Nach einer schlaflosen Nacht zwang er sich zu einer weiten Fußwanderung durch die hügelige von Pinienwäldern bedeckte Umgebung von Spezia. Am Nachmittag jenes Tages im August (1853) kehrte er todmüde zurück, um sich auszuruhen. Wiederum aber versagte sich ihm der Schlaf. Dafür sank er in eine Art von somnambulem Zustand, in dem ihm plötzlich schien, als versänke er in tiefem Wasser, das rauschte, und zwar als musikalischer Klang des Es-Dur-Akkordes. In figurierter Brechung wogte er unaufhörlich dahin, wobei die Bewegung zunahm, ohne dass sich jedoch der reine Es-Dur-Dreiklang veränderte. So beschreibt Richard Wagner die Inspiration, die ihm das Orchestervorspiel zum Rheingold eingab.
Bemerkenswert daran ist die Ruhelosigkeit, die Bewegung, der Wachtraum als Voraussetzung dieser Inspiration, die Imagination des Gegensatzes, das Hügelige der Landschaft überträgt sich auf das Wogen des Wassers; des Weiteren die Musikalisierung der Empfindung: Die Geburt der Kunst aus dem Geist des imaginierten Wassers. Man fühlt sich erinnert an die Beschreibung somnambuler Erfahrungen bei Justinus Kerner, seinen erzählten Bericht etwa über die Seherin von Prevorst, die vorzugsweise durch von Instrumenten erzeugte Töne magnetisiertes Wasser trank, worauf sie zu singen begann. Kerner beschreibt diese Rückverwandlung der Töne in Wasser, das dann seinerseits Gesang inspirierte. Gesang und Hysterie gingen hierbei ineinander über, wobei Kerner nichts über den Kunstcharakter dieses Gesangs sagte, der freilich in Wagners Fall durch seine Partiturskizze unabweisbar und überprüfbar wurde.
Inspiration und bildende Kunst. Das Tagebuch des Eugène Delacroix aus dem Jahre 1824. Er studiert Poussin, Géricault, liest in Madame de Staëls Roman Corinne Passagen über das transitorische Vergnügen, das die Musik bereite, und wartet, bis ihm Umrisse in den Sinn kommen. Alles komme zunächst auf Umrisse an, notiert er. Lust auf Skizzen müsse sich einstellen: „Viele Skizzen machen und sich Zeit nehmen: Das ist es, was ich vor allem brauche, um Fortschritte zu machen. […] Verschaff dir schwieriges Material, um wie im Marmor zu arbeiten: das wäre vollkommen neu. – Das Material rebellisch machen, um es mit Geduld zu besiegen.“
Hauch des Prometheus
Delacroix arbeitet sich an die Inspiration heran, die sich in seinem Fall nicht an der Natur entzündet, sondern am Vorgebildeten – einerseits. Andererseits quält ihn die Frage nach Orientierung und wirklicher, andauernder Inspiration: „Jeden Augenblick kommen mir ausgezeichnete Ideen, aber anstatt sie sofort auszuführen, wo sie noch ganz zum Zauber der Einbildungskraft umhüllt sind, so, wie sie sich in diesem Moment befindet, nimmt man sie sich für später vor, aber für wann? Man vergisst oder, was noch schlimmer ist, man findet kein Interesse mehr an dem, das einen damals doch inspiriert hat.“ Eine Laune jage die andere wie ein wirbelnder Wind, der ein Schiff beständig in entgegengesetzte Richtungen treibe. „Es kommt vor, dass ich eine Unzahl von Themen habe. Nun gut, was soll ich damit anfangen? Sie werden so kalt im Lager warten, bis sie an der Reihe sind, und niemals wird ihnen die Inspiration des Augenblicks den Hauch des Prometheus verleihen.“ Dann nimmt er Velasquez in den Blick, liest Dante, Lamartine und Byron, betrachtet Michelangelos und das Ländliche Konzert von Giorgione. Doch wirkliche Inspiration stellt sich wieder nicht ein. Stattdessen notiert er die Ausgaben für Mittagessen, Abendessen, Seife und Zucker. Tags darauf hat er „Lust, Lithographien von Tieren zu machen, einen Tiger an einem Aas“.
Inspiration: das Plötzliche in sich geschehen zu lassen, um es dann aus sich herauszusetzen in Gestalt von Kunst oder einem neuen wissenschaftlichen Ansatz.
Was aus diesen Momenten entsteht, sind Anfänge, Einsätze, die mitunter ein ganzes Werk vorwegnehmen. Der Augenblick der Inspiration begreift sich als ein Moment der Antizipation. Der erste Satz prägt, was folgt – auch in Gestalt der dissonantischen Einsätze bei Chopin, die Robert Schumann so besonders auffielen. Um Chopins Opus 2, die Mozart-Variationen auf „Là ci darem la mano“, zu besprechen, wählte Schumann die Form einer kleinen Erzählung, die ihrerseits einen Moment der Inspiration beschreibt: „Ich saß mit Florestan am Klavier. Florestan ist, wie du weißt, einer von jenen seltenen Musikmenschen, die alles Zukünftige, Neue, Außerordentliche wie vorausahnen […] Ich blätterte gedankenlos im Heft; dies verhüllte Genießen der Musik ohne Töne hat etwas Zauberisches. Überdies, scheint mir, hat jeder Komponist seine eigentümlichen Notengestaltungen für das Auge […] Hier aber war mir’s, als blickten mich lauter fremde Augen, Blumenaugen, Basiliskenaugen, Pfauenaugen, Mädchenaugen wundersam an.“ Was den Ich-Erzähler und seinen Freund da anblickt sind die Bilder in der Komposition Chopins, die distinktive visuelle Tonspur, die als naturhaftes Ornament erscheint.
Dieses Schumann-Zitat schildert den ersten Moment ästhetischer Wahrnehmung, in dem Unbewusstes, Ahnungsvolles und bildhafte Assoziation ineinander übergehen. Das „gedankenlose“ Blättern führt zum optischen Genuss der notierten Musik. Das Auge tastet gleichsam die Notenspur ab (wie ein Jahrhundert später die Grammophonnadel die Tonspur) und entwirft als geistiges Auge Klangbilder, in denen sogleich das „Zukünftige, Neue, Außerordentliche“, als seien sie Vorwegnahmen eines noch Unbekannten, aufscheint. Damit ist erreicht, worauf es Romantikern ankam: eine – produktionsästhetisch verstanden – inspirierte Kritik, mithin eine Kritik, die ihrerseits künstlerisch produktiv ist.
Inspiration, die Frage nach dem zündenden Augenblick, aus dem das Schöpferische sich generiert – zum einen weist dies auf die Kunst, sich für einen solchen Moment bereit zu halten, auf ihn hinzuleben; zum anderen kann dies auch bedeuten: das Plötzliche in sich geschehen zu lassen, um es dann aus sich herauszusetzen in Gestalt von Kunst oder einem neuen wissenschaftlichen Ansatz. Die literarische Moderne sieht diesen Inspirationsmoment als eine Frage von Spannungen und Spaltungen, etwa zwischen dem Ich und dem Non-Ich, zwischen Ich und Welt. Hermann Broch sah in dieser „Ich-Welt-Spannung die dichterische Kraft“ entspringen, wie er in seinem großen Essay Hofmannsthal und seine Zeit schreibt.
Buchstabenklavier
Bis zur elektronischen Transformation unserer geistig-sinnlichen Verhältnisse galt die Handschrift als Spur der Inspiration. Nun ist es der elektronische Impuls vermittels einer inzwischen sich mehr und mehr virtualisierenden Tastatur, man könnte sie auch Buchstabenklaviatur ohne klangliche Konsequenzen nennen. Das Höchstmaß inspirierter Sinnlichkeit ist unter diesen Umständen die Berührung der Buchstabentasten mit den Fingerkuppen. Das Medium, Stichwort: Apple-Revolution, wird zum Gegenstand, Empfänger und Absorbator des menschlichen Ingeniums. Die in kaum noch nachvollziehbarer Weise verfeinerten Medien der Kommunikation gelten an sich als inspiriert. Unsere Vorstellungskraft bemüht sich mehr oder minder angestrengt, mit ihnen Schritt zu halten; denn sie können inzwischen alles; nur die Gerüche erweisen sich einstweilen noch als übermittlungsresistent. Dass sich die Bildkunst mit den neuen Medien zu verbinden versteht, stellt als einer der ersten David Hockney unter Beweis mit seinen iPhone- und iPad-Zeichnungen. Daraus sind Folgerungen für den Gestaltungsprozess ableitbar, denn die sogenannte Brushes Application erlaubt dem Künstler, eine Zeichnung Strich um Strich zurück zu verfolgen und damit eine Art play back der Form werdenden Inspiration zu ermöglichen. Erste Ergebnisse führte er in der Ausstellung Fleurs Fraîches in Paris 2010/11 vor, zwei Jahre später in der Londoner Royal Academy.
Nach der Frage Walter Benjamins, wie sich der Charakter des „Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ verändert habe, stellt sich nun ein anderes ästhetisches Problem: Wie verhalten wir uns zu Kommunikations- und Reproduktionsmedien, die ihrerseits ingeniöse Kunstprodukte sind? Steve Jobs als posthum gehypter Unternehmenskünstler, der angebissene Apfel als designsicheres Markenzeichen und Emblem einer Unterhaltungs- und Wissensmedienrevolution, David Hockneys inspirierter Blick auf die Landschaft Yorkshires, den er mit konventionellem Pinsel und Farbe, mit iPad und neun high definition-Videokameras umsetzt und die Schriftsteller der cut-and-paste-Generation, anmaßend wäre, ihnen allen ‚wahre‘ Inspiration abzusprechen. Denn sie inspirieren die Medienproduktion, inspirieren durch das Medium oder werden vom Medium inspiriert. Mit diesen drei Dimensionen mediengebundener Inspiration transformiert sich unsere Vorstellung von Kunst: Aus ihrer metaphysischen Inspiriertheit wird ein global wirkendes medienästhetisches Inspiratorium, das von jedem elektronisch Vernetzten jederzeit ‚anrufbar‘ ist – als profane Entsprechung zur einstigen Anrufung der Musen. Unklar bleibt, wie losgelöst von ‚wirklichen‘ Stimmungen oder ‚somnambulen Zuständen‘ dergleichen Inspiration wirken kann.
Inspiration käme demnach, im übertragenen Sinne geistesphysiologisch gesagt, einem Befruchtungsvorgang gleich: Im Vorbereiten auf eine Arbeit konzentriert sich die eigene Energie auf einen bestimmten Aspekt. Diese Konzentration verdichtet sich, wenn man so will, zu einer Zelle, die empfangen will. Inspiration ist Verschmelzung eines Inneren mit einem Äußeren, eines Konzentrationsmoments mit einem Ungeahnten, Unverhofften, Anderen aufgrund einer Anziehung, die sich kontextuellen, eher nicht-rationalen Vorgängen verdankt, vom Wachpunkt im Schlaf bis zu Bildern, die sich (Tag-) Träumen verdanken können. Das ‚Rationale‘ daran ist, dass diese Anziehung Resultat konzentrierter Intensität ist, in deren Orbital oder Malstrom das ganz Unerwartete hereingezogen wird. Inspiration gilt gemeinhin als ein erhellender Vorgang, der sich aber eher im Dunklen vollzieht.
Synaptische Dimension
Die Grundfrage bleibt jedoch die nach dem Zusammenhang von Inspiration, Intuition und Instinkt. Inspiration kommt zudem nicht ohne Materialbewusstsein aus, nicht ohne Selbstkritik. Während der Instinkt die verhaltenspraktische Seite der Ahnung ist und die Intuition ein anderes Wort für Gespür, betrifft die Inspiration das Plötzliche in Gestalt einer unerwarteten Einsicht oder einer spontanen Verknüpfung von bislang Getrenntem. Inspiration verdankt sich somit offenbar auch einer synaptischen Dimension.
Was aber bedeutet Inspiration, Ahnung, Gespür angesichts elektronischer Hochgeschwindigkeitsvernetzung auf dem Rechner, einem Instrument, das auf seine Selbststeigerung hin programmiert wurde und dabei uns, seine Bediener, im buchstäblichen Sinne ‚vorführt‘, nämlich unsere Unfähigkeit, alle seine Möglichkeiten auch nur zu erfassen, geschweige zu nutzen, es sei denn wir sind Software-Spezialisten? Der Rechner wird zum Impulsgeber und Inspirator und wir, seine Bediener, zu dessen Medium, also zu dessen Bediensteten. Doch eine solche Inspiration beschreibt im Grunde den Zustand potenziell noch produktiver Entfremdung vom Material.
Und dennoch: es gibt sie ja noch, die schlaflose Nacht, die mit Pinien bewaldete Landschaft, das Rauschen des Wassers, der Moment unbewusster Eingebung, das chthonische Brodeln in den ersten Takten von Beethovens Neunter, die den Vorgang der Inspiration geradezu schildert. Die Rede von der Inspiration will eines einklagen und daran festhalten: die letzten Reste des Authentischen in der Welt uferloser Simulationen. Womöglich können sie, diese Reste, ein neues, ein anderes Anfangen – inspirieren.