Mit den Prognosen innerhalb der Wissenschaften ist es so eine Sache. Die Angehörigen der historisch fundierten Kulturwissenschaften pflegen zu Recht einen notorischen Zweifel, wenn es – und sei es ‚nur’ in essayistischer Form – um Fragen geht, die den Istzustand des Wissens auf seine künftige Beschaffenheit zu extrapolieren versuchen. Fragen vom Typus ‚Was-wäre-wenn’ verbieten sich einem Historiker ebenso wie Zustandsbeschreibungen des Kommenden von kurz- bis mittelfristiger Reichweite, weil die Zukunft schlechterdings von viel zu vielen komplexen, in ihrer Vorhersagbarkeit nicht zu bestimmenden geschweige denn überschaubaren Variablen abhängt. Auch der empirischen Sozialforschung der Gegenwart wäre es angeraten, nicht zuletzt unter dem Eindruck jener („höchstwahrscheinlich“) fehlgehenden Vorhersagen wie bei den politischen Wahlen der vergangenen Jahre, eine gehörige Portion Skepsis als notwendige Zutat des eigenen methodischen Werkzeugkastens zu berücksichtigen – oder gar ganz auf das millionenschwere Geschäftsfeld vermeintlich treffender (Wahl-)Prognosen zu verzichten. Statistische Aussagen sind schließlich etwas grundlegend anderes als jene von der (medialen) Wirklichkeit generierten Fakten, etwa wenn ‚der Wähler‘ endlich gesprochen hat oder ein Ereignis – nicht zuletzt kraft publizistischer Aufmerksamkeit – historisch wird, das heißt letztendlich überhaupt stattfindet. Allein die auf ungetrübten Fortschritt fokussierten Vertreter der sogenannten exakten Wissenschaften wie beispielsweise Ingenieure (hier nur stellvertretend genannt etwa für die ungleich stärker noch im Fiktionalen operierenden Elementarteilchenforscher am milliardenschweren Großgerät) vertrauen noch auf die Macht von Vorhersagbarkeiten, sobald ihnen die Funktion eines kleinen Rädchens im großen Getriebe der Weltmaschine klar zu werden scheint.
Überkommenes Heldenepos
Ein Paradebeispiel derartiger Hybris im Kontext wissenstechnischer Entwicklungen stellt Vannevar Bush dar, jener „General of Physics“ (TIME-Magazine von 1944), Cheforganisator des Manhattan-Projects sowie als Forschungsdirektor verantwortlich für die Koordination der gesamten amerikanischen Weltkriegstechnologie, der im Mai 1945 einen zunächst unscheinbaren, in seiner wirkungsmächtigen Rezeptionsgeschichte und vermeintlichen Leistungsfähigkeit jedoch nahezu entgrenzten Aufsatz über einen seltsamen Schreibtisch namens Memex publizierte (vgl. dazu auch Recherche Nr. 3/2008, S. 18-20). Wofür mußte die Memex und ihr ‚Erfinder‘ in der Folge nicht alles herhalten? Als Ahnherr des Personal Computers wurde Bush infolge seines Aufsatzes „As We May Think“ vielerorts gepriesen und die Memex gar als Prinzipschaltung des Hypertexts, wobei einiges geflissentlich übersehen wurde, und zwar nicht zuletzt, dass jede philologische Fußnote bereits nach diesem Prinzip funktioniert.
Es ist der ebenso detaillierten wie meisterhaft recherchierten Studie von Michael Buckland zu verdanken, dass dieses Heldenepos nun getrost in die virtuellen Papierkörbe unserer Personalcomputer wandern kann, um im Gegenzug das aus den Annalen der Wissenschaftsgeschichte nahezu vollständig gelöschte Leben eines keineswegs infamen Menschen wieder zu entdecken. In einer rund zwanzigjährigen Beschäftigung mit Goldberg ist es Michael Buckland auf eindrucksvolle Weise geglückt, die verstreuten und verwitterten Spuren dieser Lebensgeschichte zu rekonstruieren, um damit ihren historiographischen Status als gerne übersehene Fußnote zu einer ungleich berühmteren Geschichte wie der Memex nunmehr zu überwinden. Denn Buckland gelingt es mit seiner Biografie über den russisch-jüdischen Chemiker und Pionier der Phototechnik, Emanuel Goldberg (1881–1970), dessen Anteile am technologischen Fortschritt innerhalb des 20. Jahrhunderts bislang allzu wenig gewürdigt worden sind, aus ihrem bisherigen Schatten- oder besser Fußnotendasein in das ihm gebührende Licht zu setzen. Nach der Lektüre kann kein Zweifel mehr bestehen, dass Goldberg ein herausgehobener Platz in der Entwicklungsgeschichte der deutschen wie internationalen Feinmechanik und Photoelektrik zukommt. Umso erstaunlicher erscheint die Tatsache, dass Goldbergs Errungenschaften bis dato weitestgehend unbekannt oder vergessen sind, und diesen Umstand mit aller notwendigen Akribie aufzuklären, ist einer der großen Vorzüge von Bucklands Buch.
Goldberg wurde in erschreckend systematischer Weise aus den Lehrbüchern und Firmengeschichten herausgestrichen.
1881 in Moskau geboren und in bürgerlich-behüteten Verhältnissen aufgewachsen stößt Goldbergs akademische Erziehung im zaristischen Russland aufgrund seiner jüdischen Herkunft auf die zeittypischen Hindernisse, so dass der ebenso polyglotte wie technisch talentierte Chemiestudent seine Ausbildung nach einem Zwischenaufenthalt in London an den renommiertesten Stätten im Deutschen Kaiserreich, namentlich bei Adolf Miethe an der TU Charlottenburg und am berühmten Institut für physikalische Chemie von Wilhelm Ostwald in Leipzig fortsetzt, um seine Studien 1906 daselbst mit dem Doktorgrad abzuschließen. Die wache Neugier des Begabten und seine außerordentlichen Fähigkeiten führen Goldberg dabei in das Gebiet der seinerzeit prosperierenden Photochemie, was ihm 1907 – er ist gerade 26 Jahre alt – bereits eine Professur an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe, der heutigen Hochschule für Graphik und Buchkunst, in Leipzig einbringt. Insbesondere seine Expertise in der Sensitometrie, der Lichtempfindlichkeitsmessung photographischer Papiere und Emulsionen, fördern bahnbrechende Erkenntnisse, aber auch handfeste Produkte wie den Densographen oder einschlägige Verbesserungen der Luftbildphotographie zutage, die im Laufe des Ersten Weltkriegs auch die Talentscouts von Carl Zeiss, Jena, auf den jungen Forscher aufmerksam werden lassen. Ihnen gelingt es, Goldberg nach Dresden zu holen, wo er 1917 zum Gründungsdirektor und Vorstandsmitglied der Zeiss Icon AG ernannt wird, eine einflussreiche Stelle, die er bis zu seiner Flucht 1933 vor den nationalsozialistischen Machenschaften über Paris nach Palästina innehaben sollte. Als gelernter Photochemiker mit weitreichenden institutionellen Verflechtungen und dank seiner Sensitivität für die Medien seiner Zeit gelingt es Goldberg, der über zahlreiche Mitgliedschaften in (wissenschaftlichen) Vereinigungen von der Deutschen Kinotechnischen Gesellschaft bis zum Rotary Club Dresden verfügt, außerordentlich erfolgreiche Produkte wie die erste tragbare Amateur-Filmkamera Kinamo (1922) oder die Contax I (1932), eine standardsetzende Kleinbildkamera, zu lancieren. Die Grundlagenforschung tritt dabei jedoch keineswegs in den Hintergrund. Goldberg zeichnet sowohl für praktische Verbesserungen der photographischen Technik (der sog. Goldberg-Keil) als auch für fundamentale theoretische Erkenntnisse aus seinen Versuchsanordnungen (die sog. Goldberg-Bedingung) verantwortlich. Daneben findet er noch die Zeit, sich in Kooperation mit Siegmund Loewe für die als Konkurrenz zur Telefunken AG gegründete Fernseh AG zu engagieren, wo sich Emanuel Goldberg im Rahmen des sogenannten Zwischenfilm-Verfahren um die Speicherung von Fernsehbildern bemüht, oder aber als ingeniöser Entwickler auf dem Gebiet der Mikrophotographie.
Geistiger Vater der Suchmaschine
Und genau hier liegt der Grund, warum Emanuel Goldberg – und nicht etwa Vannevar Bush – als der geistige Vater und auch als erster Konstrukteur einer Dokumentverschaltungs- und Suchmaschine wie der Memex gelten muss. Bereits seit 1917 beschäftigte sich Goldberg mit einer Methode zur Mikrophotographie von Schriftstücken und Bildern, die er 1925 unter dem Begriff „Mikratphotographie“ der Öffentlichkeit präsentierte. Das entscheidende Element von Memex ist jedoch nicht die mikroskopische Verkleinerung (die einigen Geheimdiensten vom Mossad bis zum KGB zur Anleitung von Spionagegeräten gedient haben soll), sondern vielmehr ein Suchmechanismus, der anhand von vorgegebenen Begriffen die entsprechenden Dokumente aus dem Speicher mit Hilfe eines photoelektrischen Abtastmechanismus auf einen Bildschirm projiziert. Eine technische Lösung für dieses Verfahren reicht Goldberg 1927 als Patent ein, das ihm schließlich unter der Bezeichnung einer „Statistischen Maschine“ in Deutschland, den USA, England, Frankreich und Italien verliehen wird. Darüber hinaus präsentiert der findige Entwickler 1931 auf dem Achten Kongreß für Internationale Photographie in Dresden seiner staunenden Zuhörerschaft dieses Konzept, das schließlich in drei Prototypen seine Tauglichkeit zu beweisen vermag. Auch wenn diese Prototypen – einschließlich Goldbergs persönlicher Workstation mit in einem Schreibtisch eingelassenen Bildschirm – in den fatalen Luftangriffen auf Dresden im Februar 1945 wahrscheinlich zerstört wurden, ist den hellsichtigen Zeitgenossen dieser technologische Durchbruch nicht verborgen geblieben. So vermerkt etwa Michael Gesell bereits 1926, mit Goldbergs Mikrataufnahmen lasse sich eine Nationalbibliothek bequem auf Westentaschenformat verkleinern, denn damit „rückt die Mikrophotographie den geistigen und seelischen Niederschlag der Menschheit auf den kleinstmöglichen Raum zusammen. […] Die Metaphysik blinzelt.“
Die Liste von Goldbergs technischen Einsichten, Forschungsanalysen und Produkten ist lang (tragbare Bibliothekskopierer gehören neben dem bislang Genannten ebenso zu seinem Portfolio wie das Prinzip, in einer Suchmaschine via Telefon auch in räumlicher Entfernung recherchieren zu können); seine Errungenschaften auf so unterschiedlichen Gebieten wie der Photo-, Druck- und Fernsehtechnik, der Dokumentenspeicherung und -suche, der Feinmechanik und Elektrooptik sind groß. Kurzum, es wäre ein Leichtes für seinen Biografen, Goldbergs Vita seinerseits, ganz im Geiste von Vannevar Bush, als eine Heldengeschichte zu inszenieren. Doch auch wenn dieses Leben reichlich Stoff dazu böte, Michael Buckland erliegt dieser allzu leichten Versuchung keineswegs. Vielmehr setzt er ganz auf eine unprätentiöse, nachgerade nüchterne Einordnung der Geschehnisse, die nichtsdestotrotz um die Tragweite der hier entfalteten Ergebnisse weiß. Exemplarisch lässt sich das an einer Episode ablesen, infolge derer Goldberg im April 1933 von SA-Schergen zunächst entführt, sodann misshandelt und schließlich zum Rücktritt von seinem Dresdner Direktorenposten gezwungen wird; eine Folge von Begebenheiten, die trotz ihrer zurückhaltenden Schilderung gleichwohl nicht ihre eindrückliche Wirkung verfehlt.
Michael Buckland ist offenkundig jeder noch so kleinen Spur nachgegangen, die einen Wink auf Goldbergs Leben freizulegen versprach – bis hin zur erfolgreichen Suche nach einem Zeitungsartikel über den Erfinder im Prager Tagblatt vom 10. September 1938, der nur noch in einem einzigen Exemplar überliefert ist, weil die später am Tag gedruckten Ausgaben – von den sich anbahnenden historischen Ereignissen rund um das Münchner Abkommen alarmiert – den Artikel aus der Morgenausgabe verdrängten. Nicht nur in dieser Kunst der Recherche liegt eine bewundernswerte Leistung, die künftig einen Maßstab für die Historiker der Informationsgeschichte darstellen möge und ebenso als vorbildlich für die Akribie zeithistorischer Forschung insgesamt herangezogen werden kann. Denn nur so kann es gelingen, das Lebensbild einer besonderen Persönlichkeit wie Emanuel Goldberg nicht bloß in groben Umrissen nachzuzeichnen, sondern ihm vielmehr – trotz der größtenteils spärlichen Quellenlage – Farbigkeit, Schärfe und Glanz zu verleihen.
Auch wenn die technischen Beschreibungen von Goldbergs Ideen gelegentlich etwas trocken erscheinen mögen, so versteht es der Biograf gleichwohl, durch informative Exkurse die Fährnisse von Goldberg in die so turbulenten wie dramatischen Zeitläufte einzubetten. Der im Schatten der Geschichte operierende Protagonist tritt dabei gar wie selbstverständlich an die Seite von einflussreichen Persönlichkeiten, nicht allein eingebunden in wissenschaftliche Spezialdiskurse seiner Epoche, sondern immer wieder auch im Dialog mit einer illustren Garde von renommierten Zeitgenossen, angefangen bei Wilhelm Ostwald und Wilhelm Wundt über Oskar von Miller und Viktor Klemperer bis hin zu Chaim Weizmann und David Ben Gurion. Daneben hegt Buckland auch eine gewisse Vorliebe für kuriose Details, die nicht wenig zur Eingängigkeit und Sympathie für dieses verschüttete Leben beiträgt, etwa wenn er die Ikonographie der Exlibris von Goldberg und seiner Gattin rekonstruiert, oder wenn sich aus der Beobachtung von Goldbergs allmorgendlich verzehrten Frühstückseiern die Geschichte eines eiweißhaltigen Trennmittels für eine photographische Emulsion herleiten lässt. Zum regelrechten Leitmotiv – und dem Autor zu einer schönen narrativen Pointe – gerät derweil die Geschichte jener Werkbank, die den Protagonisten von seinen ersten technischen Entwicklungen in Leipzig am Ende seiner Studententage bis ins hohe Alter begleitet, wo er in seinem Laboratorium in Tel Aviv eine Lehrwerkstatt für jene Personen betreibt, die später die Einflussreichen und Mächtigen der israelischen optischen Industrie werden sollten.
Und noch in einer anderen Hinsicht kann dieses Buch als Lehrstück für die Geschichte der Informationsverarbeitung dienen. Zeichnet es doch in einer höchst begrüßenswerten Weise, mit zum Teil sehr entlegenen und schwer zu beschaffenden geschweige denn zu findenden Quellen die Stationen eines Lebens nach, das in erschreckend systematischer Weise aus den noch bis vor kurzem geschriebenen Lehrbüchern, Darstellungen und Firmengeschichten der Disziplin herausgestrichen worden ist. Die Gründe dafür werden sorgsam analysiert: Sei es, dass ehemals nationalsozialistische Parteigänger wie Heinz Küppenbender als technische Renegaten erneut die Firmengeschichten der Nachkriegszeit, etwa von Zeiss Ikon, beeinflussen können, um sich selbst im besten Licht zu zeigen, Goldberg dagegen aus den Annalen zu tilgen und ihn ins Nichts der Geschichte zu verbannen. Oder sei es, dass berühmte Elektrotechniker wie Vannevar Bush glaubten, die eigentlichen Erfinder der von ihm stolz präsentierten Konzepte stillschweigend übergehen zu können. Goldberg selbst soll seit 1950 einen zerknitterten Artikel aus der Cairo Times mit sich herumgetragen haben, in dem aus zweiter Hand von Bushs Memex und seinem Anspruch berichtet wird, das Zeitalter des electronic information retrieval eingeläutet zu haben.
Detailversessene Studie
Ganz nebenbei gelingt es Michael Buckland in seiner detailversessenen, nichtsdestoweniger grandiosen biografischen Studie über den vergessenen Feinmechaniker, Unternehmer, Erfinder und Projektemacher Emanuel Goldberg noch, den Mythos von Vannevar Bush als visionärem Denker des Computerzeitalters zusammenzufalten. Aber das ist fast nur ein beiläufiges Ergebnis dieses an Verdiensten so reichen Buchs über einen zu Unrecht übersehenen Wegbereiter unserer Ära der elektronischen Datenverarbeitung. – Es soll vorkommen, dass Ingenieure gelegentlich Recht haben mit ihren Vorhersagen. 1946 prognostizierte Emanuel Goldberg in einem Gespräch mit seinem Sohn Herbert, der die Tauglichkeit von herkömmlichen Tonbändern für diesen Zweck vehement bestritt, das Prinzip der Fernsehbildspeicherung auf Magnetbändern, vulgo „MAZ“ oder auch „Video“ genannt. „Warte mal vierzig Jahre. Es werden Bilder auf den Bändern sein.“ Lediglich fünfzehn, nicht vierzig Jahre später stellte die Firma Loewe, mit dessen Gründer Goldberg in der Weimarer Republik gut befreundet war, den ersten Videorekorder vor.