„L’Amour pour principe, l’Ordre pour base et le Progrès pour but.“ – Formel der Positivisten
Ordem e Progresso – wer bei der Nationalflagge Brasiliens etwas genauer hinsieht, kann dieses Motto deutlich lesen. Auf einem Schriftband, das den Nachthimmel über Rio de Janeiro am 15. November 1889 zeigt, dem Tag der Neugründung Brasiliens als Republik. Es waren Anhänger von Auguste Comte, die Kaiser Pedro II. stürzten; in Brasilien sollen sich bis heute die meisten positivistischen Tempel finden.
Der Begründer des Positivismus Auguste Comte hätte sich darüber vermutlich gewundert, sah er doch Europa und hier Paris als den bevorzugten Ort, an dem er seine gesellschaftspolitischen Ziele verwirklichen wollte: den Sitz der okzidentalen Republik, das Zentrum einer neuen Menschheitsreligion.
Positivismus predigen
Diese Idee der Neugründung einer Wissenschaft (Soziologie) als Religion (Positivismus) klingt, solange man den historischen Kontext berücksichtigt, gar nicht so bizarr, wie es zunächst scheinen mag. Das vorrevolutionäre Frankreich war das Land der Säkularisierung, mit der Publikation der großen Encyclopédie gab es eine Vorahnung der Wissensgesellschaft. Nach dem Scheitern der Revolution waren neue Konzepte gefragt, wie man die Massen für die nötigen politischen Veränderungen mobilisieren kann.
Auguste Comte verfolgte zeitlebens ein solches Konzept. Wer Fortschritt will, muss Verstand und Gefühl gleichermaßen ansprechen: Liebe als Grundsatz und Ordnung als Grundlage wurde zur positivistischen Formel. Er war sich sicher: „Vor 1860 noch werde ich in Notre-Dame den Positivismus predigen, die einzige reelle und komplette Religion.“ Vom lateinischen religio, der Rückbindung an die Gemeinschaft her kommend, kann man Religion durchaus auch in einem nicht spirituellen Sinn als Zivilreligion verstehen. Comte, dem die Soziologie, die Wissenschaft vom Gemeinwesen, ihren Namen verdankt, war in einem ganz spezifischen Sinn „religiös“. Einerseits wusste er, wie vor ihm schon ein Robespierre, der im Panthéon eine Anbetung von Vernunft und Natur als Höchstem Wesen zelebrierte, dass man auf Religion nicht verzichten kann, wenn man die Massen ansprechen möchte. Andererseits war er das, was man heute einen politischen Intellektuellen nennen würde, nur gab es damals dieses Wort so noch nicht.
Priester der Menschheit sollten einer Religion ohne Gott dienen.
Am Ende der politischen Neuorganisation würde die Okzidentale Republik stehen, mit 2000 Tempeln und 20.000 Priestern, oder „okzidentalen Philosophen“, denen Comte als eine Art Papst von Paris, als „chef suprème“, vorstünde. Diese Priester der Menschheit würden einer Religion ohne Gott dienen, einem Kollektivismus der rationalen Existenz, der sowohl Bankenwesen wie Wohnbau reformiert. Nach Revolution und Restauration verfolgte Comte diesen dritten Weg, er fühlte sich nach dem Zeitalter der Aufklärer und Revolutionäre in jenem der Macher und Denker angekommen: Politiker aus der Arbeiterschaft sollen als Gouverneure herrschen, und Philosophen-Priester als deren Berater.
Politische Kommunikation
Nun ist dies alles zumindest in groben Zügen längst bekannt und das Interesse für Comte ist wohl auf Einführungskurse in Soziologie beschränkt. Doch der wissenschaftshistorischen Studie, für die Wolf Lepenies vor allem Comtes Korrespondenzen ausgewertet hat, gelingt es, einen bislang eher unbeachteten Aspekt etwas genauer zu beleuchten. Sie zeigt die Ansätze der modernen politischen Kommunikation. Comte hat bereits genaue Vorstellungen entwickelt, wie visuelle Zeichen zur Vermittlung seiner Ideen eingesetzt werden sollten.
Über die bloß textliche Vermittlungsform hinauszugehen war bereits Tradition der französischen Aufklärung, die sich hierin von der deutschen mit ihrem von Kant propagierten Bilderverbot radikal unterschied. Diderot schickte Zeichner in die Werkstätten und beschäftigte Kupferstecher, um das gesammelte Wissen in der Encyclopédie auch mittels hunderter Bilddtafeln zu publizieren. Comte plädierte für seine positivistische Pädagogik die Gleichberechtigung von Singen und Zeichnen mit dem Schreiben. Anschaulichkeit oder „natürliche“ Repräsentation von Dingen würde zu einer nicht bloß abstrakten Bildung an Texten führen.
Merksätze und Erkennungszeichen
In der Folge war Auguste Comte wohl um zwei Dinge besonders besorgt: um die Überlieferung des eigenen Bildes für Portraits, Medaillen und Denkmäler, sowie um die Propaganda für seine außer von einigen Anhängern nicht rezipierte positivistische Idee. Es brauche Merksätze zur Vermittlung von Erkenntnissen und „gut begründete Zeichen ( … ) in einer Zeit, der es an Prinzipien fehlt“. Es war das Zeitalter der Fotografie und der Plakate, einer Revolution der visuellen Kommunikation. Doch Comte fehlte es letztlich an Geld, um ein ästhetisch anspruchsvolles Portrait von sich zu beauftragen und jene Bronzemedaillen anfertigen zu lassen, die unter Positivisten als Erkennungszeichen dienen sollten.
Dass die Macht der Bilder für gesellschaftspolitische Zwecke eingesetzt werden kann, ist keineswegs neu. Die „ikonographischen Strategien“ Comtes innerhalb der positivistischen Bewegung bleiben in der Darstellung Lepenies’ etwas unscharf, da sie sich vor allem auf Eigenaussagen in der Korrespondenz stützen. Hier wäre eine breitere Kontextualisierung dienlich gewesen, die etwa von den Enzyklopädisten und Reformpädagogen bis zu Otto Neurath führt, der mit seinem Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum auf ebenfalls antimetaphysischer Grundlage eine radikale bildpädagogische Soziologie entwickelte. Oder zu aktuellen Diskursen über Wissenschaft und Kunst, vor allem da Lepenies zwar deutlich hervorstreicht, die Aktualität Comtes bestünde darin, die Rationalität der Wissenschaft mit der Spiritualität der Kunst zu verbinden, damit dann seine Reflexion auch schon wieder abbricht.