Keine zehn Jahre hat Johanna Rachinger gebraucht, um die Österreichische Nationalbibliothek zu ruinieren. Und sie hat ganze Arbeit geleistet. Kurz nach ihrem Amtsantritt 2001 hatte sie die Sammlungsdirektoren ausgewechselt, um dann die wissenschaftliche Arbeit innerhalb der einzelnen Sammlungen rigoros herunterzufahren. Sie hat damit eine Vernichtung von Expertise betrieben, von der sich die Institution in zwanzig Jahren nicht erholen wird.
Der Barockbau am Heldenplatz mit seinen Dependancen ist heute ein entkerntes Gebäude – dessen Fassade derart auf Hochglanz poliert ist, dass neben der „Generalin“, wie Rachinger hausintern genannt wird, ein Fürst Potjomkin alt aussieht. Denn nicht ausgedünnt, sondern kräftig aufgestockt, exzelliert die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit in der Kunst des Blendens. Die Medien fressen Rachinger aus der Hand, stopft sie ihnen doch vierteljährlich – abwechselnd dem Standard, der Presse und dem Kurier – mit einer bezahlten Selbstbeweihräucherungsbeilage Geld in die Taschen – und damit das Maul. (Dass in der aktuellen, vom Standard gekauften vierseitigen Hofberichterstattung Thomas Trenkler im Interview mit der Herrscherin über Österreichs größtes Buch-Imperium doch dezent die richtigen Fragen stellt, mutet geradezu wie Majestätsbeleidigung an.) Diese Sonderbeilagen liegen – alternierend in Standard-Rosa, mit dem blitzblauen Presse-Logo oder dem roten Kurier-Balken – jeweils in Stapeln auf allen Theken der Österreichischen Nationalbibliothek auf, auf dass – Kim Il-sung lässt grüßen – irgendwann einmal auch die 350 Mitarbeiter des Hauses die paradiesischen Zustände für bare Münze nehmen, die per Jubel-Publicity herbeigeschrieben werden.
Feudales Selbstverständnis
Sie wissen’s nur leider besser. Denn geleitet wird das Haus per Ukas. Die Hierarchie, die Rachinger installiert hat, funktioniert reibungslos und exekutiert abnickend alles, was mit feudalem Selbstverständnis von oben verordnet wird. Die Stimmung in der Nationalbibliothek ist denn auch im Keller, und dass die demotivierte „Fußtruppe“ unter diesem Regime trotzdem in aller Regel ihr Bestes gibt, ist jeder und jedem Einzelnen nicht hoch genug anzurechnen.
Rachinger versteht sich als Geschäftsführerin, alles, was für sie zählt, sind – Zahlen. Damit lässt sich in Zeiten wie diesen punkten: 400.000 urheberrechtsfreie Werke aus den Beständen der ÖNB sollen innerhalb von sechs Jahren in Kooperation mit Google gescannt und online zugänglich gemacht werden: ein „Public-Private-Partnership in der Größenordnung von 30 Millionen Euro“! Und erst die imposanten „BesucherInnenzahlen“! Bis auf eine kleine Delle 2008 wies unter Rachingers Leitung die Kurve stets nach oben: Der Jahresbericht 2010 weist 283.791 „LesesaalbesucherInnen“ aus. Wie diese Zahlen erhoben werden, wäre eine eingehendere Untersuchung wert.
Es wäre auch nur folgerichtig, wenn sie zusätzlich zu den gut 200.000 Euro Jahressalär einen Bonus von, sagen wir, 20 Prozent erhielte – als kleine Anerkennung ihrer numerischen Performance. Was für Bankmanager, die ihre Institute gegen die Wand gefahren hatten und mit Steuergeldern gerettet wurden, recht ist, kann für die „Österreicherin des Jahres“ in der Kategorie Kulturmanagement 2010, die eine – so das Leitbild und entsprechend der gesetzliche Auftrag der ÖNB – aus Steuergeldern basisfinanzierte „wissenschaftliche Einrichtung öffentlichen Rechtes“ gründlich heruntergewirtschaftet hat, nur billig sein.
Wie’s die „Generalin“ abseits des Hauptbuchs mit dem Buch hält und vielmehr noch mit dem, wofür es steht, erweist eine Serie literarischer Porträts, die der Kurier (kaum anders vorstellbar denn auf Gegengeschäftsbasis) ins Blatt rückte. Die sind exakt so, wie Rachinger „ihre“ Nationalbibliothek auf keinen Fall gesehen haben will: dröge, bieder, hausbacken.
Abgesehen von den schieren Zahlen: „BesucherInnen“ bezeichnet das Publikum der ÖNB-Lesesäle, im Hausjargon „Benützungseinrichtungen“ genannt, treffend. Wer an einem Tag wie diesem zwischen 9.30 und 17.30 Uhr in die ÖNB am Heldenplatz kommt, steht, wenn er nicht gleich unverrichteter Dinge wieder abzieht, zunächst einmal eine Stunde lang Schlange um ein freies Garderobekästchen, um dann erst recht keinen Platz im Haupt-, Großformate-, Austriaca- oder Zeitschriftenlesesaal zu bekommen. Warum? – Weil 98 Prozent aller Plätze von Leuten in Beschlag genommen werden, die dort schlicht nichts verloren haben; von Studenten nämlich, die die Lesesäle der ÖNB – WLAN, im Winter geheizt, im Sommer klimatisiert! – als Gratis-Internetcafé und Lernstube zweckentfremden.
Benützer der ÖNB-Bestände oder Gratis-Internetcafé-Besucher: Rachinger ist das Jacke wie Hose. Hauptsache, das Drehkreuz beim Eingang bleibt in Bewegung.
Vor sechs, sieben Jahren jeweils nur vier, fünf Wochen zu Semesteranfang und zu Semesterende, heute bis auf zwei Monate im Sommer das ganze Jahr über. Ein eklatanter „Fehlbelag“! Deswegen, weil die Studierenden die Bestände der ÖNB nicht in Anspruch nehmen. Und weil damit Leuten, die die Bestände der ÖNB tatsächlich nutzen wollen oder müssen, dies nicht mehr möglich ist. Zudem machen die Studierenden keinen Unterschied zwischen ihrem privaten Wohnzimmer und einem öffentlichen Lesesaal: Permanent Gegacker, Gekicher und Gequatsche, Pausenhof-Atmosphäre in der gesamten Nationalbibliothek, konzentriertes Arbeiten war einmal. Dass inzwischen auch der Mann vom Pizza-Service Dauergast in der sogenannten Lese-Lounge ist, die Rachinger dort, wo einst der Zettelkatalog stand, einrichten und mit Kaffee- und Limo-Automat sowie Wittmann-Möbeln bestücken ließ, klingt nur wie ein schlechter Scherz, ist aber keiner.
Nicht verschwiegen sei bei aller Polemik, dass die Österreichische Nationalbibliothek auch über ein bemerkenswertes, äh, Alleinstellungsmerkmal verfügt, auf das die Generaldirektorin besonders stolz ist: Was in keiner anderen öffentlichen wissenschaftlichen Bibliothek der Welt denkbar wäre, bei Rachinger wird’s Ereignis: Handys in den Lesesälen!
Wiederholt per E-Mail darum gebeten, Abhilfe zu schaffen, ließ Rachinger zwar Anfang 2009 Maßregeln über angemessenes Verhalten in Bibliotheken plakatieren, es schert sich nur bis heute niemand drum. Ihre Antwort kann jemand, der für seine wissenschaftliche Arbeit auf die Bestände der Nationalbibliothek angewiesen ist, nur als Frotzelei verstehen: Sie begrüße die „sehr erfreulichen steigenden LeserInnenzahlen“ und empfehle, auf die „Tagesrandzeiten“ auszuweichen.
Gesetzlicher Auftrag
In einer Duplik an das Leitbild der ÖNB und ihren gesetzlichen Auftrag erinnert –„Die Österreichische Nationalbibliothek ist seit 2002 eine autonome ,wissenschaftliche Anstalt öffentlichen Rechtes des Bundes‘. Sie ist eine Stätte der geistig-kulturellen Identität Österreichs, ein Ort der kulturellen Begegnung und des wissenschaftlichen Diskurses“ – lässt Rachinger antworten. Angelika Ander, Leiterin der Hauptabteilung Benützung und Information: Die ÖNB verstehe sich als „offene und serviceorientierte Einrichtung“, „die den Bedürfnissen aller BenützerInnen und BesucherInnen entsprechen möchte“. Man denke nicht daran, „StudentInnen, die die Einrichtungen der Bibliothek primär zum Lernen nützen, abzuweisen“.
Benützer der ÖNB-Bestände oder Gratis-Internetcafé-Besucher: Rachinger ist das Jacke wie Hose. Hauptsache, das Drehkreuz beim Eingang bleibt in Bewegung und die „BesucherInnen“-Zahlen stimmen. Dass Rachingers Sympathien unverhohlen letzterer Klientel gehören, leuchtet ein: Sie verursacht keinen Aushebungsaufwand. Unter dieser Perspektive erscheinen einzelne Direktiven, die die „Generalin“ im Lauf der Jahre ausgab, als Elemente einer gezielten Strategie, wissenschaftlich Arbeitende rauszuekeln – Motto: Chillen statt forschen!
Sie erhöhte per 1. Jänner 2006 überfallsartig die ohnehin schon üppig bemessenen Gebühren in der Großformate-Kopierstelle, in der Abteilung Mikroformen sowie in der Fernleihe prohibitiv – im wahrsten Sinn des Wortes: Sie behinderten Wissenschaft und Forschung und widersprachen dem gesetzlichen Bildungsauftrag der ÖNB. Eine ausgemachte Chuzpe, gleichzeitig von „lebendiger Brücke zwischen dem reichhaltigen Erbe der Vergangenheit und den zukunftsorientierten Ansprüchen der modernen Informationsgesellschaft“ (ÖNB-Leitbild) zu sprechen.
Die Gebührenerhöhung wurde inzwischen teilweise zurückgenommen, die Kopierstelle beim Großformate-Lesesaal vor kurzem überhaupt aufgelassen (Grund: Einsparung von Personal). Rachinger stellt dem Volk nun einen „Public Scanner“ zur Verfügung, der jeden zweiten Tag alibihalber ein paar Stunden funktioniert, bevor er wieder den Zweck erfüllt, der ihm in der Nationalbibliothek zugedacht ist: Zermürbung von Wissenschaftlern, Vernichtung von Forschungs- und Lebenszeit.
Handstreichartig auch eine Verordnung im Herbst 2010, wonach man nur mehr fünf Bücher (statt wie bis dahin zehn) gleichzeitig entlehnen durfte. Erst nachdem Andreas Weigel per Presseaussendung Druck gemacht hatte, nahm Rachinger diese Maßnahme wieder zurück. Was wurde nicht alles an dümmlichen Ausreden aufgetischt, um diesen Fauxpas im Nachhinein schönzureden: Um „eine gleichmäßige Bedienung aller LeserInnen“ angesichts „seit Jahren rasant steigender Medienbestellungen“ (die sind nachweislich rasant rückläufig!) zu gewährleisten, habe man die Limitierung eingeführt. Auch eine „Generalsanierung des Aushebesystems“ wurde bemüht – dabei kannten alle im Haus den wahren Grund: Bei den Ausgabeschaltern war Personal eingespart worden.
Das hat in der Öffentlichkeitsarbeit der ÖNB System: Wer sich etwa über den vor kurzem installierten neuen Online-Katalog beschwert – Feedback wird ausdrücklich gefordert –, der ein Murks sondergleichen ist, der muss sich von Margot Werner, der rechten Hand Rachingers und ihrer Frau fürs Grobe, die patzige Zurechtweisung gefallen lassen, dass QuickSearch „von der Mehrheit der BesucherInnen sehr positiv bewertet“ werde. Entweder tischt man vorsätzlich die Unwahrheit auf, oder man weiß drüben am Josefsplatz, wo die Generaldirektion residiert, tatsächlich nicht, was im Haus am Heldenplatz läuft.
Ob Rachinger in ihrem Selbstverständnis als Herbergsmutter seit Jahren ihrem gesetzlichen Auftrag zuwiderhandelt, sei dahingestellt. Das ressortzuständige Ministerium für Unterricht, Kunst und Kultur schert sich ohnehin keinen Deut darum.
Rachinger hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie die Österreichische Nationalbibliothek nur als Durchgangsstation auf dem Karriereweg in die Politik betrachtet. Aber ob man’s einer Politik, die Typen wie Rachinger und Noever gebiert, überlassen soll, darüber zu entscheiden, ob die Österreichische Nationalbibliothek wieder eine wissenschaftliche Einrichtung werden oder doch Partyzone bleiben soll, oder doch Rachinger selbst, die sich mit dem Job, den sie macht, für ebendiese Politik empfehlen will, ist wahrscheinlich auch schon wurscht.