Chefideologe der besonderen Jünglinge

Nietzsches Bedeutung in der Gegenwart. Von Elisabeth von Samsonow

Online seit: 20. Oktober 2019

Der Schriftsteller und „Hauptgott“ (von Zeitgenossen verliehener Ehrenname) des Friedrichshagener Kreises Wilhelm Bölsche1 beschreibt in einer ausführlichen Rezension zu Lou Andreas-Salomés spektakulärem Nietzsche-Buch von 18942 den Stapel von Büchern, durch den er sich zunächst vorbereitend gearbeitet habe: „Alle diese Schriften, von denen ich nachgerade einen Stoß auf dem Pult liegen habe, der in allen Farben des Umschlags schillert so bunt wie eine Kölner Karnevalsmütze, sind nicht so viel wert, wie ein einziger guter Karnevalswitz, geschweige denn wie ein Bon mot von Nietzsche selber. Und der Tohuwabohu dieses Nietzsche-Skandals auf der grossen Landstrasse zählt einfach mit in dem lustigen Allgemeinspektakel zum Schluss des grossen neunzehnten Jahrhunderts, in dem Polterabend, da die kleinen Bengel, die noch gar nichts von Hochzeit und Ehe wissen, ihre Kindertöpfchen gegen die Hausthür werfen, dass es nur so klingelt…“3 Nicht dass es sich hundert Jahre später genauso verhielte. Allein die Fülle der zu Nietzsche verfassten Beiträge, Bücher und Kunstwerke ist nach wie vor berückend. Das Interesse an Nietzsche scheint eindeutig weniger den Moden des philosophischen Geschäftes unterworfen zu sein als die Aufmerksamkeit, die anderen Philosophen entgegengebracht wird.  Man darf nun zu Recht fragen, wie sich denn die andauernde ungebrochene Aktualität der Philosophie Friedrich Nietzsches erklärt. Die rhizomatische Verbreitung seiner Botschaften reicht heute vom tiefsinnigen Engagement durch die poststrukturalistische Intelligenz bis zur kürzelhaften Verbreitung der brandmark „Nietzsche“ etwa in Form eines posters mit Nietzsches Konterfei im Jugendzimmer des vierzehnjährigen, der Welt entsagenden Sohnes einer durchgeknallten Westküstenfamilie in der Filmkomödie Little Miss Sunshine. Jüngst hat Wolfgang Rihm mit seiner beeindruckenden Komposition über die Dionysos-Dithyramben der Nietzsche-Rezeption ein neues Licht aufgesetzt (Uraufführung bei den Salzburger Festspielen 2010, Bühnenbild von Jonathan Meese).

Seit dem 19. Jahrhundert baut sich eine riesige Theoriewelle auf, die die Implementierung des Biologischen in das Noetische fordert.

Diese Wirkung lässt sich nicht nur aus der ungewöhnlichen Form, aus der anziehenden und hypnotisierenden Sprache herleiten, es werden nicht nur die starken Thesen und propagandatauglichen Sentenzen sein, die ihn zum Leitstern, ja zum popstar des zeitgenössischen Denkens machen. Michel Foucault4 etwa sah den Helden des späten neunzehnten Jahrhunderts ebenso groß vor sich aufragen, wie er dann auch vielen anderen der Zunft erschien, die ihm Monumente in Form ergreifender Monographien widmeten.5 Georges Bataille hat 1945 ein sehr subjektives, sehr freies und poetisches „Schock-Buch“ geschrieben, in dem er sich als mit Nietzsche weitgehend einverstanden, ja sogar kongruent erklärt.6 Gilles Deleuze7 und Peter Sloterdijk schlossen um Jahrzehnte später in weniger depressiven, empathischen Monographien subtil an den Meister an und erklärten ihn so weit der Postmoderne, dass an ihm wieder neue Aspekte des Hagiographischen, etwas Jung-Heroisches, Beflügelndes hervortraten. Sloterdijks 1986 erschienenes Buch (Der Denker auf der Bühne8)ist so sehr erfüllt von reiner Gegenwart, es ist so sehr seit Jahren brandneu geblieben, dass es sich lohnt zu fragen, ob sich ein ähnlicher Effekt ohne Nietzsche herstellen ließe. Zu Sloterdijks Buch könnte man sogar sagen, dass in diesem weniger Sloterdijk einen Nietzsche als Nietzsche einen Sloterdijk produziert hat, der uns vorführt, wie man als Denker autohypnotisch die philosophische Rede zur Botschaftsqualität steigert.

Man hatte Nietzsche prophezeit, es werde ihm tatsächlich gelingen, nicht nur eine Philosophie, sondern eine philosophische Religion hervorzubringen.9 Die religionstauglichen unterscheiden sich nun haushoch von den gewöhnlichen Philosophien, wie sich wiederum die Philosophien als Religion selbstverständlich ebenso haushoch von der Religion unterscheiden. Was ist aber nun der clou dieser philosophischen Religion, der wir nach wie vor so gerne zusprechen?10

Revolutionäre Komplizen: Zarathustra und Don Juan

Der Religionscharakter des Nietzscheanismus beruht nur vordergründig auf der Einführung eines großmaßstäblichen Protagonisten in den philosophischen Diskurs, eines Propheten von der Statur des Zarathustra, von dem man weiß, dass er Priester einer „ganz anderen“ Religion war. Zwar unterscheidet sich die Art und Weise, wie Zarathustra bei Nietzsche auftritt, so ganz von einer akademischen Feier eines zu studierenden Großen. Die übliche und gutgeheißene Form philosophischer, auch philosophiegeschichtlicher Analyse, die zumeist im Kostüm einer unterschwelligen Parteinahme für einen (verblichenen) Zunftgenossen auftritt11 (bedauerlicherweise nicht unter der Kategorie „Monomanie“, sondern „Monographie“) darf viel, aber nicht gleich das, was sich Nietzsche herausgenommen hatte. Man würde niemals Adolf von Harnack dafür tadeln wollen, dass er mit seinen gnostischen Studien zu Marcion eine sektiererische oder religionsgründerische Absicht verfolge, obgleich jede Seite der brillanten Studie nichts anderes tut, als die unverhohlene Sympathie des Autors mit seinem Studienobjekt – man müsste eher sagen: mit seiner Studienperson – auszuposaunen.12 Gleichwohl werden den Leser niemals Zweifel darüber beschleichen, dass Harnack hier über jemanden zu sprechen unternimmt, den er nicht persönlich kennt und der auch seinerseits den Autor nicht persönlich gekannt hat. Nietzsches Zugang zu Zarathustra ist also anders und direkt, und obwohl sein Standpunkt als Philologe und Kenner des Altertums nicht weit von dem des Kollegen entfernt gelegen wäre, ist die Idee, dass sich Nietzsche und Zarathustra nicht persönlich gekannt hätten, als eine die Philologie begründende Tatsache plötzlich gegenstandslos, ja geradezu lachhaft. Zarathustra tritt bei Nietzsche ungefähr so auf wie Don Juan in Carlos Castanedas Texten, nämlich als eine neben dem Autor stehende, auch bisweilen im Autor steckende, diesen bis hin zur absoluten Unumstößlichkeit des gestifteten evangelisierenden Gesagten stärkende Instanz. Nun ist es aber keine Vaterfigur, die da neben den Proselyten des neuen Bekenntnisses steht, sondern einer, der das Väterliche zerstört, indem er die geltende Ordnung als Verblendungszusammenhang enttarnt und damit aussetzt, wobei genau das die Erkenntnisform ausmacht. Es handelt sich also bei Zarathustra und Don Juan um den neuartigen Typus des revolutionären Komplizen.

Dionysos zieht mit dubiosen Gefährten herum, eigentlich mit denjenigen, denen die Schulphilosophie die Türe gewiesen hat: mit wildgewordenen Frauen, fetten Betrunkenen und getupften exotischen Bestien.

Deleuze hatte deshalb in seinem Text zu Sacher-Masochs Venus im Pelz13 sinngemäß geschrieben, dass es darum ginge, den Ödipus auf den Kopf zu stellen. Etwa so: Die Mutter wird ent-fernt (im Sinn, den Heidegger dem Wort beilegt, d.h. also „bis zur Unwahrnehmbarkeit nahegebracht“), der Vater eingeschmolzen. Der alten Nomenklatur der Psychoanalyse entsprechend hieße das, die Mutter ist zu töten, der Inzest mit dem Vater zu begehen (was am Ende auf die Wiederkehr der universalen Mutter hinausläuft). Dass der Vater „eingeschmolzen“ wird, scheint mir die genauere, den Sachverhalt treffender wiedergebende Terminologie. Schmelzvorgänge, ein Ein-, Ver- und Zerschmelzen (Konfusion) beschreiben die psychotechnischen Prozesse, die hinter der Fixierung auf das Elternpaar wieder die systemischen Größen hervortreten lässt, deren Usurpatoren die Eltern gewesen waren. Die neuen Elternlosen dürfen sich nun, das die gute Botschaft, als Systemkinder empfinden. Dieses System ist als eine transpersonale Anlage zu verstehen, bar der Überdeterminierungen sowohl des Kopfes als auch des Bauches. Wenn beispielsweise „der Kopf“ fehlt, wenn Hierarchie und Autorität jedenfalls zu überprüfende Größen werden, dann setzt eine Verbreiterung – um es einmal so zu sagen – auf eine weite Ebene, eine Dehnung des Horizonts ein. Wenn auch der Philosophie der (ihr nämlich als verbotener zusetzende) „Bauch“ abhanden gekommen ist, dann ist das Dümpeln im Seins-Pool wieder gefahrlos möglich. Und wenn nun eine Figur beim Autor steht, die genau das einflüstert, das man selbst zu sagen hätte, dann wird das Verhältnis der beiden die enharmonische Verwechslung sein können, Reziprozität, sogar Verschmelzung. Eigentümlicherweise spricht man bei Verschmelzungstendenzen niemals von einer Fusion in die Höhe, sondern auschließlich in die Tiefe, bis in die kleinsten Teile. Je nach dem reicht diese Tiefe weit. So trifft sie auf die Instanz, die von unten bewegt, die zur subversio befähigt. Auch unten herum ist ein Streben anzunehmen. Dieses ist das Leben.

Befreiung aus dem ödipalen Dilemma

Seiner nimmt sich der Philosoph an, indem er entdifferenziert. Indem er allmählich die Differenzen abzieht und der ewigen Distanz ein Ende macht, die ihn von allem trennt. Indem er beispielsweise das Natürliche an der Natur nicht mehr sehen will, sie also wieder aus den Ketten, an die sie der Begriff gelegt hat, befreit. Nietzsche – und die Nietzsche anhängende Philosophie – beobachtet sich dabei, wie er lebendig wird, wobei er sich zugleich als Philosoph zerstört. Das ist nun nicht die Tätigkeit, die gewöhnlich die Philosophie ausmacht – im Gegenteil. Man könnte sagen, dass Nietzsche die Zerstörung des Philosophen vormacht, dass er die Verwandlung der Philosophie in Kunst vorführt, insofern die Kunst Echo der Natur, Aspekt der Natur selbst ist.

Deshalb identifizieren sich die besonderen Jünglinge mit Nietzsche. Seit gut hundert Jahren ist Nietzsche Chefideologe der besonderen Jünglinge, unter ihnen vornehmlich die Vaterlosen, gleich nun, ob aus biografischem oder symbolischem Grunde. Nietzsche ist der Prophet, der den Jüngling, allerdings zu einem gewissen Preis, aus dem ödipalen Dilemma befreit. Er selbst ist der Denker als Jüngling ozeanischen Typs. Die „Entfernung“ der Mutter macht den Weg frei in das, was Sloterdijk als „Weltinnenraum“ bezeichnet, in einen Raum ohne Außen und Innen, ohne Trennung, ohne die Pathologie des Exzentrischen und der Exklusion.

Dionysos ist folgerichtig einer, der den ganz ungeheuerlichen Inzest ausüben darf, sozusagen fortwährend, nämlich als seine Vereinigung mit Sein und Leben.

Seit dem 19. Jahrhundert baut sich eine riesige Theoriewelle auf, die die Implementierung des Biologischen in das Noetische fordert (und umgekehrt), also die ernsthafte Berücksichtigung der Tatsache, dass wir jedenfalls nichts weniger sind als eine bestimmte Tiersorte, ausgestattet mit bestimmten Organen und Leibeskompetenzen, aus denen sich der Rest herleitet. Nietzsches Denken ergreift also Partei für den Vorrang des Lebens. Was diese Entscheidung für die konsequente Herausbildung des „Wahns“ bedeutet, dem Nietzsche „anheim gefallen“ ist, ist eigentlich nur von Sloterdijk bisher mit den richtigen, entpathologisierenden Mitteln gesehen worden. Wie Sloterdijk den „Denker auf der Bühne“ erfasst, kommt der Philosophie wieder jene autonomisierende Bio-Macht zu, die sie wieder in die kritische Zone ihrer wirklichen Möglichkeiten bringt.

Dunkle Gottheit

Es entspricht dem Stil der philosophischen Religion, die Nietzsche auf den Weg gebracht hat,  dass er sich darauf besann, eine Gottheit zu inthronisieren, besser gesagt: zu re-inthronisieren, die längst in das Archiv des christlichen Gegen-Personals gewandert war, aber nicht nur das: die schon zur ihren Zeiten unheimlich umranktes Gebilde war (wenn man etwa an die „Bacchen“ des Euripides denkt): Dionysos. Dieser ist als die „dunkle Gottheit“, der auch Rilke, nach einem Wort von Lou Andreas-Salomé „entgegengeht“, von vornherein auffällig. Dionysos zieht mit dubiosen Gefährten herum, eigentlich mit denjenigen, denen die Schulphilosophie die Türe gewiesen hat: mit wildgewordenen Frauen, fetten Betrunkenen und getupften exotischen Bestien. Indem Nietzsche also diesem dunklen Gott den Vorzug gibt, mischt er die Karten für einen sozialen Vertrag neu, der zugleich Urkunde der logischen Beziehungen wird. Nietzsche wandert nicht nur aus seiner Gegenwart aus,14 was eine Tätigkeit ist, die so gut wie von allen Intellektuellen in der einen oder anderen Weise ausgeübt wird. Nietzsche wandert aus dieser Gegenwart aus in einer Prozession der anderen Art. Der dionysische Zug, der also nun sein philosophisches Vehikel wird, ist veritable Transgressionsparade, an dem alles zur Teilnahme eingeladen ist, das nicht dicht ist in Bezug auf seine Identifikation. Der Ebenenwechsel, auf welches sich philosophisches Bewusstsein trainiert, hat den Rausch (im Reiche des Apollinischen: den Traum) einzukalkulieren als die sie umgebende Zone der kühlen Vernunft.

Die neuen Vaterlosen verwerten den Bonus ihrer verblüffenden Nicht-Kastriertheit, indem sie in sind.

Bewusstsein entsteht auch dadurch, dass es sich systematisch entgrenzt, um zu erfahren, wo es sich befindet. Wenn nun freiwillig auf den falschen Luxus der Individuation verzichtet wird, geht man dorthin, wo bisher kein Männliches ohne Strafe sein hat dürfen: in den Raum der Ungeborenheit,15 in das Labyrinth, in ein System ohne Ausgang, das Welt heißt. Hier erkennen wir, dieser Logik folgend, warum Dionysos in seiner Kindheit ein Mädchentraining absolviert, lange Locken und bunte Röckchen hat tragen müssen. Er war Mädchen, bevor er ein Junge wurde, oder vielleicht ist er Mädchen und Junge zugleich, pubertärer Stammkörper der synthetischen Art, ausgestattet mit jener Dämonie, die diesem offenen Alter des Übergangs eigen ist. Durch Dionysos führt Nietzsche die andere Möglichkeit wieder ein, den Antichrist, den Jüngling, der ohne die soteriologische offene Wunde der großen Trennung bleibt. Dionysos ist folgerichtig einer, der den ganz ungeheuerlichen Inzest ausüben darf, sozusagen fortwährend, nämlich als seine Vereinigung mit Sein und Leben. Bis zu Dionysos war offenbar nie vorgedrungen, dass die griechische Propaganda vorhat, durch die logische Kurzschließung des Lebens mit der (ihm verbotenen) Mutter dem Jüngling einen Giftstachel einzupflanzen, der ihn fürderhin allen Maximierungen der Verzweiflung aussetzen würde, was heißt, ihn doch recht für die Brauchbarkeit als staatstragende Nachwuchskraft qualifizieren. Dionysos wird also der Komplize der neuen Ungeborenen, also derjenigen Generationen von Jünglingen, die das ausgehende neunzehnte und das zwanzigste Jahrhundert bestimmt haben. Nicht von ungefähr gibt er das Idol der ersten Popgeneration, die Langhaarigkeit und eine dionysische Tätigkeit, die als „Gammeln“ in den neunziger Jahren behördlich verboten war, pflog, einmal ganz abgesehen von Kultivierungen, gelungenen und weniger gelungenen, des Modells des Rausches und der Wiedergeburt der Musik. Nietzsche ist also der Philosoph einer grundlegenden Transformation von Subjektivität, die das zwanzigste Jahrhundert durchzieht, nämlich Philosoph entweder der Des-Identifikation oder der multiplen Identifikation (Ich als Zarathustra, Ich als Dionysos, Ich als Multitude), die leuchtend vor eine zwanghaft einfache Identität tritt, die mittels Reisepass feststellbar ist. Nietzsche ist der Vordenker – und darin unmittelbar sein lebendiger Nachfolger – der neuen Vaterlosen, über die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur hilflos spekuliert worden ist. Die Verschiebung eines Meridians, der der bürgerlichen Gesellschaft bislang ihre Koordinaten geliefert hatte, ist das Echtzeitereignis, dessen Erlebnisform Nietzsche selbst darstellt. Es ist etwas wie der Untergang des Ödipalen und das Wiederauftauchen des Präödipalen, das als archaisches pseudo-griechisches Ereignis heute den Westen trifft. Es emergiert wie ein vergessener Kontinent der Typus des wilden Weichen, des Neuromantikers, des tragischen Helden, der natürlich komisch ist insofern, als er immer mehr drin sein wird als draußen, als er immer mehr der neuen Unübersichtlichkeit verfallen muss, weil er ein Reich (das Sein, das Leben) zu bewohnen und zu besetzen sich anschickt, zu dem er zuvor offiziell und behördlich keinen Zutritt gehabt hat. Die neuen Vaterlosen verwerten den Bonus ihrer verblüffenden Nicht-Kastriertheit, indem sie in sind. „Das erste Geheimnis Nietzsches ist Ariadne, sie ist die erste weibliche Macht, Anima, die dem dionysischen Jasagen untrennbar verbundene Verlobte.“16

In seiner technischen Fassung würde dieser Umstand folgendermaßen ausgesagt werden: Nietzsche gebührt das Verdienst, einen ersten Schritt in der Sprengung des philosophischen Identitätskonzeptes gegangen zu sein, indem er zwar noch nicht so weit nach vorne preschte, die Multiplikation einzuführen, von der die zeitgenössischen Theoretiker der Multitude, allen voran Antonio Negri und Michael Hardt, handeln. Aber Nietzsche hatte ihnen die Schneise geschlagen. Das tat er, indem er seinen Sprengsatz an die Identität so gelegt hat, dass er nicht gleich die Multitude, sondern erst die vielen Selben nach der Detonation erzielte. In der Idee der ewigen Wiederkehr, die der Titel dieses philosophischen Aktes ist, sah er sich immerhin vielfach identisch. Er hat es also fertiggebracht, dieses philosophische Attentat – nicht wie die anderen Philosophen, die immer von Menschen sprechen, die sie meist selbst nicht sind – ausschließlich gegen sich selbst zu verüben. In dieser Konsequenz bleibt er der Radikale unter den Philosophen, die ihre Profession als Selbstversuch verstehen.

Anmerkungen

1 Autor beispielsweise des populären Theorieknüllers Das Liebesleben in der Natur von 1898

2 Lou Andreas-Salomé: Nietzsche in seinen Werken, mit 2 Bildern und drei faksimilierten Briefen, Wien bei K.Konegen 1894

3 Wilhelm Bölsche: Das Geheimnis Friedrich Nietzsches, Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne V),

4 s. etwa: Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, München 1974

5 s. Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens, München 2000

6 Georges Bataille: Sur Nietzsche, Paris 1945; erste Übersetzungen (ins Englische) 1992 haben dem Buch eine erst postmoderne Wirkung beschert.

7 Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie (1962), aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Frankfurt/Main 1985. Deleuzes Buch darf allerdings, nach eingehenderer Lektüre, als weit weniger identifikatorischer Versuch gewertet werden als es das Nietzsche-Buch Sloterdijks ist. Deleuze spannt Nietzsche gelegentlich durchaus vor seinen Karren, wenn er Logiken der Des-Identifikation mit Nietzsches Hilfe die Schärfe gibt. Deleuzes Zugang hebt sich vielleicht von Sloterdijks insofern ab, als Deleuze eine atmosphärische- oder kairos-Idee mit seiner Ereignisphilosophie verfolgt, wohingegen Sloterdijk – zumindest ist das im Nietzsche-Buch so – nicht ausschließt, dass das évènement durchaus personale Züge haben kann, also etwa das „Heraklit-Werden“ bedeutet.

8 Peter Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt/Main 1986

9 s. Lou Andreas-Salomé im August 1882 in einem Brief an Paul Rée: „In Nietzsches Charakter liegt ein Heldenzug, und dieser ist das Wesentliche an ihm, das, was allen seinen Eigenschaften und Trieben das Gepräge und die zusammenhaltende Einheit gibt. – Wir erleben es noch, daß er als der Verkünder einer neuen Religion auftritt, und dann wird es eine solche sein, welche Helden zu ihren Jüngern wirbt.“ Friedrich Nietzsche/Paul Rée/Lou von Salomé: Die Dokumente ihrer Begegnung, hg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt 1970, S. 184

10 Unter den ausführlicheren Nietzsche-bezogenen Texten stammen die meisten von Autoren, ungleich weniger von Autorinnen.

11 Was weiter nicht schlimm ist, wenn man Hugo von Hofmannsthals wunderliches Wort beherzigt: „Es gibt keine entzückendere Gesellschaft als einen Mann von Geist, der tot ist.“

12 Adolf von Harnack: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Nachdruck der zweiten Auflage 1924, Darmstadt 1995

13 Gilles Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus, in: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz, Frankfurt/Main 1968

14 Der Herausgeber der Schriften Nietzsches äußert sich zu dessen „Unzeitgemäßheit“ folgendermaßen: „Der paradoxe Knoten seiner Existenz, das, was er selber als ‚Unzeitgemäßheit’ bezeichnet hatte, richtet ihn nun zugrunde. Denn es ist die zweifach anomale Natur dieser Unzeitgemäßheit, die einen anfänglichen Riß immer größer werden lässt, bis er zur völligen Zerstörung führt.“ Giorgio Colli: Nachwort, in: Friedrich Nietzsche KSA 6, Neuausgabe München 1999, S. 449. Die Frage also: Gibt es überhaupt eine Alternative zur Unzeitgemäßheit?

15 In diesem Zusammenhang lohnt eine neuerliche Lektüre von Theweleits Analysen zu den „Nicht-zu-Ende-Geborenen“ in „Männerphantasien“, wobei seine Auffassung dieses Typs weniger optimistisch ist als die meine, s. Klaus Theweleit: Männerphantasien, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1980, Kap. 4, Abschnitt „Allerlei Einzelnes, das mit dem Ich des Nicht-zu-Ende-Geborenen zu tun hat“

16 Gilles Deleuze: Nietzsche et la philosophie, a.a.O., p.26

Elisabeth von Samsonow, geboren 1956, ist Professorin für philosophische und historische Anthropologie der Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien. Zuletzt erschien Egon Schiele: Ich bin die Vielen (Passagen, 2010).

Quelle: Recherche 3/2010

Online seit: 20. Oktober 2019

Die Online-Version unterscheidet sich geringfügig von der Print-Variante, Tippfehler wurden korrigiert.