I
Gesetzt den Fall: Ein Zeitgenosse wie du und ich bewegt sich surfend durchs Internet, um Bilder öffentlicher und privater Webcams von Baustellen, Schalterräumen, Kinderzimmern, Tiefgaragen, Operationssälen oder Hotelhallen zu sichten und daraus beliebige Stills festzuhalten, die dann – unbearbeitet – einzeln ausgedruckt und als Exponate in einer Fotoausstellung gezeigt werden.
Wäre dieser Zeitgenosse ein Künstler? Könnte er zumindest als Urheber gelten? Und dürfte er als „Autor“ Anspruch erheben auf „Originalität“ oder „Werkherrschaft“, mithin auf die rechtliche Wahrung seines „geistigen Eigentums“?
Nachdem die namhafte Fotostiftung Schweiz diese Fragen unlängst positiv beantwortet und durch eine groß angelegte Ausstellung veranschaulicht hat, ist zu überlegen, worin in dem gesetzten Fall die Leistung des Autors besteht und wodurch sie als unverwechselbar, in ihrer Einzigartigkeit schützenswert gelten kann. Denn Autorschaft lässt sich hier offenkundig nicht mehr an der Materialität des Werks festmachen, nicht an seinem Status als Fotobild, nicht an seiner wie immer gearteten Thematik, nicht einmal an dem jeweils gewählten Bildausschnitt, da dieser ja ebenfalls unverändert übernommen wird – übernommen aus den automatisch generierten Aufzeichnungen Hunderter von Kameras mit fixem Standort.
Bleibt folglich als Eigenleistung des Künstlers bloß die Auswahl eines bestimmten Standbilds aus dem jeweiligen Film und dessen Versetzung in einen neuen Bildzusammenhang (Ausstellung) wie auch in einen völlig anderen Realitäts- und Rezeptionskontext (Galerie). Kunst ist nicht mehr das Ergebnis von Können, sondern von Wollen, sie bleibt reduziert auf eine Idee (Webcamfilme als Arbeitsmaterial) und eine Geste (Filmstops mit Extraktion von Einzelbildern). Als einzige Vorgabe und als einziges Thema solcher Kunst figuriert die faktisch fassbare Wirklichkeit, soweit sie sich in einer zweidimensionalen, optisch voreingestellten Momentaufnahme festhalten lässt.
Klarerweise ist Wirklichkeit auch dort, wo sie 1 : 1 wiedergegeben wird, nicht selbstidentisch – jede noch so genaue Kopie, jedes Faksimile, jede künstlerische Widerspiegelung verzeichnet in Bezug auf die jeweilige Vorgabe irgendwelche Abweichungen, die einerseits zu Authentizitätsverlusten führen, andererseits einen Gewinn an Autonomie erbringen können. Doch in dem Maß, wie das Dokumentarische an Autonomie gewinnt, vermindert sich gegenläufig die Autorität des Künstlers. Wer vorgefundene Materialien unbearbeitet und unkoordiniert in einen neuen Kontext versetzt, zeigt wohl ein geringeres künstlerisches Engagement als ein Bildhauer oder ein Lyrikautor, produziert aber doch auch als „Dokumentalist“ lauter Fiktionen, die sich nur graduell von „originalen“ Kunstwerken unterscheiden.
Ob Pressefoto oder Ölporträt, ob Tagebuch oder Roman – Realpräsenz kann weder dokumentarisch noch künstlerisch hergestellt, kann lediglich dargestellt, also re-präsentiert werden, und Re-Präsentation, auch wo sie noch so realistisch praktiziert wird, ist stets ein Täuschungsgeschäft, das den Schein braucht, um konkret Vorhandenes oder real Geschehenes zu vergegenwärtigen.
Eine neue Einsicht ist das mitnichten, es ist aber ein neues weitreichendes Interesse, das durch die Nutzungsmöglichkeiten des WWW sowie diverser Techniken digitaler Speicherung, Vervielfältigung, Simulation u.ä.m. wach gehalten und nun laufend ausdifferenziert wird. Im außerkünstlerischen Bereich bietet das sogenannte Selftracking ein aktuelles Beispiel dafür – permanente elektronische Selbstüberwachung und Datenerfassung von organischen Regungen, sozialen Beziehungen, körperlichen Leistungen, räumlichen Veränderungen u.a.m. mit dem Ziel, das eigene „Leben“ (Alltag, Befindlichkeiten, Gewohnheiten, Störungen usf.) möglichst vollständig und möglichst synchron mit den tatsächlichen Abläufen „festzuhalten“.
In seinem Roman 8½ Millionen führt Tom McCarthy einen namenlosen Icherzähler vor, der sich einem ähnlichen Unterfangen widmet, dabei aber nicht die reale Gegenwart dokumentiert, sondern einen plötzlich aufkommenden Erinnerungszusammenhang präsent zu machen versucht, indem er ihn mit allen verfügbaren technischen Mitteln vollumfänglich – materiell, audiovisuell, atmosphärisch, synästhetisch – in der Realität beziehungsweise als Realität noch einmal entstehen lässt. Und damit wiederum ließe sich der „Fall Hatto“ vergleichen, der vor einiger Zeit Furore machte, als der britische Tontechniker William Barrington-Coupe eingestehen musste, durch Zusammenschnitte bestehender Klaviereinspielungen unterschiedlicher Interpreten ein fiktives „Werk“ auf CDs und, darüber hinaus, in der Person seiner Frau, Joyce Hatto, eine fiktionalisierte „Künstlerin“ mit angeblich eigenem Personalstil geschaffen zu haben – eine Fiktion, die nicht bloß das breite Publikum, sondern auch die professionelle Musikkritik während langer Zeit für authentisch gehalten hatte.
Als authentisch hat auch der ehemalige bundesdeutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg seine größtenteils plagiierte Dissertation glaubhaft zu machen versucht, bis ihm von der zuständigen Universitätsbehörde der durch massive Fälschung erworbene akademische Titel entzogen wurde – eine verspätete Retorsionsmaßnahme, die dem inkriminierten Autor vermutlich erspart geblieben wäre, wenn es sich bei seinem Kompilat nicht um eine Doktorarbeit, sondern um einen Roman gehandelt hätte wie in dem etwas weiter zurückliegenden Plagiatsfall der Helene Hegemann, die mit ihrem fulminanten, über weite Strecken gefakten Prosadebüt Axolotl Roadkill gleichermaßen Sensation und Skandal machte. Dass sie dafür nicht nachhaltig abgestraft wurde, hatte sie durch das indirekte (von einer der Erzählfiguren vorgetragene) Eingeständnis einigermaßen glimpflich verhindern können: „Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde.“
Seit dem Ersteinsatz von Readymades vor knapp 100 Jahren hat sich der Kunstbegriff bis zur Beliebigkeit relativiert.
Im elitären (genauer: in dem als elitär geltenden) Kunstbereich gehört der Filmautor Jean-Luc Godard zu denen, die sich nach eigenem Bekunden geradezu programmatisch „überall bedienen“, wo sie brauchbares Fremdmaterial – Bild-, Text-, Musikzitate – vorfinden, um daraus nicht nur ein eigenes Werk, sondern auch eine eigene Wahrheit zu montieren: Das „Eigene“ ist hier allerdings in Anführungsstriche zu setzen, es steht bloß für die Eigenart, mit der die übernommenen Versatzstücke kunstvoll und unverhüllt zu einem Kompilat vereinigt werden.
Für Godard ist die Geschichte insgesamt (als Historiografie) und sind Geschichten im Besonderen (als narrative Fiktionen) nichts anderes als kontextualisierte Zitate. Weder Geschichte noch Geschichten haben einen Autor, ihre Authentizität besteht darin, dass sie als Fiktionen Realitätsstatus gewinnen. Alles je Geschriebene ist Geschichte, kompiliert aus Geschichten, die ihrerseits aus Fremdzitaten generiert werden. „Wenn Sie so wollen“, sagt Godard in einem Gespräch mit Youssef Ishaghpour, „ist Geschichte für mich das Werk aller Werke … Sagen wir, die Geschichte ist die Gesamtheit von allem. Das Kunstwerk, wenn es gut gemacht ist, entspringt der Geschichte, und wenn es will, so ist es ihr künstlerisches Bild.“
Ein solches künstlerisches Bild, ein „lebendiges“, ist der Film, der den Geschichtsverlauf – „die Zeit der Geschichte“ – vor Augen führt und ihr somit ihre „Existenz“ verleiht, derweil er die „Essenz“ dazu aus der Gesamtheit der Texte bezieht, aus dem Buch der Bücher. „Und im Buch, das sich wie eine Kopie ausnimmt, wie eine verkleinerte Kopie, ist tatsächlich das Gedächtnis der Geschichte enthalten, eben weil sie entsprechend der Tradition des Buchs geschrieben und gedruckt worden ist.“ Aus diesem Buch, das heißt: aus allen gerade erreichbaren Büchern (von Balzac, Dostojewskij, Sartre, Blanchot, Foucault …) bezieht Godard in seinen jüngsten Filmwerken – zuletzt in Film Socialisme – den Großteil seiner Dialoge und Off-Kommentare, die er im Übrigen umstandslos mit spontaner Alltagsrede amalgamiert, und aus dem Fundus des imaginären Museums wie auch der klassischen Musik holt er sich die audiovisuellen Versatzstücke, aus denen dann die Bildsequenzen und Tonspuren zusammengeschnitten werden – so zusammengeschnitten, dass die Arbeit des Monteurs und die Eigendynamik der Montage kaum noch auseinander zu halten sind: Fremdzitate und Selbstaussagen werden gleichwertig zu diskontinuierlichen Bild-Text-Sequenzen verknüpft.
Bei Jean-Luc Godard wird diese Art von Hybridisierung besonders augenfällig, da in seinen Filmproduktionen die Fiktionalisierung von dokumentarischem Material einhergeht mit der dokumentarischen Aufarbeitung fiktionaler Entwürfe, und beides führt auf Seiten des Publikums (das dem Großmeister bekanntlich weitgehend abhanden gekommen ist) in die tiefsten Tabubereiche. Denn noch immer mag man in Sachen Kunst (wie übrigens auch im Unterhaltungssektor) auf zweierlei Dinge nicht verzichten: auf namhafte Autorschaft und auf nachvollziehbare Repräsentation. Anonymität wirkt hier ebenso irritierend wie der Verzicht auf Darstellung und der Entzug von Bedeutung.
Unvorstellbar, dass ein Readymade oder ein faktografischer Text ohne Autor, ohne Signatur, ohne kunstbetrieblichen Kontext als „Originalwerk“ anerkannt würde, klar also auch, dass Jean-Luc Godards Filmgeschichte(n), die mit ständig wechselnder Optik disparates, mehrheitlich vorgefundenes, eben dokumentarisches Bildmaterial nach rein formalen Gesichtspunkten montieren, weder den Erwartungen des mehrheitlichen Kinopublikums entsprechen können, noch den üblichen Maßstäben der Filmkritik. Wo in künstlerischen Dingen das Material und dessen Aufbereitung Vorrang haben vor Darstellung und Aussage, wird die Rezeption weithin als schwierig empfunden, das jeweilige Werk als elitär oder hermetisch eingestuft und allein deshalb ohne weitere Argumente abgelehnt.
Dieses bemerkenswerte Phänomen – kurz gesagt: die Privilegierung des Scheins vor dem Sein – evoziert eine Grundfrage nicht nur der Rezeption, sondern auch der Produktion von „Kunst“ jeglicher Gattung. Das allgemeine Bedürfnis nach künstlerischer „Scheinhaftigkeit“, mithin die Bevorzugung fiktiver Repräsentation gegenüber realer Präsentation, zeigt sich im minderen Rating Godards gegenüber einem Spielberg oder den Brüdern Coen ebenso wie im deutlich überwiegenden Publikumsinteresse, das die konventionell „darstellenden“ Künste, verglichen etwa mit der monochromen Malerei oder der minimalistischen Plastik, nach wie vor für sich beanspruchen können.
Man mag sich darüber wundern, da doch jegliche – selbst die konventionellste – Art von Darstellung auf vielfache, oft hochkomplexe Transformationsverfahren angewiesen ist. Entsprechend komplex sind demzufolge die erforderlichen Verstehens- beziehungsweise Deutungsleistungen, komplexer jedenfalls als bei „konkreter“, auf Repräsentation verzichtender Kunst oder Literatur, die vorab auf sinnliche Wahrnehmung angelegt ist, und nicht auf das Verstehen von irgendwelchen Bedeutungsangeboten.
Nun kommt aber bekanntlich unter dem zunehmenden Einfluss der neuen Medien die Demarkationslinie zwischen Sein und Schein so stark ins Fluktuieren, dass Realität und Fiktion, Original und Kopie (oder Fälschung) oftmals nicht mehr klar voneinander zu trennen sind, im Extremfall sogar ineinander verschwimmen. Dem liegt ein weit verbreitetes, dabei höchst ambivalentes Bedürfnis zu Grunde – das Bedürfnis nach unmittelbarem Erleben und Miterleben, nach Realitätsnähe, Authentizität und Intensität. Doch dieses Bedürfnis wird gleichzeitig konterkariert durch den ebenso starken Hang zu Fiktionen aller Art, der schließlich auch die reale Welt erfasst und diese gleichsam als Kopie ihrer selbst – als Simulation – in Erscheinung treten lässt.
Von Vladimir Nabokov stammt das Diktum, wonach das Wort „Wirklichkeit“ nur in Anführungszeichen seine Richtigkeit habe.
Damit geht die einst von Godard geforderte „Gleichheit und Brüderlichkeit zwischen dem Realen und der Fiktion“ zu Gunsten letzterer verloren, was wiederum zur Folge hat, dass reale Ereignisse in medialer Aufbereitung wie oder als fiktive Episoden rezipiert werden – und auch umgekehrt: Dass realistisch aufbereitete Fiktionen (Reality-TV, Fernsehgericht, Big Brother usf.) Wirklichkeitscharakter gewinnen. Solches gilt auch für die bildenden Künste, die bewusst und gezielt von dieser Prämisse her agieren, indem sie beliebige Versatzstücke aus der Alltagswelt – Möbel, Autowracks, Familienfotos, Küchengeräte, Aquarien, Kinderspielzeug, TV-Geräte – in ein museales Environment einbringen und ihnen auf diese Weise (ohne im Übrigen irgendwelche Anpassungen oder Abänderungen daran vorzunehmen) einen fiktionalen Status verleihen.
„Verleihen“ ist dafür der passende Ausdruck, denn sobald derartige Objekte aus dem Kunstraum entfernt werden, verlieren sie ihren Werkstatus und können sich auf der Müllkippe als gewöhnliche und somit „echte“ Gebrauchsgegenstände wiederfinden. Seit dem Ersteinsatz von Readymades vor knapp einhundert Jahren hat sich in diesem Verständnis sowohl der Realitätsbegriff wie auch der Kunstbegriff bis zur Beliebigkeit relativiert. Von Vladimir Nabokov stammt das Diktum, wonach das Wort „Wirklichkeit“ nur in Anführungszeichen seine Richtigkeit habe, und ein anderer Russe, der Philosoph und Naturforscher Pavel Florenskij, scheute sich nicht, das Zitieren – ohne Anführung – als die einzig „aufrichtige Schreibweise“ zu empfehlen.
Im Bereich der Literatur stellt sich die Frage nach der „Wirklichkeit“ naturgemäß anders als in Bezug auf die Gegenstands- und Stimmungswelt in den darstellenden Künsten. Das Reale kann hier bestenfalls in „realistischer“ Manier, nie aber direkt dargeboten werden, da alle Literatur auf sprachliche Vermittlung und damit auf einen intermedialen Übertragungsakt angewiesen bleibt.
Real, konkret, authentisch kann in literarischen Texten nur die Sprache selbst sein, die Sprache entweder in ihrer Klanglichkeit (auditiv) oder in ihrer Schriftlichkeit (visuell), den beiden einzigen Wahrnehmungsbereichen, in denen der direkte Realitätsbezug möglich wird. Alles im Text Besprochene, Beschriebene, Bedeutete bleibt demgegenüber sekundär, kann sprachlich bloß vermittelt, nie aber eingeholt und präsent gemacht werden. Von daher die Klage so mancher Dichter aus früheren Zeiten, wonach „jedes ausgesprochene Wort eine Lüge“ und also keine Wahrheit sprachlich unverfälscht zu fassen sei.
Dennoch werden sogenannte dokumentarische Texte – Autobiografien, Tagebücher, Erlebnisberichte und selbst literarische Werke, wenn sie in Ichform abgefasst sind – nach wie vor gern als Zeugnisse oder Bekenntnisse gelesen, in denen „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ (ohne Anführungszeichen!) vermeintlich unverfälscht zum Ausdruck kommen. Wenn gleichzeitig aber eine Kosmetikfirma ihre Werbung festmachen kann an der rhetorischen Frage: „Wen interessiert schon die Realität?“, so ist dies nicht wirklich ein Widerspruch zum verbreiteten Authentizitätsbegehren, vielmehr verweist der lockere Spruch darauf, dass nicht die Alltagswelt als erste „Wirklichkeit“ zu gelten hat, sondern deren künstlicher, in diesem Fall kosmetisch aufbereiteter Schein.
In solchem Verständnis gewinnt ja auch ein Großereignis wie die Natur- und Atomkatastrophe von Mitte März in Japan erst eigentlich durch ihre Vermittlung via Nachrichtenbilder oder Amateurvideos einen konsistenten „Wirklichkeitsstatus“, obwohl all diese Dokumente durch einheitliche Formatierung, durch die Wahl der Aufnahmeperspektive und Bildausschnitte sowie durch ihre unmittelbare Nachbarschaft zu Werbespots oder Quizsendungen in ihrer Authentizität massiv eingeschränkt werden. Doch heutige Sehgewohnheiten lassen sich durch derartige Verfälschungen nicht mehr irritieren, so dass entsprechenden Bildern ein höherer Wirklichkeitsgrad zugestanden wird als der Wirklichkeit vor Ort.
Wie dieser Täuschungseffekt, bei dem der Schein gleichsam zum Sein gerät, künstlerisch eingesetzt werden kann, hat schon 1998 – mit weltweitem Erfolg – der Film Blair Witch Project gezeigt, eine „Low-Budget-Pseudo-Documentation“, die von der Produktionsfirma Haxan Entertainment bewusst irreführend als privates, postum entdecktes Videoprotokoll von drei jungen Leuten ausgegeben wurde, das deren mörderischen Untergang auf einem harmlosen Erkundungstrip bis zum letzten Augenblick festhalte. Der „letzte Augenblick“ ist der, da die Kamera ausfällt, und der Ausfall der Kamera wiederum „dokumentiert“ – eben durch den Entzug weiterer Bilder zur „Dokumentation“ – den Tod des letzten Überlebenden.
Dass dieses schlichte, aber klug kalkulierte Projekt zu einem der größten Kinoerfolge aller Zeiten werden konnte, macht deutlich, wie gern man heute bereit ist, die Quasirealität einer getricksten Dokumentation für die Realität selbst zu nehmen, was kaum noch erstaunen wird in einer Zeit, da jeder Normalverbraucher – sei᾽s durch Leistung, sei᾽s durch Zufall – in der (Wirklichkeit der) medialen Welt zum „Superstar“, zum „Meisterkoch“, zum „Dschungelkönig“, zum „Millionär“ werden kann.
II
Der Frage, was „echt“, „authentisch“, „real“ ist und wie Echtheit, Authentizität beziehungsweise Realität in alten wie in neuen Medien beglaubigt werden können, geht der Schriftsteller und Literaturdozent David Shields in einem bereits zum Bestseller gewordenen Buch nach, mit dem er die „kleinen Unterschiede“ zwischen dokumentarischen und fiktionalen Werken aller Art zu erhellen versucht.
Warum Shields seinen gut 200 Seiten starken Essay als „Manifest“ bezeichnet, bleibt unklar, da es darin weder Thesen noch Provokationen gibt, statt dessen aber eine Vielzahl von Beobachtungen und weit hergeholten Beispielen, die allesamt dartun sollen, dass Ideen- und Zitatenklau in der sogenannten schönen Literatur seit jeher praktiziert worden sind, und mehr als dies – dass die Wirklichkeit der Literatur nicht außerhalb der Literatur, sondern in der Literatur selbst zu suchen ist.
Als „neu“ oder „originell“ kann diese Einsicht zwar nicht gelten, neu und originell ist jedoch das Verfahren, mit dem Shields sein Anliegen plausibel macht – statt die „essayistische“ Gleichwertigkeit von Authentizität und Fiktionalität, von Schreiben und Lesen, von Leben und Imaginieren bloß diskursiv aufzuzeigen, stellt er sie gleich selbst unter Beweis, indem er in seinem Buch Hunderte von Textzitaten anderer Autoren aufreiht, zwischen denen er da und dort einen Kurzkommentar einrückt oder ein „eigenes“ Bonmot, ein „eigenes“ Bekenntnis von der Art: „Mein Impuls geht stets dahin, das Buch in Richtung Abstraktion, in Richtung Traurigkeit, in Richtung Düsternis, in Richtung Doppelzüngigkeit, in Richtung siebzehn Formen von Mehrdeutigkeit zu lesen.“ Andererseits: „Das Leben ist schwierig, mitunter vielleicht sogar ein Klotz am Bein (sic!); Sprache ist ein (schwacher) Trost.“ Usf.
So gewinnt ein Ereignis wie die Atomkatastrophe von Japan erst durch seine Vermittlung via Nachrichtenbilder einen konsistenten „Wirklichkeitsstatus“.
Man sieht bald, auf welchem Niveau der „Autor“ als solcher sich artikuliert, doch dies sollte einen nicht von der Lektüre seines „Manifests“ abhalten, das ja zum weit überwiegenden Teil aus Texten anderer („realer“) Autoren kompiliert ist, in deren Namen Shields umstandslos sich selbst ausspricht – ohne Anführungsstriche vereinnahmt er unzählige Fremdzitate und damit ebenso viele fremde „Ich“-Stellungen: „In den meisten Büchern ist das Ich, die erste Person, eliminiert; in diesem Buch wird es beibehalten; das ist, was den Egoismus anbelangt, der Hauptunterschied. Gewöhnlich denken wir nicht daran, dass es genau genommen immer die erste Person ist, die spricht.“
Dieses freistehende Zitat – es stammt von Henry David Thoreau – ist nur in dem umfangreichen Quellenverzeichnis ausgewiesen, das Shields (aus urheberrechtlichen Gründen) „seinem“ Buch als Anhang beigefügt hat, zu lesen ist es jedoch, „als ob“ es von ihm selbst verfasst worden wäre. Der Sinn – oder sollte man sagen: der Witz? – dieser Darbietungsweise besteht darin, dass der „Autor“ eigene und fremde Texte in einem Hypertext zusammenfließen lässt, der zugleich anonym und kollektiv sein soll, am Ende dann aber doch unter dem Namen des einen „realen“ Autors – David Shields – zur Publikation kommt. Wäre er seinem synkretistischen Literaturverständnis konsequent gefolgt, hätte er sich nicht kenntlich machen dürfen, hätte dann aber auch sicherlich keinen Bestseller lancieren können, da Bestseller stets an einen individuellen Autor beziehungsweise an dessen Image gebunden sind. Der nun auch auf Deutsch vorliegende „neue Shields“ ist also insgesamt ein offenkundiges Plagiat, zusammengeschnitten aus absichtsvoll ausgewählten Fremdtexten, ein Plagiat allerdings, das sich als solches zu erkennen gibt und von daher seinen spielerischen Charakter gewinnt.*
Zentral ist für diesen plagiatorischen Autor der Begriff des „Wirklichkeitshungers“, den er am verbreiteten Faszinosum für Reality-Shows, dokumentarische Bild- und Textsorten sowie Selbstinszenierung und Selbstexhibition via soziale Netzwerke festmacht. Die vergleichende Analyse derartiger Unterhaltungs- und Leseangebote lässt auch ihn zum paradoxalen, dabei durchaus einsichtigen Schluss kommen, dass alle Medien, die den Anspruch der Authentizität, der Originalität oder gar der Wahrheit erheben, nichts anderes als Fiktionen zu liefern vermögen, die sich lediglich als „echt“ oder „wahr“ behaupten, dabei aber nichts anderes sind als „wahre“ oder „echte“ Fiktionen.
Tatsächlich aber habe jeder Erfahrungsbericht – trotz der „bewussten Unkünstlichkeit (sic!) des Rohmaterials“ – als ebenso fiktiv zu gelten wie jeder Roman, und keine noch so objektive Geschichtsschreibung könne verlässlicher beziehungsweise realistischer sein als eine künstlerische Erzählung. Was somit stattfindet, ist „ein Verwischen (bis zur Unkenntlichkeit) jeglicher Unterscheidung zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion: die Verlockung und das Verschwimmen des Realen.“ Oder ein Gleiches in den „fremden“ Worten des Schriftstellers Dave Eggers: „Ich habe mir immer schwer getan damit, fiktionale Literatur zu schreiben. Es fühlt sich an, als würde man in einem Clownskostüm Auto fahren. Du fährst irgendwohin, bist aber verkleidet und hältst niemanden so richtig zum Narren. Du bist der Typ im Kostüm, und jeder sollte das vergessen und dir folgen.“
Darüber hinaus entwickelt Shields – immer am Leitfaden der von ihm zitierten Fremdtexte – die zunächst befremdliche, dann aber doch überzeugende Auffassung, wonach allein verpönte Literaturformen wie das Imitat, das Plagiat, das Kompilat als echt und originell gelten könnten. Denn nur bereits vorliegende Texte, nicht jedoch textexterne Wirklichkeitsausschnitte ließen sich ohne Verlust literarisch wiedergeben, und insofern sei die Kopie dem auktorialen Originalwerk überlegen. Es handle sich in diesem Fall – Stichwort: Sampling – um „wirklichkeitsbasierte Kunst fast ohne Kunst“. Das heißt: „Künstler müssen die Dinge nicht durchbuchstabieren; es geht viel schneller, wenn man gleich auf bestehendes Material zurückgreift – Bildmaterial, Bibliotheksrecherche, druckfrische Zeitungen, Vinylplatten usw. Aufgabe des Künstlers ist es, die Fragmente zu mischen (zu bearbeiten) und wenn nötig Originalfragmente zu erzeugen, um die Lücken zu füllen.“
Anhand zahlloser Beispiele, die oftmals bloß als Namedropping Revue passieren, zeigt David Shields auf, wie „die mimetische Funktion großteils in den Hintergrund gedrängt [wird] durch die Bearbeitung des Originals (des ‘real thing’): Diebstahl ohne Entschuldigung – bewusste, selbstbewusste, offen zur Schau getragene Aneignung“. In einer weiteren argumentativen Wendung kann er sodann sinngemäß postulieren, jedes künstlerische Original sei (gerade dann, wenn es auf seine Wirklichkeitstreue abhebe) eine Fälschung. So klingt es denn ebenso süffisant wie unbedarft, wenn dazu an anderer Stelle des Manifests recht unentschieden moniert wird: „Verschwende keine Zeit; halte dich ans Wirkliche. Sicher, was ist überhaupt ‚wirklich‘? Versuch es trotzdem zu fassen zu kriegen.“
Sicher ist eigentlich nur, dass das Wirkliche für Shields als das Wesentliche zu gelten hat. Den Kunstschaffenden empfiehlt er zur Aneignung und Darbietung des Wirklichen die angeblich „postmoderne“ Technik des Montierens, wie er sie exemplarisch in der Collage, im filmischen Zusammenschnitt und im musikalischen Sampling realisiert sieht, ohne (sich) daran zu erinnern, dass eben diese Technik schon vor einem Jahrhundert die Künste der klassischen Moderne entscheidend geprägt hat.
Da „Gott“ damals bereits totgesagt war, musste auch der nach dessen Vorbild agierende Autor seine „schöpferische“ Autorität schrittweise abtreten, musste den produktiven Impuls, der zuvor aus der außerkünstlerischen Realität erfolgte, an das „Rohmaterial“ abtreten – an die Sprache, die Farben, die Formen als solche, und generell an Vorgaben, die als literarische, bildnerische, musikalische Versatzstücke schon vorhanden waren und nun gewissermaßen dazu einluden, „vereinnahmt“ zu werden. Ein Verfahren (genauer: ein Verhalten), das unter manch andern Autoren der europäischen Moderne Paul Valéry oder Hugo von Hofmannsthal besonders prägnant auf den Punkt gebracht haben. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang das Vermächtnis Friedrich Nietzsches, das als letzter Wunsch in einem seiner letzten Briefe festgehalten ist: „… dass im Grund jeder Name in der Geschichte ich bin.“