I
Dass die russische philosophische Kultur im westlichen Europa noch immer als ein marginales, ebenso exotisches wie provinzielles Phänomen wahrgenommen wird, bestätigt sich auf den unterschiedlichsten Rezeptionsebenen. Man sehe sich die Programme philosophischer Kongresse an, die Vorlesungsverzeichnisse philosophischer Fakultäten, die Backlists philosophischer Verlage, die Inhaltsverzeichnisse philosophischer Zeitschriften, die Lemmata und Indices philosophischer Begriffs- oder Autorenlexika – die Philosophie Russlands ist in aller Regel untervertreten, nicht selten bleibt sie, auch in Fachpublikationen, gänzlich ausgeblendet. Kaum ein russischer Denker, kaum eine Leistung russischen Denkens hat Eingang gefunden in die westliche philosophische Tradition, und noch heute kommt hierzulande manch ein Lehrstuhlinhaber in Verlegenheit, wenn er nach Namen und Werken russischer Philosophen gefragt wird.
Dem ist, in umgekehrter Perspektive, beizufügen, dass westliches philosophisches Denken in Russland spätestens seit dem 18. Jahrhundert intensiv und kontrovers aufgenommen, bisweilen auch missverstanden und verfremdet, immer jedoch mit wachem Interesse verfolgt wurde. Nicht selten haben russische Denker dieses Interesse schwer büßen müssen, durch Publikations- und Lehrverbot, durch Kerker- oder Lagerhaft, sogar durch Ausbürgerung. Entsprechende Zensur- und Strafverfahren wurden jeweils damit begründet, dass durch westliche beziehungsweise „westlerische“ Denkeinflüsse die Autorität der Staatsmacht und die Glaubenswelt der russischen Orthodoxie untergraben würden; zur Sowjetzeit galt ein Gleiches für sämtliche Gedankenimporte, die der marxistisch-leninistischen Offizialideologie widersprachen, egal ob es sich dabei um die Phänomenologie, den Freudianismus, die Wiener Schule, den Existentialismus, den Strukturalismus, die praktische Philosophie handelte.
Die Möglichkeiten und der Wille zu wechselseitiger Verständigung zwischen Westeuropa und Russland waren demnach auf philosophischem Terrain höchst unterschiedlich, wenn nicht gegensätzlich. Der Grund für dieses Missverhältnis liegt aber keineswegs nur in den politischen, kirchlichen oder ideologischen Rahmenbedingungen, mehr noch ist er in der tradierten Eigenart der russischen Philosophie zu suchen, und dies in thematischer wie auch in formaler Hinsicht. Denn weder formal noch thematisch kann – und will – russisches philosophisches Denken westlichen Vorstellungen, Erwartungen und Standards genügen. Stets hat sich der „russische Gedanke“ – zutiefst imprägniert von der legendären „russischen Seele“ – an einen Sonderweg gehalten, der weit mehr auf das Russentum denn auf die Schulphilosophie ausgerichtet war. Einzig durch die Sowjetideologie, die den Leninismus mit dem Marxismus zum Marxismus-Leninismus amalgamierte, wurde dieser Sonderweg zeitweilig unterbrochen, bis er nach der Wende von 1989/1991 erneut mit Rückgriff auf den alten wahren russischen Gedanken machtvoll vorangetrieben und allzu oft auch mit alten unwahren Vorurteilen verbrämt wurde.
Am Beginn dieses eigenartigen, im gesamteuropäischen Kontext gar einzigartigen Denkwegs steht ein gewaltiges Defizit: Dem „russischen Gedanken“ fehlt ein Vorlauf von rund tausend Jahren, denn erst im 10./11. Jahrhundert wurde Russland (das damalige Kijewer Reich) langsam christianisiert – ohne Aufarbeitung der altrömisch-hellenistischen Philosophie, aber auch ohne die nachmalige Kenntnisnahme der mittelalterlichen Scholastik, der geistigen Kultur der Renaissance und der Reformation. Selbst die europäische Aufklärung vermochte sich im autokratischen russischen Imperium nur partiell und gegen massiven behördlichen wie auch kirchlichen Widerstand durchzusetzen, bis es mit der deutschen Romantik und der Philosophie des Idealismus erstmals zur Konvergenz des russischen Sonderwegs mit der westeuropäischen Geisteswelt kam, zu einer Konvergenz allerdings, die sehr bald umschlagen sollte in die jahrzehntelange Kontroverse zwischen den Protagonisten des „westlerischen“ und des „slawophilen“ (d.h. russozentrischen) Denkens.
Die Tatsache, dass die russische Philosophie am Ende des 19. Jahrhunderts vorrangig auf Schopenhauer und Nietzsche sowie auf Goethe und Wagner rekurrierte, bevor sie nach der Oktoberrevolution unter Zwang marxistisch begradigt wurde, ist aufschlussreich insofern, als der „russische Gedanke“ schon immer in den Grenzbereichen zwischen Literatur und Kunst besonders produktiv war, derweil ihm das Interesse an Begriffs- und Systembildung wie auch an kritischer Analyse weitgehend fehlte. Man könnte sagen, dass autochthones russisches Denken eher dem intuitiven Akt freien Philosophierens verpflichtet ist als dem rationalen Rigorismus der Schulphilosophie; und außerdem, dass Philosophie in Russland – seit jeher und noch heute – interdisziplinär positioniert und engagiert ist zwischen Kunst, Religion und Politik.
Der Benutzer des Lexikons sollte sich also klar sein darüber, dass die Philosophie Russlands hier als eine auf internen Kriterien und eigenen Wertungen beruhende Selbstpräsentation dargeboten wird.
In solcher Innenansicht gibt sich die russische Philosophie vorab als angewandtes Denken zu erkennen, als ein Denken, das in erster Linie den „Sinn des Lebens“ zu erschließen sucht, das die Gemeinschaft, das Staatswesen, die nationale Geschichte und Bestimmung höher veranschlagt als das Einzelschicksal, Moral und Gerechtigkeit höher als formale Logik oder formales Recht und dessen Interesse stärker auf die diesseitige Welt gerichtet ist denn auf einen wie immer gearteten metaphysischen Jenseitsraum.
Durch diese doch recht eingeschränkte Problemperspektive hat sich die russische Philosophie im Westen vermutlich ebenso stark diskreditiert wie durch ihren fehlenden systemischen Zusammenhalt, doch vereinzelt gab und gibt es auch in Russland selbst autoritative Stimmen, welche die Beschränktheit des „vaterländischen Denkens“ beklagen. So bedauerte etwa Wladimir Solowjow, ein Wortführer der russischen Philosophie im 19. Jahrhundert, dass es in seinem Land nur „ein kleines Regiment von Russen“ gebe, „die sich ein selbständiges Denken gestatten“, und bei Gustav Shpet, der viel später als nichtmarxistischer Philosoph im sowjetischen Gulag endete, liest man von der intellektuellen „Unbedarftheit“, die es „dem russischen Geist verunmöglicht hat, sich die europäische philosophische Reflexion bis zum vollen Bewusstsein anzueignen“: „Kein Wunder also, dass auf solcher Grundlage eine blasse, welke, ephemere Philosophie entstanden ist. Ein Wunder freilich, dass sie trotz allem gleichwohl heranwuchs.“
Die auf ihrem abseitigen Sonderweg gleichwohl herangewachsene philosophische Kultur Russlands weist bei aller „Unbedarftheit“ und „Unselbständigkeit“ zwei Eigenschaften auf, durch die sie sich gegenüber der dominanten westeuropäischen Denktradition als zutiefst originell ausweist.
Einerseits erreicht sie dies in ihrem ständigen, eigentlich widersinnigen Bestreben, dem russischen Menschen – dem „Wir“ als der ersten Person der Mehrzahl! – einen Lebenssinn, mithin so etwas wie eine moralisch fundierte Lebenskunst zu erschließen und gleichzeitig diesen Sinn als verbindlich zu erklären für den Rest der Welt: Ein totalisierender, imperial ausgerichteter Denkansatz, der das Russentum als „Allmenschentum“, die russische Kirche als „Universalkirche“, das russische Reich als ein „Weltreich“ und die Welt insgesamt – Erde wie Kosmos – als „All-Einheit“ konzipiert. Von daher erklärt sich denn auch die Dominanz allumfassender, „allversöhnlicher“ Denkbewegungen, die primär auf „organische“ Evolution und „ganzheitliche“ Synthese angelegt sind. Russische Philosophie ist, so verstanden, „Panphilosophie“, „Symphilosophie“.
Andererseits kann russisches Philosophieren auch deshalb als besonders eigenständig gelten, weil es sich nicht wie üblich in akademischen Abhandlungen und system- oder schulbildenden Werken niederschlägt, sondern in minderen Textsorten wie dem Presseartikel, der Glosse, der Rezension, dem Essay, dem Tagebuch oder aber – und vor allem andern – in literarischen Darbietungsformen wie dem Roman, der Erzählung, dem Drama, dem Aphorismus, dem philosophischen Gedicht. Als die großen, ja die größten „Philosophen“ Russlands haben denn auch Autoren wie Nikolaj Gogol, Fjodor Dostojewskij, Lew Tolstoj, Anton Tschechow u.a.m. zu gelten, wohingegen die russische Universitätsphilosophie tatsächlich als ein „ephemeres“ Phänomen zu betrachten ist.
Auch die westliche Rezeption russischen Denkens – man vergegenwärtige sich Friedrich Nietzsches frühe Dostojewskij-Lektüre – setzt zumeist bei der klassischen Literatur an. Dazu kommt, dass auch die professionellen Philosophen Russlands mehrheitlich als Essayisten oder Belletristen hervorgetreten sind – beispielhaft Aleksandr Radischtschew, Aleksandr Herzen, Aleksej Chomjakow, die Brüder Aksakow und die Brüder Kirejewskij sowie die Modernisten Rosanow, Florenskij, Schestow. In der Sowjetzeit wurde diese Tradition konsequent unterbunden, das freie Philosophieren galt nun als subversive Denkpraxis, wurde aber in dissidenten Kreisen weitergepflegt und erhielt nach 1985 im Klima von Perestrojka und Glasnost neue produktive Impulse, die über Autoren wie Merab Mamardaschwili, Aleksandr Sinowjew, Michail Ryklin, Aleksandr Pjatigorskij u.a. auch im westlichen Ausland wahrgenommen wurden.
II
Erstmals lassen sich nun anhand eines einschlägigen, in der Schweiz erschienenen Personen- und Begriffslexikons die genannten (und dazu viele weitere) Spezifika russischen Denkens verifizieren. Es handelt sich dabei um die französische Fassung einer russischen Vorlage, die im Hinblick auf die Übersetzung – die erste dieser Art in einer westlichen Sprache – verbessert, erweitert und durch aufdatierte Literaturangaben ergänzt wurde. Der Benutzer, die Benutzerin des Lexikons sollte sich also klar sein darüber, dass die Philosophie Russlands und der UdSSR hier als eine auf internen Kriterien und eigenen Wertungen beruhende Selbstpräsentation dargeboten wird. Zu erfahren ist demzufolge, was Philosophie nach russischem Dafürhalten zu leisten hat, was an ihr typisch ist und eben deshalb im Vergleich mit westeuropäischem Denken als etwas Besonderes, Abweichendes zu gelten hat.
Gleich beim ersten Durchblättern des rund 1000-seitigen Referenzwerks fällt dessen thematische, institutionelle und personale Spannweite auf, die weit mehr einbezieht, als es bei vergleichbaren Handbüchern zur Philosophie Westeuropas der Fall ist. Als philosophisch relevant (wenn nicht gar als Teilgebiete oder Anwendungsbereiche philosophischen Denkens insgesamt) werden hier gleichermaßen kirchliche Dogmen und Rituale, politische Programme und Organisationen, wissenschaftliche und soziale Utopien, nationale Mythen und Legenden, religiöse Sekten und esoterische Lehren sowie die freien Künste, vorab die schöne Literatur, angeführt.
Die Personenartikel verzeichnen nebst einer langen Reihe von mehrheitlich vergessenen Schulphilosophen auch zahlreiche Politiker, Bürokraten, Parteiideologen, Journalisten, Belletristen, Kunstschaffende, Historiker, Juristen sowie etliche Heilige der russisch-orthodoxen Kirche und selbst Staatsfunktionäre wie Sergej Uwarow, Konstantin Pobedonoszew oder Nikolaj Bucharin, aber auch die Zarin Katharina II. die Große und den Revolutionsführer Wladimir Lenin. Schwerlich würde man in einem deutschen, französischen oder angelsächsischen Philosophielexikon Einträge finden zu Stichwörtern wie „Bauerngemeinde“, „Gemeinschaftskirche“, „Einwurzelung“, „Volkstum“, „Metaphysik des Herzens“, „Ikone“ oder „Altgläubige“ – in Russland gehören sie zu den zentralen Quellen und Konzepten philosophischer Reflexion.
Exzentrische künstlerische Bewegungen wie der „Futurismus“ (1910er-Jahre) oder der „Konzeptualismus“ (1960er- / 1970er-Jahre) haben an der philosophischen Kultur ebensolchen Anteil wie das Meditationskloster Optina Pustyn unweit von Kaluga, die „Theosophie“ der Helene Blavatsky, der Esoterismus von Georgij Gurdshijew (gen. Georges Gurdjieff) und Daniil Andrejew. Selbst der Utopismus des philosophierenden Bibliothekars Nikolaj Fjodorow oder des philosophierenden Raketeningenieurs Konstantin Ziolkowskij sowie der „Passionarismus“ des Ethnophilosophen Lew Gumiljow gehören integral dazu.
Kaum erstaunlich denn also, dass zu den russischen Meisterdenkern auch der Komponist Aleksandr Skrjabin (gen. Alexandre Scriabine), die Maler Kasimir Malewitsch oder Wassilij Kandinskij, die Literatur- und Sprachtheoretiker Michail Bachtin, Olga Frejdenberg, Roman Jakobson, Jurij Lotman u.a.m. gezählt werden. Dazu kommen in bemerkenswerter Anzahl politische Aktivisten und Pamphletisten aus dem Umfeld des regimefeindlichen Dezemberaufstands von 1825, der anarchistischen und terroristischen Szene der 1860er- / 1880er-Jahre sowie der bolschewistischen Revolution.
Schwerlich würde man in einem deutschen oder französischen Philosophielexikon Einträge finden zu Stichwörtern wie „Bauerngemeinde“, „Einwurzelung“ oder „Altgläubige“.
Die wegweisende und wortführende Avantgarde des russischen Denkens rekrutiert sich allerdings, wie bereits angedeutet, aus Protagonisten der russischen Literatur, und man darf das schwärmerische – wiederum typisch russische! – Diktum Aleksej Lossews durchaus ernst nehmen, wonach die künstlerische Literatur Russlands zugleich als Höchstleistung russischen Philosophierens zu gelten habe. „Die russische Belletristik“, so schreibt Lossew in einem programmatischen Aufsatz von 1918, „ – das ist echte russische Philosophie, ist eigenständige glanzvolle Philosophie in farbiger Sprache, leuchtend als gedanklicher Regenbogen, eingekleidet in das Fleisch und Blut der lebendigen Bilder literarischen Schöpfertums.“ Man mag derartiges Pathos, wo von Philosophie die Rede ist, deplatziert, sogar peinlich finden. Tatsache ist jedoch, dass sich das russische philosophische Selbstverständnis bis heute in aller Regel auf eben solche Weise artikuliert, und man wird nicht umhin können, dies als Faktum zu akzeptieren.
Folglich wird man beim historisch-kritischen Studium der Philosophie Russlands immer auch die russische Dichtung, dazu die Bildkunst, die Musik zu berücksichtigen haben. Und noch etwas darf nicht vergessen werden: Bei aller Eigenständigkeit und angeblichen „Unbedarftheit“ ist die russische Philosophie zutiefst von westlichen Einflüssen und Anstößen geprägt, und sei es dadurch, dass solche Anstöße und Einflüsse abgewehrt werden. Auch die Philosophie ist ein Teilbereich der russischen Nachahmungskultur, und wie manch andere Anleihen aus dem Westen wurde sie bisweilen in stark verfremdeter, verkürzter, wenn nicht verzerrter Weise rezipiert. Das gilt für Systembildner wie Hegel und Marx in höherem Ausmaß als für intuitive, oftmals provokante und sich selbst widersprechende Denker wie Schopenhauer, Stirner oder Nietzsche.
Von daher erweisen sich die in das vorliegende Lexikon aufgenommenen Artikel zur Eingemeindung westlicher Philosophie in Russland als besonders aufschlussreich. Nennenswert sind die Beiträge über die russischen Lesarten von Feuerbach, Fichte, Husserl, Kant, Pascal oder Schelling. Dass in dieser Reihe weder Spinoza noch Descartes, weder Leibniz noch Montesquieu, weder Comte noch William James, weder Wittgenstein noch Sartre einen Platz finden, ist nicht ein Mangel des Lexikons, sondern ein impliziter Hinweis – ex negativo – darauf, mit welchen Denkformen und Denkinhalten russische Philosophen sich offenkundig schwer taten. Das bedeutet freilich nicht, dass die genannten Autoren in Russland gänzlich unbeachtet geblieben sind; es bedeutet nur, dass sie keine breitere Resonanz, mithin keinen Eingang in die inneren Bezirke russischen Denkens gefunden und also auch keinen merklichen Einfluss auf dessen Fortentwicklung gewonnen haben.
Man mag sich beispielshalber fragen, was aus der vielbeschworenen „russischen Seele“ geworden (oder von ihr geblieben) wäre, wenn Montesquieus Geist der Gesetze oder die Lehren eines John Stuart Mill in Russland mehr Aufmerksamkeit gefunden hätten: Ob die „Sklavenseele“ des gigantischen Vielvölkerstaats die Leibeigenschaft, den zarischen Absolutismus, später auch den sowjetischen Totalitarismus so lange und so widerstandslos auf sich genommen hätte? – Dass Sören Kierkegaard, Henri Bergson und Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland eine kurze, aber intensive Rezeption erfuhren (bevor sie für Jahrzehnte aus der sowjetischen philosophischen Diskussion ausgeschlossen wurden), hätte in dem sonst verlässlichen und ausgewogenen Handbuch nicht unterschlagen werden dürfen.
Das Lexikon der russischen Philosophie wartet jedoch, auch wenn gewisse Leerstellen und faktische Irrtümer zu bemängeln sind, mit einer bemerkenswerten Fülle von Informationen auf, die selbst für Kenner der Materie eine Bereicherung und für ein breiteres Publikum jedenfalls von hohem Interesse sind. Der umfangreiche Band lässt sich doppelt nutzen: Die chronologische Lektüre der naturgemäß alphabetisch angeordneten Artikel kann als Durchgang durch die russische Philosophieentwicklung absolviert werden, derweil punktuelle Einlassungen auf problemzentrierte Einträge – etwa „Anthropotheismus“, „Empiriokritizismus“, „Empiriomonismus“, „Gottsuchertum“, „Hesychasmus“, „Idealrealismus“, „Konservatismus“, „Nihilismus“, „Populismus“, „Tektologie“, das „Unfassbare“ oder „Kampf um das Unmögliche“ – eine verlässliche Kartographie „typisch russischer“ Fragestellungen ergeben können. Dazu gehören auch spezifische Grundkonzepte wie „Scham“, „Integrität“, „Frömmigkeit“, „Mitleid“, die in der russisch-nationalen Mentalität tief verinnerlicht sind, während andererseits – man ist erstaunt – die Begriffe „Vernunft“, „Bewusstsein“ (oder „Selbstbewusstsein“), „Gedächtnis“, „Schönheit“, „Individualität“ u.v.a.m. ausgespart bleiben.
Nicht zuletzt verweist das Lexikon in diversen Artikeln auf die Offenheit des „russischen Gedankens“ für östliche Weisheitslehren, die namentlich im Tolstojanertum ihren Niederschlag gefunden und im „Panmongolismus“, im „Skythismus“, „Iranismus“ und „Eurasianismus“ auch politische Relevanz erlangt haben. Unter den Sachartikeln des Lexikon finden sich im Übrigen auch solche zu einzelnen maßgeblichen Werken russischer Philosophie und Literatur, zu philosophischen Schulen, Gruppierungen, Akademien und Publikationsorganen.
Mehrheitlich jedoch handelt es sich bei den Einträgen um biobibliographische Mikroessays zu einzelnen philosophischen (oder auch bloß philosophierenden) Autoren, von denen viele – wohl die meisten – hierzulande kaum dem Namen nach bekannt sind. Neben Wladimir Solowjow, der in deutscher Sprache bereits mit zwei Werkausgaben präsent ist, haben außerhalb Russlands wohl nur ein paar wenige Vertreter des philosophischen „Modernismus“ eine gewisse Geltung erreicht, ohne jedoch in irgendeiner Weise auf die westeuropäische Philosophie eingewirkt zu haben. Selbst vielübersetzte und vielgelesene Autoren wie Nikolaj Berdjajew, Dmitrij Mereshkowskij oder Pawel Florenskij sind ohne erkennbaren Einfluss geblieben. Einzig Lew Schestow, der den Großteil seines Lebens im französischen Exil verbracht und dort auch viele seiner Werke veröffentlicht hat, ist ins westeuropäische philosophische Bewusstsein eingegangen, dies vorab als Denkpartner und Anreger von Albert Camus, der ihm für seine Philosophie des Absurden etliche entscheidende Impulse verdankt.
Eben dieses Verfahren der Aneignung und Eingemeindung ist in der russischen Kultur rekurrent und gilt keineswegs als imitativ oder plagiatorisch.
Zumindest zwei namhafte Denker seien abschließend kurz erwähnt, um noch einmal die Charakteristika russischen Philosophierens exemplarisch zu vergegenwärtigen. Als Schriftsteller braucht Lew Tolstoj (1828–1910) nicht eigens vorgestellt zu werden, doch ist darauf hinzuweisen, dass von seinem 100-bändigen Gesamtwerk nur ein geringer Teil der Literatur zuzurechnen ist. Weit mehr Raum nehmen seine populärphilosophischen Schriften ein, die er hunderttausendfach in Form von Broschüren, Zeitungsartikeln, offenen Briefen, Flugblättern und dergleichen verbreitet und mit denen er eine international wirksame Lehre, das nach ihm benannte „Tolstojanertum“, begründet hat. Es handelt sich dabei um eine außeruniversitäre, dezidiert antiakademische „Philosophie“ mit starkem moralischem Impetus und sozialem Engagement, abhebend auf das Wechselverhältnis zwischen Mensch und Gott, Böse und Gut, Schönheit und Wahrheit, Individualität und Gemeinschaftlichkeit, Natur und Kultur, Schicksal und Geschichte. Vieles von dem, was Tolstoj dazu notiert und publiziert hat, ist didaktisch oder polemisch angelegt, bisweilen auch bekenntnishaft und erbarmungslos selbstkritisch zugespitzt. Das gilt selbst für seine größeren Abhandlungen, die er unter anderem der Pädagogik, der Bauernfrage, der kirchlichen Dogmatik und der künstlerischen Ästhetik gewidmet hat.
Durchwegs dominieren bei Tolstoj widersprüchliche Behauptungen zum Schaden argumentativer Stringenz, und allzu oft kann man erkennen, dass er aus rein rhetorischen Gründen sich zu Aussagen hinreißen lässt, mit denen er (wie etwa mit seiner Fundamentalkritik an Shakespeare, Goethe, Richard Wagner) das Publikum bewusst frappiert und sich selbst – zumindest im Hinblick auf sein eigenes künstlerisches Werk – offenkundig Lügen straft. Doch was sich in westlicher Lesart als „Philosophie“ gar nicht erst qualifizieren, geschweige denn sich durchsetzen kann, ist in Russland allemal geeignet, als „Lehre“ ernst genommen und befolgt zu werden. So gelten denn auch Lew Tolstojs Romane als Lehrstücke russischer Philosophie – Krieg und Frieden wird als narrative Geschichtsphilosophie gelesen, Auferstehung als moralphilosophischer Traktat in Form einer Großerzählung verstanden.
Zwar sind bei Tolstoj kaum originale philosophische Gedanken auszumachen, dafür umso mehr Ideen (vorzugsweise Aphorismen) aller Art, die er aus Fremdtexten abgeschrieben hat, um sie in eigenmächtiger Neumontage als Originalwerk zu präsentieren. Eben dieses Verfahren der Aneignung und Eingemeindung ist in der russischen Kultur rekurrent und gilt keineswegs als imitativ oder plagiatorisch. Vielmehr könnte man sagen, es sei die „typisch russische“ Spielart von Originalität. Das dürfte nachmals auch der Grund dafür gewesen sein, dass der westliche Postmodernismus mit seiner Vorliebe für Simulation, Hybridisierung und beliebige Synkretismen in Russland so rasch, so kritiklos, so weitläufig übernommen und als Epochenstil etabliert wurde.
Als zweites, nun auch als letztes Beispiel für einen „typisch-russischen“ Philosophen bleibt hier Wassilij Rosanow (1856–1919) zu erwähnen, ein Autor, der sich nach der Veröffentlichung seines philosophischen Erstlings, einer 500-seitigen Abhandlung Über das Verstehen (1886), dem Journalismus und der Literatur zuwandte, um in der Folge unter mehr als zwanzig Pseudonymen ein äußerst disparates, in sich widersprüchliches Werk herauszubringen, dessen aktuelle Edition auf 25 bis 30 umfangreiche Bände angelegt ist.
Wohl gravitiert Rosanows riskantes, sprunghaftes, poetisches, paradoxales und doch ungemein prägnantes Denken um ein paar wenige Kernthemen (die Familienfrage, die Frauen- und Geschlechtsfrage, die Judenfrage, die Metaphysik des Christentums), aber auf vielen tausend Druckseiten hat er sich – mit Vorliebe in der konservativen Großstadtpresse, in Kulturmagazinen, Sammelwerken und ausgedehnten Privatkorrespondenzen – auch zu Literatur, Kunst, Theater, Pädagogik, Gerichtsbarkeit, Prostitution, Homosexualität, Numismatik, Sprachpflege, Wissenschaftstheorie, Ökonomie, Revolution, Krieg sowie zu allen Facetten russischer Tagespolitik und, besonders ausführlich, zu seiner eigenen Person vernehmen lassen.
Rosanow lässt in seinen Schriften jegliche Systematik, jegliche Kohärenz und Disziplin vermissen. Mit graphomanischem Furor schreibt er unentwegt vor sich hin, so wie andere allenfalls privatissime vor sich hin sprechen, hält mit staunenswerter Leichtigkeit und Authentizität fest, was ihm vor Augen oder in den Sinn kommt, und er kommentiert’s nach seiner jeweiligen Stimmungslage – mal so, mal anders: „Ich wechsle meine Überzeugungen wie Handschuhe.“ Die Graphomanie ist bei Rosanow ein unabdingbarer Motor des Denkens, für ihn ist die Textquantität Voraussetzung dafür, dass Qualität überhaupt entstehen kann. Nur im rhetorischen Überschwang können immer wieder genialische Einfälle, Spekulationen, Konjekturen aufblitzen, die durch rigide Denk- und Schreibarbeit nicht zu gewinnen wären.
Der Rosanowsche Impressionismus und Intuitivismus schlägt sich demzufolge nicht in einem schulphilosophischen Diskurs nieder, viel eher sind seine Texte der Belletristik, allenfalls der Aphoristik zuzuordnen – in Russland gelten sie inzwischen als Meisterstücke der literarischen Moderne, derweil dem eigensinnigen Autor fraglos der Status eines philosophischen Klassikers zugestanden wird, eine Position, die ihm in westlichem Umfeld ebenso fraglos versagt bliebe und, wie zu befürchten ist, versagt bleiben wird. Denn die Westphilosophie ist bekanntlich nach wie vor auf Kriterien wie Kohärenz und Systematik, argumentative Folgerichtigkeit, methodologische und begriffliche Klarheit und nicht zuletzt auf politische Korrektheit festgelegt. Noch heute wäre es wohl undenkbar, dass im Westen Europas oder im Osten der USA ein Autor als Philosoph, vielleicht sogar als philosophischer Wortführer akzeptiert würde, der gleichzeitig für Revolution und Reaktion, gleichzeitig als Antisemit und Philosemit und auch gleichzeitig als orthodoxer Christ und christlicher Häretiker aufträte. In Russland wiederum wird Wassilij Rosanow als „der russischste aller russischen Philosophen“ weithin belobigt: Sein Beispiel macht deutlich, wie sehr sich West und Ost auf der philosophischen Szene fremd geblieben sind. Umso mehr drängt sich der Wunsch auf, auch in deutscher Sprache endlich ein Nachschlagewerk wie den vorliegenden Dictionnaire zur Hand zu haben, der die Fremdheit zwar nicht aufzuheben, aber doch wenigstens bewusst zu machen vermag.