor dem Hintergrund eines veränderten Subjekt-Entwurfs gesehen werden. Der aktivierende, schlanke Staat übertrug dabei ebenso Aufgaben und Pflichten an das Individuum, wie es zeitgleich die Wirtschaft tat. Und in beiden Fällen ging die Ermöglichung eines größeren Handlungsspielraums einher mit der geforderten Übernahme von Verantwortung sowie der Internalisierung von Kontrolle seitens des einzelnen Subjekts, wozu man sich wiederum therapeutischer Praktiken bediente.

Die „Befreiung des Individuums“ wurde seit Anfang der 1980er-Jahre mehr und mehr abgelöst vom Leitbild eines „Management des Selbst“.

Drittens beschränkte sich diese therapeutische Optimierung und Ökonomisierung des eigenen Selbst nicht nur auf die Produktionssphäre, sondern griff auch auf die Reproduktionssphäre über. Einerseits wurden Dinge des alltäglichen, privaten Lebens als ökonomische Werkzeuge und Ressourcen begriffen und eingesetzt. Dies betraf gerade die individuellen Eigenschaften, die schon seitens der „68er“ und des „Alternativen Milieus“ propagiert worden waren, wie Empathievermögen, Kreativität oder Kommunikationsfähigkeit. Andererseits wurde nun auch Privates in ökonomischen Kategorien und Konzepten wahrgenommen und gestaltet. Wie Eva Illouz in ihrer Studie zum Konsum der Romantik anschaulich beschrieben hat, reicht die Ökonomisierung mittlerweile bis in die Intimsphäre. Die konkrete Umsetzung des ethischen Imperativs der fortgesetzten Veränderung und Verbesserung verlief dabei über die therapeutische Arbeit, die prinzipiell unabgeschlossen bleibt und somit immer weiter zu betreiben ist. Möglich wurde das auch aufgrund der Veränderung des Krankheitskonzepts.

Wie bereits angeführt, war es Ende der 1960er-Jahre zu einer Entpathologisierung und Normalisierung psychischer Störungen gekommen. Einerseits verschwand dabei die strikte Unterscheidung zwischen krank und gesund zugunsten eines Kontinuums mehr oder weniger gesunder Zustände, andererseits ging es nun weniger um die Möglichkeit einer einmaligen und endgültigen Heilung und stärker um eine präventive und prinzipiell unabschließbare Arbeit an Körper und Psyche. Damit löste sich die Psychotherapie sukzessiv vom medizinisch-gesundheitlichen Paradigma. Im Fall der Familientherapie stand beispielsweise Kommunikation und das soziale Beziehungsgefüge der Familie im Zentrum, welches nicht krank oder gesund, sondern entweder funktional oder dysfunktional war. Mit anderen Worten richtete sich Psychotherapie nun an Kategorien und Kriterien der Funktionalität, der Angemessenheit oder der Effizienz aus. Dadurch konnten seit den 1980er-Jahren Ansätze der Beratung und des Coachings entstehen, die zwar noch auf therapeutischen Theorien und Praktiken fußten, aber nichts mehr mit der Behandlung von Krankheiten zu tun hatten. Diese therapeutische Normalisierung ermöglichte es dem von allen gesellschaftlichen Zwängen befreiten Individuum sich selbst zu regieren. In Überschneidung mit der umfassenden Ökonomisierung des Sozialen erfolgte dies freilich innerhalb eines demgemäß vorgegebenen Rahmens und als „Management des Selbst“.

Anmerkungen

1 Kommune 2: Kommune 2. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Kollektives Leben mit politischer Arbeit verbinden!, Reprint, Luxembourg 1975, S. 19.

2 Margrit Schiller: Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung. Ein Lebensbericht aus der RAF, Hamburg 1999, S. 31 ff.

Jens Elberfeld promoviert an der Uni Bielefeld mit einer Arbeit zur Geschichte der Familien- und Systemischen Therapie. Im kommenden Jahr gibt er zusammen mit Sabine Maasen u.a. die Überblicksdarstellung Das beratene Selbst. Aus der Genealogie einer Selbst- und Fremdführungspraxis im transcript-Verlag heraus.

Quelle: Recherche 3/2010

Online seit: 20. Oktober 2019

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