CHRISTIAN REDER Wenn es im Deutschen um die ganze Welt geht, einem Weltbilder in den Sinn kommen, Ansichten der Erde, der Globus selbst, taucht rasch der Begriff Weltanschauung auf, der auch im Englischen als deutsches Wort verwendet wird, weil sich keine präzise Übersetzung ergeben hat. World view oder world vision haben etwas andere Bedeutungen, auch das französische conception du monde oder vision du monde. Wir stoßen also bereits bei Grundbegriffen sogar innereuropäisch auf kulturelle Differenzen, wenn von Geographie oder Kartographie aus weitergedacht wird. Obwohl ein Sehen meinend, bezieht jede Weltanschauung unwillkürlich ideologische oder religiöse Modellvorstellungen mit ein, als Konkurrenz zu Varianten von ‚wissenschaftlicher Weltanschauung‘. Aber auch solche blieben ideologisch verbrämten Konjunkturen unterworfen.
PHILIPPE REKACEWICZ Ein dermaßen pathetisch aufladbarer Begriff existiert im Französischen nicht. Aus cartesianischem Denken ergibt sich explizit der Anspruch: die Welt sehen, um sie besser zu verstehen. Ein Interesse daran ist wichtig, das Fragen danach, das Zweifeln, die Suche nach Beweisen. Es soll dem Menschen nützen, ihn aber nicht in ein ideologisches System zwängen.
REDER Weltanschauung meint stets auch Ideelles, eine Positionierung der Totalität von Welt gegenüber, eine Geisteshaltung, die Orientierung liefert. Der Begriff geht auf Immanuel Kant, auf seine Kritik der Urteilskraft zurück, hatte also philosophische, der Aufklärung verpflichtete Implikationen. In der Nazi-Zeit ist das Reden darüber in pervertierter Form propagandistisch umfunktioniert worden, bis hin zum Weltanschauungskrieg und damit konformer politischer Haltung. Wird heute noch auf Weltanschauung gepocht, dann tendenziell reaktionär, als über Demokratiebekenntnisse hinausgehende Behauptung von Substanziellem, Überlegenem, was weitere Fragen erübrigt. Sich mit Weltbildern zu beschäftigen, bis hin zu experimentellen Differenzierungen, wie in unserem Publikationsprojekt, vermeidet hingegen vorschnelle Abgrenzungen …
REKACEWICZ … als image du monde in allen denkbaren Variationen, was durchaus mein Thema ist …
REDER … eben als Impuls für Erkenntnisprozesse, was viel mit geeigneten Visualisierungen zu tun hat. Weil wir von einer Finanzwelt, von einer Welt der Musik, der Kunst, der Physik, von einer Welt der Mode, einer Tierwelt, von privater Welt sprechen, gliedern sich Vorstellungen von Gesamtheit ohnehin auf.
REKACEWICZ Klar ist, dass es keine ‚unschuldigen‘ Kartographien solcher Zusammenhänge geben kann, wie es auch keine völlig neutralen, objektiven Bilder geben kann. Die tätig werdenden Personen, ihre Subjektivität, die Auswahl, unbewusste Prägungen, also der spezifische Kontext, wirken immer beeinflussend. Schon kleinste Verschiebungen der Ränder verändern; die Geschichte, die Erzählung kann dadurch eine ganz andere werden. Was der deutsche Begriff Weltanschauung offenbar dramatisiert, das Wort Weltbild nüchterner ausdrückt, wirkt bei allen solchen Versuchen mit. Daher gehen meine kartographischen Bemühungen dahin, das in kritischer Weise wahrzunehmen, hinter Intentionen das Ideologische aufzudecken. Neutrale Kartographien, neutrale Texte – als völlig ‚gereinigte‘ Formen von Wahrheit – gibt es nicht. Zum Verstehen trägt bei, wenn das transparent wird. Es muss bewusst bleiben, dass es dahinter immer noch weitere Geschichten gibt. Weil nicht alles beweisbar ist, müssen auch Unschärfen und Risiken aufgezeigt werden. Deswegen wende ich mich mehr und mehr wieder der kartographischen Handzeichnung zu, weil Skizzen das Wesentliche anders zeigen können, eben ohne den Anschein von Endgültigem zu erwecken.
REDER Im Atlas der Globalisierung aus 2009 begründen Sie Ihr „Lob der Skizze“ und die Kombinationsleistungen von Kartographie. Denn sie „beruht auch auf der Verschmelzung verschiedener Fachgebiete – Wissenschaft, Technik, Ethik, Politik –, von denen sie sich einzelne Elemente borgt. Das gilt besonders für die Kunst, zu der sie eine enge Beziehung unterhält, denn sie nutzt deren Mittel und Materialien: Formen, Oberflächen, Linien und Punkte, Farben und Kontraste, Schwung, Intensität, Helligkeit usw. Diese Beziehung drückt sich vor allem in der Skizze aus, die der Karte vorangeht.“ Sie arbeiten vorwiegend mit Buntstiften, denn „Buntstifte erlauben nicht nur eine größere Freiheit in der Farbgebung. In einer Handskizze kann man auch mit viel mehr Flexibilität und Kraft die kartographische ‚Ungenauigkeit‘ einzeichnen, die bei einer Digitalisierung kaum akzeptiert würde.“ Bewusst müsse sein, dass es nicht um ein Abbilden von Sichtbarem geht. Beim „Versuch, sich ein Bild der Welt zu machen“, schreiben Sie, „kommt es nicht so sehr auf Präzision an, sondern vielmehr darauf, dass durch das Bild begreiflich wird, was in einem bestimmten Land- oder Seegebiet politisch auf dem Spiel steht, wonach die unterschiedlichen Akteure streben, warum ein Bündnispartner zögert, worüber die Weltmacht enttäuscht ist, welche neuen strategischen Einflussbereiche und unsicheren Randgebiete entstehen.“ Das auf dieser Seite abgebildete Beispiel einer Ihrer Weltbildskizzen macht das anschaulich…
REKACEWICZ … und zugleich, was sich prägnanter skizziert vermitteln lässt – um dann oft doch digital umgesetzt zu werden.
Neutrale Kartographien, neutrale Texte – als völlig ‚gereinigte‘ Formen von Wahrheit – gibt es nicht.
REDER „Karten sind Herrschaftsinstrumente“, vor allem wenn sie alternativlos bleiben, heißt es explizit in einem Ihrer Aufsätze für Le Monde diplomatique, in dem Sie beschrieben, wie Ihnen im Zuge der weltpolitischen Wende von 1989/91 die kartographische Manipulierbarkeit besonders eklatant bewusst wurde. „Ostdeutschland, ein Staat, aus dem bis dahin wenig Verlockendes nach Paris vorgedrungen und der doch Gegenstand vieler Projektionen gewesen war“, empfanden Sie als Terra incognita wie zu Zeiten der großen Entdeckungen. „Zu unserer Orientierung hatten wir nur ein paar alte topographische DDR-Karten. Aber die waren so falsch, dass wir so gut wie nichts von dem, was wir vor Augen hatten, auf ihnen wiedererkannten. Auf einem zehn bis zwanzig Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze fehlten alle wesentlichen geographischen Bezeichnungen – Straßen und Dörfer, ja die gesamte Infrastruktur, alles, was auch nur irgendwie der Orientierung hätte dienen können.“ – „Auf sowjetischen und anderen osteuropäischen Karten waren ‚weiße Flecken‘ keine Seltenheit. Die einzigen offiziellen Karten waren Scheingebilde: Der Westen sah auf ihnen wie eine unberührte Gegend aus, auf eigenem Territorium existierten keine Militärbasen, und wichtige Städte waren um zig Kilometer verlegt. Zum Beispiel war Karaosta, der nördliche Stadtteil der lettischen Hafenstadt Liepaja, wo sich die größte geheime russische Militärbasis befand und zigtausende Menschen lebten und arbeiteten, bis Ende der 1980er-Jahre auf keiner sowjetischen Karte verzeichnet. Nie zuvor haben wir die engen und komplexen Bezüge zwischen Karte und Raum so deutlich wahrgenommen. Bislang hatten wir gemeint, Karten seien relativ getreue Abbilder der jeweiligen Staatsgebiete. Dabei war uns natürlich bewusst, dass sie nur ein unvollständiges und notdürftiges Bild vermittelten. Dennoch: Erst die außergewöhnlichen historischen Umstände des Mauerfalls boten uns die Gelegenheit, die politischen Aspekte des Kartenmachens zu studieren und die Karte als ein Lügengebilde – und zwar als ein doppeltes Lügengebilde – zu studieren. Denn erstens lügt jede Karte, indem sie Dinge verschweigt. Während sie verkleinert wiedergibt, was in der Weite des Raumes existiert, verfälscht sie die Wirklichkeit, weil man eben nie alles Vorhandene abbilden kann. (Man denke etwa an die aus radikaler Wahrheitsliebe geborene Idee einer Eins-zu-eins-Karte bei Lewis Caroll oder Jose Louis Borges)“. Deswegen plädieren Sie auch für ein extrem entgrenztes Berufsbild, denn „in diesem Wechselspiel zwischen Fakten und Wahrnehmungen ist der Kartograph Zeitzeuge und Akteur zugleich. Er wird also nacheinander zum Beobachter, zum Ökonomen, zum Demographen, zum Geomorphologen und so weiter, und schließlich zum Geographen und zum Künstler.“
REKACEWICZ Dem ist nur hinzuzufügen, dass es dafür gesellschaftlichen Rückhalt braucht, ein Interesse an der Welt insgesamt und ihren offensichtlichen – und verborgenen, verdrängten, systematisch geleugneten – Problemen. Von Einzelheiten ausgehend, kann vieles sichtbar gemacht werden.
REDER Trotz aller erlebbaren Fragmentierungen kann sich auf Globalität gerichtetes Denken und Empfinden eben nicht völlig von Weltbildern, vom Eindruck, den ‚das Ganze‘ als Lebensraum des Menschen auf einen macht, verabschieden. Seit Juri Gagarin am 12. April 1961 als Erster die Erde vom Weltraum aus gesehen hat und dann Walentina Tereschkowa als erste Frau – was nun 50 Jahre her ist – und die NASA-Fotos von 1968/69 einen realistischen Gesamteindruck von ihr vermitteln, konnte die Fragilität des Planeten, seine Eigenschaft als empfindliches Ökosystem, bewusster werden. Die Weltbilder verändern sich seither drastisch. Auf der Erde selbst tragen künstlerische Sichtweisen auf die Welt, und seien es geringfügige Details, latent dazu bei, Wahrnehmung zu sensibilisieren, Existenzielles begreifbarer zu machen, ob in Bildern, Literatur oder Musik. Von Philosophie, von politischer Theorie wird Ähnliches erwartet. Generell beschäftigen sich Wissenschaften jedoch primär mit Teilbereichen. Aber im Alltag? Bezogen auf globale Probleme, ob Menschenrechte, Unterernährung oder Klimawandel, werden wir zwar punktuell mit Daten überschüttet, zugehörige Weltbilder aber bleiben diffus, Interventionen hängen von handlungsfähigen Mächten ab.
REKACEWICZ Deswegen versuche ich mit allen meinen kartographischen Arbeiten Beiträge zu einem besseren Verstehen der Welt zu liefern. Von den Intentionen her läuft da vieles parallel, gerade weil Kunst von pädagogischen Zwecken frei ist und anders auf die Lage der Dinge aufmerksam macht. Ob bei Mozart, Schubert, Picasso, Mondrian oder Kandinsky: Mit unglaublichem Minimalismus wird Komplexität – als Weltsicht – einbezogen. Über Generationen hinweg ergeben sich neue Interpretationen. Minimalismus und Komplexität, Distanz und Nähe sind auch in jeder Kartographie zu bewältigende Grundkonstellationen. Die Ergebnisse sollten so konzentriert und klar wie möglich sein, aber präzise abgeleitet aus einer in ihrer Gesamtheit undarstellbaren Komplexität. Wie sehr die vereinfachenden, sonderbaren Formen Picassos inzwischen Kinder und Erwachsene ansprechen, ist ein Beispiel dafür. Edward Hopper schätze ich in seiner Weltsicht besonders, weil er die Welt als Bühne auffasst, um vieles zu verdeutlichen. Seine Menschen sind exponierte Schauspieler. Fotos von ihm gemalter Schauplätze würden sofort erkennbar machen, wie er diese durch Licht und Schatten dramatisiert, um die Isoliertheit seiner Figuren zu betonen. Daraus lässt sich viel lernen, wenn Existenzielles und Visionen visualisiert werden sollen. Auch Kartographen kann es nicht simpel um ‚Realität‘ gehen. Jede Landkarte ist ein intellektuelles Kunstprodukt. Was wir mit ihr schließlich zeigen, das ist unsere Vorstellung, unsere Wahrnehmung der Welt. Dafür verwendete Daten und die eingesetzten Techniken und Medien sind sehr kritisch zu sehen, damit sich keine unbedachten Automatismen einschleichen und einem die Gestaltungsvorgänge bewusst bleiben.
REDER Es ginge also nicht um durchführendes technisches Spezialistentum, sondern um intellektuelle, künstlerische, verantwortliche Zugänge, um Eigensinn – ein in der heutigen Arbeitswelt fast illusorischer Anspruch. Die inspirationslose Gestaltung der meisten gängigen Landkarten und Globen macht evident, wie wenig gestalterische Emphase am Werk ist. An ästhetischer Qualität ist viel verloren gegangen.
REKACEWICZ Die Weltsicht von Künstlern und Künstlerinnen wäre dafür enorm wichtig. Musik liefert von sich aus ungeordnete Mappings aus aller Welt. Im Zusammenwirken mit Kartographie, Grafikdesign, Journalismus und diversen Theoriegebieten können neuartige, ein Verständnis fördernde Visualisierungen entwickelt werden. Letztlich arbeiten alle, die auf solchen Feldern tätig sind, im Kern an derselben Aufgabe: aus einer Sicht auf die Welt Konkretisierungen und Beispiele zu liefern – und das in den unterschiedlichsten Medien.
Als Geographen und Kartographen sind wir Vermittler zwischen dem Geschehen, dessen Bewegungstendenzen und der Öffentlichkeit.
REDER Neben Ihren und weiteren künstlerischen Arbeiten ist in diesem Band auch Trevor Paglen markant vertreten, der sich als Künstler, Autor, experimenteller Kartograph und Forscher auf verborgen bleibende Vorgänge konzentriert, seien es geheime CIA-Flüge mit Gefangenen, Überwachungssatelliten oder die ‚Black Worlds‘ des Pentagon mit ihren nirgends verzeichneten Stützpunkten. Dafür kooperiert er etwa mit dem Institute for Applied Autonomy oder – wie Sie – mit Radical Geography Initiativen. Das dauernd geforderte Transdisziplinäre, als kompetente Vernetzung von Wissen und Handlungsmöglichkeiten, funktioniert also – vor allem in offiziell unerwünschten Feldern – primär über solche informellen Ansätze.
REKACEWICZ Es muss eben immer wieder neu angegangen werden. Erfreulicherweise verselbständigt sich vieles, wird ohne Auftrag einfach getan, mit höchst signifikanten Ergebnissen wie den eben genannten. Tausende spontane, über Smartphones vernetzte Online Crowds werden zumindest vorübergehend zu Communities, die intervenieren, in New York zum Beispiel, um von Videoüberwachung freie Zonen zu markieren, in denen sich niemand beobachtet fühlen muss. Viele halten die ständige kommerzielle Einengung von öffentlichem Raum für höchst problematisch, was auch mir ein wichtiges Anliegen ist. Dafür sammle ich alle greifbaren Daten, diskutiere mit Fachleuten und entscheide dann, in welchem Medium am besten eine breite Öffentlichkeit erreicht wird, als Videodokumentation, als Bildserie oder als journalistischer Bericht mit Diagrammen, Landkarten, Grafiken. Über bloße Bekanntmachung und Interpretation hinaus eröffnen sich so Aktionsfelder.
REDER Bei nahe Liegendem lassen sich Fakten bisweilen leichter erfassen; aber auf die Welt bezogen?
REKACEWICZ Dazu braucht es eben Netzwerke, die verlässliche Daten liefern, und eine solide Kommunikation darüber, wie sie zu interpretieren sind. Zuerst ist die Vision da, dann die Interpretation, schließlich die daraus resultierende Wahrnehmung. Als Geographen und Kartographen sind wir Vermittler zwischen dem Geschehen, dessen Bewegungstendenzen und der Öffentlichkeit. Wichtig dafür ist, welche Territorien sich die diversen Communities jeweils schaffen, welche Publizität erreicht wird, damit sich Vorstellungen verändern und eventuell Interventionen möglich werden.
REDER Es liegt zwar vieles am Geschehen offen vor uns, zugleich lässt es sich in seiner Unübersichtlichkeit kaum noch nachvollziehbar systematisieren, also geordnet mitdenken. Die ‚Großen Erzählungen‘ zu politischen Perspektiven sind Vergangenheit, auch in der Literatur wird ‚die Welt‘ vor allem als Hintergrundrauschen, als chaotischer, zielloser Ereignisablauf beschrieben, etwa von Thomas Pynchon, für den sein kartographisches Denken immer wieder zum Strukturmerkmal wird. Könnte ein solches Denken Wege aus dem Dilemma von Unbeschreibbarem weisen, durch Visualisierung, als Wissensvermittlung durch Bilder? Literarische Texte wollen sich in aller Regel ihre Bildkraft nicht durch beigefügte Bilder untergraben lassen.
REKACEWICZ Beides, Text und Bilder, sind mir zentrale Kategorien. Lange dachte ich, mit Schreiben und Beschreiben sei mehr subtile Flexibilität möglich, weil sich sehr spezifische Vorstellungen entwickeln lassen bis hin zu völligen Fiktionen. Kartographie hingegen bindet sich an Orte, an Landschaften, an Topographie. Um dabei genau zu sein, sind Recherchen notwendig, nachvollziehbare Bezüge zum Realen. In der Literatur kann viel behauptet werden, um einprägsam zu sein. In meinem Feld ergibt es wenig Sinn, den Boden der Tatsachen völlig zu verlassen. Nur ist zugleich offensichtlich, dass sich nur Annäherungen an Präzision erreichen lassen. Bilder allerdings können viel kraftvoller, unmittelbarer wirken. Bilder liefern zeichnerische, farbige, symbolische, die Sinne ansprechende Konkretisierung, Texte primär in Linien gefasste Abstraktionen. In den Konstruktionsweisen jedoch sehe ich inzwischen kaum noch essenzielle Unterschiede. Verschieden sind nur die eingesetzten Medien: Filme, Video, Bilder, Texte in abgestufter Intensität, Grafiken, Karten, Mapping, Tonbandaufnahmen, Erzählungen, Theater, Vorlesungen, Seminare … Immer geht es um geeignete Komprimierung von Komplexität.
REDER Weil unser Gespräch zu einem Buchtext führen wird, drängt sich die Frage auf, inwieweit Gedrucktes noch mit den sich ständig erweiternden medialen Möglichkeiten konkurrieren kann. Wenn ich mir auf Smartphones den Sternenhimmel in realen Ausschnitten erklären lassen kann oder über GPS-Daten sofort die Koordinaten von Orten aufscheinen, können Bücher mit ihren statischen Bildern doch kaum noch mit?
REKACEWICZ Angesichts der digitalen Revolution kann es darauf derzeit keine seriöse Antwort geben. Amazon verkauft offenbar bereits mehr virtuelle als gedruckte Bücher. Für Druckwerke wird es aber weiterhin ein Publikum geben. Auch für Zeitungen bleibt mir das Papier wichtig. Am Bildschirm fehlt einem der taktile Umgang mit dem Material. Gerade zu bildender Kunst und Literatur braucht es diese physische Beziehung. Bezüglich Landkarten bin ich mir nicht so sicher. Wir leben längst in einer Bildschirmumwelt. Was von dort abrufbar ist, kann einfach viel schneller und effizienter genutzt werden. Das revolutioniert auch jede Ausbildung.
REDER Weltbilder werden also bald nicht mehr durch die biederen Schulatlanten geprägt, die so überdeutlich auf Nationalem, auf Grenzen, auf eng gesehener Geographie aufbauen. Die Umrisse der Kontinente sind jedem Kind geläufig, vom Geschehen im Landesinneren wissen wir in den meisten Fällen weiterhin fast nichts.
REKACEWICZ Wenn alle erdenkbaren Landkarten und Themenkarten elektronisch verfügbar sind, braucht niemand mehr den traditionellen Schulatlas. Wir werden elektronische Bücher und Kartenwerke produzieren, was wiederum zu selektiven gedruckten Versionen führen wird. Nichts ist mehr an den Ort angewiesen, kann überall abgerufen, verarbeitet und archiviert werden.
Noch vor kurzem sind viele Landkarten als Staatsgeheimnisse behandelt worden, wie zu Zeiten der frühen Entdeckungen.
REDER Solche exzessiv anwachsenden Wahlmöglichkeiten schaffen zwar neue Zugänge zu Komplexität, aber auch ausufernde Konfusion, was Orientierung zum hochgradig sensiblen Thema macht, trotz aller Suchmaschinen. Ihre Arbeit für die wegweisenden Atlanten von Le Monde diplomatique, zur Globalisierung, zur Geschichte, zu Ozeanen, Wäldern, Umwelt, Klima oder Trinkwasser, hat markant vorbereitet, um welches Weltverständnis es mit erweiterten Bildmöglichkeiten gehen müsste. Im Atlas der Globalisierung werden unter ‚Neue Weltkunde‘ zu den heutigen Imperien, zu Migration, Armut, zum Kampf ums Wasser, zu Fundamentalisten, Territorien bewaffneter Gruppen, zur Nato, zu Rüstung oder zur Verbreitung von Mobiltelefonen fundierte und kommentierte Übersichten geboten. Auch die Atlas-Ausgabe Das 20. Jahrhundert (2011) verbindet historische Relevanz konsequent mit den jeweiligen geographischen Räumen und nicht mehr primär mit Zeitabfolgen, also im Sinn des wissenschaftlich forcierten ‚spatial turn‘ bzw. ‚topographical turn‘, demzufolge – nach den durch Machtphantasien diskreditierten Phasen von Geopolitik – nunmehr wieder ausdrücklich Räume, aber als kritisch zu analysierende kulturelle Größen wahrgenommen werden.
REKACEWICZ Mit dieser Konzentration auf Themen, auf Beziehungen, auf Zusammenhänge geben wir Richtungen an, nur wäre der Anspruch vermessen, damit unmittelbaren Einfluss ausüben zu können. Ich vertraue da auf selbständig mitwirkende Kräfte. Kommunikationsmöglichkeiten weiten sich ungeahnt aus, werden immer schneller, flexibler, mit Zugriffen auf unglaubliche Speicherkapazitäten. Die derzeitige Medienrevolution bedeutet auch eine Befreiung der Daten. Sie wurden, wie alle Statistiken, unvergleichlich zugänglicher. Satelliten vermessen die Welt millimetergenau. Jeder Mensch kann heute eigene digitale Weltkarten erzeugen, seinen Wohnort aus Satellitenperspektive betrachten. Das hat es noch nie gegeben. Noch vor kurzem sind viele Landkarten als Staatsgeheimnisse behandelt worden, wie zu Zeiten der frühen Entdeckungen. Heute noch Geheimnisse zu wahren wird immer schwieriger, siehe WikiLeaks. Für jedwede Selbstorganisation stellen solche Informationsmengen enorme Herausforderungen dar, um damit tatsächlich etwas anfangen zu können, das die Zivilgesellschaft stärkt. Ob wir keine Daten haben, wie in einer Diktatur, oder sie uferlos greifbar sind, wir sie aber nicht nutzen können, bleibt sich letztlich gleich.
REDER Wir sind damit wieder beim Orientierungsproblem, einer Grundfrage jeglicher Kartographie.
REKACEWICZ Um das geht es auch ganz zentral. Möglichst viele Menschen müssen die Kompetenz erwerben, aus diesen Informationsmengen Essenzielles zu synthetisieren, das sich in ihrer Arbeit und ihren Interessen gemäß nutzen lässt und Handlungsmöglichkeiten fundiert. Dafür ist Kartographie, ist kartographisches Denken ein sehr geeignetes Muster. Orientierungsgrade prägen das Selbstverständnis. Was teilen uns die Massenmedien schon über die Unruhe in der arabischen Welt mit? Stets nur die westliche Perspektive – wie aber wird das von Afrika aus wahrgenommen, von Indien, von China aus? Das kann medial nicht über hunderte Bücher funktionieren. Es braucht begreifbare Visualisierungen, die Differenzen verdeutlichen, Menschenrechtslage, Stammesbezüge, Oppositionsstrukturen, Rohstoffinteressen. Nur so werden sich ‚realere‘ Eindrücke ergeben. Bilder von um sich schießenden Rebellen sagen einem gar nichts dazu. Gewohnte Bezüge müssen umgruppiert werden, wie Energiefelder. Dazu braucht es laufend neues Anschauungsmaterial, das seriös aufgebaut ist. Erst dann ergeben sich veränderte, einer neuen Situation entsprechende Weltbilder.
REDER Das würde, als Kraft gegen ein Verschweigen und latente Manipulationen, wirklich unabhängige, gründlich arbeitende Medien voraussetzen. Wegen solcher Defizite sind wir vielfach auf die informellen Sphären von NGOs und Aktivisten angewiesen. Wem zu trauen ist, bleibt dennoch fragwürdig.
REKACEWICZ Bürger und Bürgerinnen müssen eben ihre eigenen Territorien – auch im Medienraum – offensiver in Anspruch nehmen. Ohne globale Bezüge ist das sinnlos. Deswegen sind aussagefähige demographische Daten so wichtig, etwa wie viele Mädchen weltweit Zugang zu einer Grundausbildung haben. Für das Auge bleibt das unsichtbar. Fakten sind in Statistiken verborgen. Kartographie muss also vielfach Unsichtbares sichtbar machen. Erst durch Visualisieren werden Zustände unmittelbar bewusst, und damit auch Defizite und Interventionsprioritäten. Kartographisch geht es also vor allem um die Veranschaulichung von Problemen und Phänomenen. ‚Alles‘ darstellen zu wollen, würde in Datenmengen untergehen.
REDER Trotz aller post-kolonialen Einstellungsänderungen, aller Cultural Studies und Gender Sudies im Sinn von Judith Butler, Stuart Hall, Clifford Geertz oder Homi K. Bhabha verstärken sich erneut Abschottungstendenzen. Auch Massenmedien bekräftigen das permanent. Wer schafft es schon, sich mit afrikanischer Literatur, der Frauensituation in Afghanistan, indischer Philosophie, chinesischer Innenpolitik oder sozialen Reformen in Peru zu beschäftigen, als Grundlage einer umfassenden, Veränderungen aufnehmenden Weltsicht? Fremdenfeindlichkeit nimmt fast überall wieder aggressive Formen an. Zu Weltbürgern und Weltbürgerinnen zu werden, und das ohne Arroganz, gelingt eben kaum. Diskreditiert sind solche – oft nur vordergründig – liberalen Intentionen auch, weil sie gerade in Extremphasen von Imperialismus und Kolonialismus zum Programm vieler Gebildeter gehörten, dann aber ziemlich abrupt in diversen Nationalismen verschwunden sind.
REKACEWICZ Solche – inhaltlich zu revidierenden – kosmopolitischen Ansprüche dürfen wir nicht aufgeben. Informationsquellen und einbeziehbare Spezialisten gibt es durchaus, um Vielfalt zu erschließen. Auf sich allein gestellt ist das nur in Ansätzen zu leisten. Wie trotz aller Verselbständigung Kolonialismus weiterwirkt, bleibt an dessen ‚Fußspuren‘ weltweit erkennbar, ob es nun ‚historische‘ Einflusszonen von Frankreich, Großbritannien, Spanien, Portugal, Russland, Italien, Deutschland oder jetzt der USA oder Chinas betrifft. Um eurozentrischen Prägungen zu entkommen, müssten diese bewusst relativiert werden, ohne eigene Identitätsgrundlagen aufzugeben. Das erfordert permanente Selbstbeobachtung. Allein solche Intentionen schaffen bereits wieder neue Verbindungen, innerhalb unserer Projektgruppe für diesen Band zum Beispiel. Es braucht dazu aber auch Kooperationen mit Stimmen aus anderen Weltteilen, wo überall dichte Netzwerke von Initiativgruppen existieren, die ihre Ansichten zur Diskussion stellen. Der brillante Intellektuelle Achille Mbembe aus Kamerun, der jetzt in Johannesburg lehrt, ist mir dafür eine wichtige Bezugsperson für gemeinsame Vorhaben. Er arbeitet an Beschreibungen Afrikas, eines Afrikas, wie es keiner von uns zuvor kannte; auch ich nicht, obwohl ich über Jahre hinweg immer wieder vor allem in Westafrika gearbeitet habe. Seine subtilen Untersuchungen gehen von den unterschiedlichen Lebenswelten aus, von den dort anzutreffenden Perspektiven. Daraus lässt sich enorm viel über die Menschen und die Menschheit lernen. Es stellt sich rasch heraus, wie unsinnig und einseitig die ständigen Vergleiche unserer ökonomischen Niveaus mit jenen in Afrika sind. Wegen der augenscheinlichen Armut werden andere, unglaublich reichhaltige Aspekte übersehen, was völlig verfälschte Lebenssituationen vermittelt, weil eine fest verwurzelte Erlebnisfähigkeit mit hunderten Sprachen, mit Erotik, Musik, Festen, Zusammenhalt unberücksichtigt bleibt. Die Multitude Afrikas ist weit komplexer als jene des so vielfältig erscheinenden Europa. So gesehen ist unser Bild von Afrika völlig falsch. Realistischer wird es erst, wenn dessen Verschiedenheit als kultureller Reichtum anerkannt wird, was zugleich deutlich macht, dass solche Qualitäten in Globalisierungsprozessen kaum als Aktivposten zählen.
REDER Optimistisch gesehen könnten somit kartographisches Denken und kartographische Projekte für viele Arbeits- und Wissensgebiete Strukturmuster liefern, als sensibilisiertes Eingehen auf Unterschiede – ohne globale Zusammenhänge zu negieren?
REKACEWICZ Wie anders ließen sich am gesamten Globus die jeweiligen Lebensverhältnisse und die existierenden Grundprobleme aufzeigen, begreifen, bearbeiten? Deswegen ist mein Arbeitsprogramm der nächsten Jahre darauf konzentriert, Wege zu finden – und sichtbar zu machen –, wie es gelingen kann, sich tatsächlich in ‚den Anderen‘, in ‚die Andere‘, so unverständlich und fremd sie vorerst auch erscheinen mögen, zu versetzen, um die Welt aus solchen Perspektiven zu sehen. Wir müssten viel genauer hinschauen und viel aufmerksamer zuhören. Wenn ich ein Zwischenresümee zu meiner bisherigen Arbeit ziehe, dann ist es die Erkenntnis, wie unterschiedlich die Perspektiven – also auch die jeweiligen Weltbilder – sind. Das trifft auf alle Gesellschaften und Minoritäten zu, mit denen ich mich beschäftigt habe, ob in verschiedensten Regionen Afrikas, im Mittleren Osten, in Frankreich, in Polen, in Litauen, in der Ukraine, in Russland, in Aserbeidschan oder in Georgien. Können solche Einsichten kartographisch umgesetzt werden, wird das zu völlig neuen Projektionen, zu gedanklich immer weiter differenzierten Weltbildern führen und Unsichtbares sichtbar machen. Dazu muss einem bewusst sein, wie eurozentrisch unsere Anschauungen geprägt sind, aber zugleich, dass es unerlässlich wird, die Vielfalt anderer Lebensvorstellungen besser zu verstehen. Mit kartographischen Visualisierungen kann ohne zu starke Abhängigkeit von Sprache daran gearbeitet werden.
Aus dem Englischen übersetzt von Christian Reder.