Geld mag die Welt regieren, im europäischen Mittelalter sah man das aber anders. Zumindest ist dies die Meinung von Jacques Le Goff, Doyen der französischen Mediävistik. Nach Untersuchungen zu Wirtschaft und Mentalität vor 1500 (Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter, Klett-Cotta 2008, Kaufleute und Bankiers im Mittelalter, Wagenbach 2009) spürt er nun in seinem jüngsten Werk Geld im Mittelalter dem nervus rerum selbst nach. In guter Tradition benennt er sein Buch einen „Essay“ und fasst darin den Stand der Dinge aus seiner Sicht zusammen.
Tatsächlich präsentiert er ein breites Spektrum der Forschungslage zur mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte, die selbstverständlich für die Untersuchung des weit enger gefassten Gegenstandes „Geld“ unerlässlich ist, jedoch nicht ohne darauf hinzuweisen, dass im Mittelalter von Ökonomie zu sprechen höchst anachronistisch ist. Während Le Goff sich für diese Darstellung hauptsächlich älterer Literatur, darunter auch viel eigener, bedient, überrascht er doch auch mit der Einbeziehung einiger sehr neuer Publikationen. So zitiert er aus Werken der Jahre 2004 und 2006, sogar 2009 (im Original erschien Geld im Mittelalter 2010 in Paris) genauso wie aus Studien aus den 1950er- bis 1990er-Jahren.
Im Mittelalter von Ökonomie zu sprechen ist höchst anachronistisch.
Zwei Hauptsätze arbeitet Le Goff heraus, denen er geschickt die gesamte Untersuchung unterordnet: Der Begriff „Geld“ bedeutet im Mittelalter ganz etwas anderes als in unserem Verständnis (das sieht er erst ab dem späten 18. Jahrhundert, also mit der Französischen Revolution, heranreifen), und das gesamte Mittelalter, ja selbst das Spätmittelalter und noch die Frühe Neuzeit bis etwa 1680 kann nach seinem Dafürhalten keinesfalls als Vorläufer einer kapitalistisch geprägten Ordnung herangezogen werden.
Geld war schlicht und einfach gemünztes Metall, auch wenn Le Goff einräumt, dass wir aus den Quellen wie Abgabenlisten oder Steuergesetzen (unter welchen Namen auch immer), so wir überhaupt welche besitzen, nicht einmal schließen können, ob es sich um Bares oder bloß Buchgeld handelt.
Kapitalismus unmöglich?
Um von Kapitalismus (oder auch Frühkapitalismus) sprechen zu können, setzt er als Bedingung Börsen oder zumindest einen funktionierenden Markt, am besten schon einen solchen für Grund und Boden voraus, den er eben vor dem späten 17. Jahrhundert nirgends vorfindet. Ob man es sich wirklich so einfach machen darf, um die in diesem Aufsatz unausgesprochene These vom langen Mittelalter weiter zu befestigen, wäre freilich Gegenstand der Forschung und nicht der Essayistik.
Dennoch, mit großer Geste und in allgemein verständlichem Stil erklärt Le Goff die unterschiedlichen Funktionen des Münzgeldes – die Tatsache, die noch Tim Parks in Das Geld der Medici (Kunstmann 2007 / Atlas Books 2005) verblüfft zu haben scheint, dass selbst innerhalb eines Herrschaftsgebietes unterschiedliche Währungssysteme für Geld im täglichen Gebrauch der meisten Menschen und andererseits G(oldg)eld für Patrizier, Fürsten und Großbanken existiert haben, setzt Le Goff als selbstverständlich bekannt voraus.
Die Leute werden wohl noch ein paar römische Kupfermünzen zu Hause gehabt haben, um Dinge des täglichen Bedarfs zu besorgen.
Dem im christlichen europäischen Mittelalter geprägten Verhältnis von Juden und Geld widmet er zwar kein eigenes Kapitel, vergisst es aber durchaus nicht, und räumt ihm einigen Platz ein. Fast schon elegant in ihrer treuherzigen Aufrichtigkeit wirkt die Ausblendung des Übergangs von der Spätantike zum Frühmittelalter – da haben wir gleichsam gar keine Quellen, die Leute werden wohl noch ein paar römische Kupfermünzen zu Hause gehabt haben, um in den benachbarten Zentralorten Dinge des täglichen Bedarfs, die nicht am Dorfe hergestellt werden und nicht im Tausch erworben werden konnten, zu besorgen – wenden wir uns doch lieber dem 11. und noch besser dem 12. Jahrhundert zu. Da beginnt eine gewisse Staatlichkeit, da kann man schon auf königliche Erlasse und päpstliche Bullen zugreifen.
Jacques Le Goffs Geld im Mittelalter stellt eine recht ausführliche, dennoch weithin launige und gut lesbare Zusammenfassung von Untersuchungen zum Umgang mit und zum Denken über (Münz)geld und Schulden durch Kaufleute, Machthaber (Päpste, Fürsten und Stadtherren) und Kleriker (Kirchenlehrer, Mönche aber auch Gelehrte an Universitäten) mit dem Schwerpunkt 12. bis 15. Jahrhundert dar. Selbst zeitgenössische Erwägungen zum für die Mentalitätsgeschichte nicht unwichtigen Begriffspaar „arm und reich“ in vielen seiner Facetten und in seinem Wandel werden vorgestellt. Fachleuten werden zwar keine neuen Erkenntnisse geliefert, für Interessierte wie etwa auch Studienanfänger ist das Büchlein aber gewiss ein freundlicher Einstieg in eine doch recht verwickelte Materie.