Aberglaube und gelehrte Dämonologie

Helmut Birkhan erläutert magische Praktiken und Denkweisen im Mittelalter und darüber hinaus. Von Martin Lhotzky

Online seit: 20. Oktober 2019

Es ist selbstverständlich Unfug zu behaupten, das Wetter werde schlecht, wenn die Kinder nicht brav ihre Teller leer essen. Schuld sind vielmehr die Mönche, die ja eigentlich geschworen haben, stets innerhalb ihrer Klostermauern zu bleiben (stabilitas loci), und nun beständig über die Landstraßen ziehen! Diese Erklärung bietet zumindest der Bozener Hans Vintler in seiner vor 1411 entstandenen Weisheitensammlung Pluemen der tugent (Blumen der Tugend). Fast vierhundert Verse der umfangreichen Reimdichtung berichten von Aberglauben und magischen Praktiken und sind damit eine der wichtigsten Quellen der Historiker für diesen Bereich der Kulturwissenschaften. Entsprechend breiten Raum widmet diesen Sentenzen auch Helmut Birkhan, Emeritus für Ältere deutsche Sprache und Literatur der Universität Wien, in seinem schmalen Band über Magie im Mittelalter, erschienen in der Beckschen Reihe.

Hexenverfolgung, Alchimie, Zaubersprüche

Dabei überschreitet die Darstellung ständig die enggesetzte Epochengrenze. Ohne auf Vorläufer und Nachwirkungen zu verweisen, kann man sich dieses Themas allerdings kaum sinnvoll annehmen. So beginnt Birkhan seine Ausführungen in der Spätantike, doch endet er, wenn man es genau betrachtet, mehrfach und in verschiedenen Zeitebenen. Das letzte Kapitel des letzten Abschnittes (Zunahme der Magie im Spätmittelalter), das den etwas unglücklichen Titel „Hexenwahn“ trägt, bricht, wie es scheint, plötzlich mit Zitaten aus der Cautio criminalis (1632) des Friedrich von Spee, eines rationalistisch argumentierenden Gegners der Hexenprozesse, ab. Das Wort vom „Wahn“ der Hexenverfolgungen wird aktuell nicht mehr so gerne verwendet, weil dadurch mehr verdeckt als ausgesagt wird. Schließlich war bei den entsprechenden Gerichtsverfahren nicht ein Lynchmob hinter den der Hexerei Beschuldigten her, sondern wurden alle Macht- und Gewaltinstrumente der frühmodernen Staatlichkeit aufgeboten.

Hier gelingt eine durch Materialfülle bestechende Dokumentation, was man unter dem Begriff Magie verstehen konnte und heute noch kann.

Das Buch stellt aber eben keine Untersuchung zu Hexereiprozessen dar, kann nur folgerichtig ohne deren Erwähnung nicht auskommen, also möge dieser Einwand genügen. Denn im Übrigen gelingt hier eine nicht zuletzt durch ihre Materialfülle bestechende Dokumentation, was man unter dem Begriff Magie verstehen konnte oder heute noch verstehen kann. Birkhan erläutert die Denkmuster magischer Praktiken und Aberglauben ebenso wie die Magie der Gelehrten und die Alchimie, die einen sehr breiten Raum in seiner Darstellung einnehmen. Es ist freilich der Quellenlage geschuldet, wenn diese Kapitel beinahe die Hälfte des Bandes füllen. Wälzer über Dämonologie, protonaturwissenschaftliche Versuche, religionsphilosophische Traktate oder angeblich vom biblischen König Salomo verfasste Werke, vor allem aus der Frühen Neuzeit, sind eben zahlreicher erhalten als mittelhochdeutsche Zaubersprüche. Für den unvorbereiteten Leser könnten besonders hier die zahlreichen Exkurse in die Etymologie bisweilen abschreckend wirken. Wer den Professor im Vortrag an der Universität erlebt hat, ahnt allerdings, dass er sich gerade bei diesem Lieblingsthema erstaunlich diszipliniert in Zurückhaltung übt. Die leider etwas tabellarisch anmutende Darstellung der Magie im Volksglauben fördert immerhin das Optimum aus den wesentlich geringer sprudelnden schriftlichen Quellen, auf materielle Ressourcen lässt sich der Sprachforscher hingegen etwas zu wenig ein.

Das Wort vom „Wahn“ der Hexenverfolgung verdeckt mehr, als es erklärt.

Einige trefflich eingestreute Anekdoten, meist in lediglich einem Satz zusammengefasst, erhöhen dann doch den Unterhaltungswert des Werkes. Eine für Gläubige eventuell anstößige Annäherung des christlichen Reliquienwesens (Knochen, Kleidungsstücke von Heiligen, die Holzsplitter des Kreuzes Christi, um nur einige Beispiele zu nennen) an magische oder abergläubische Bräuche gipfelt etwa in der Bemerkung: „Der umschwärmte Tiroler ,Volksmusik‘-Interpret Hansi Hinterseer kann angeblich magisch heilen.“ (Hervorhebung so bei Birkhan.)

Als fundierte Einführung in einen Aspekt der historischen Forschung, der nur allzu gerne von pseudowissenschaftlicher, auch esoterischer Seite besetzt würde, leistet der kleine Band ganze Arbeit.  Mit seinem lesefreundlich aufbereiteten wissenschaftlichen Apparat gibt er darüber hinaus auch genügend Rüstzeug für eine eigene, seriöse Vertiefung der Materie an die Hand.

Martin Lhotzky ist Historiker und Journalist, er arbeitet unter anderem für die FAZ, die Zeitschrift Frühneuzeit-Info und die Literaturzeitung Volltext.

Quelle: Recherche 3/2010

Online seit: 20. Oktober 2019

Helmut Birkhan: Magie im Mittelalter. C. H. Beck, München 2010. 205 Seiten, € 12,95 (D) / € 13,40 (A).