I
Lew Schestow, der 1866 als Jehuda Leib Schwarzman in Kijew geboren wurde und 1938 als Léon Chestov in Paris starb, fühlte sich schon in jugendlichem Alter zu künstlerischem Tun berufen – er schrieb und übersetzte Gedichte, versuchte sich als Erzähler und träumte davon, vor der Welt und für die Welt ein „neues Wort“ auszusprechen. Früh wandte er sich auch der Musik zu, nahm Gesangsunterricht, strapazierte seine Stimme aber so sehr, dass er fortan zeitlebens an chronischer Heiserkeit litt und jeglichen Gedanken an eine Sängerkarriere aufgeben musste. Nie jedoch hat Schestow seinen Maximalismus aufgegeben, seinen unbändigen Willen, sich gegen alle äußeren Behinderungen – das strenge Elternhaus, antisemitische Bedrohungen, die bolschewistische Machtübernahme, den Bürgerkrieg, die Emigration, die andauernd prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen – durchzukämpfen, intellektuelle Extrempositionen aufzusuchen und die Möglichkeiten des Imaginierens, Denkens, Sprechens hinauszuschieben bis zu jenem Punkt, der die Grenze zum Unverständlichen und Unannehmbaren markiert.
Die Sprache der Musik hielt Schestow weiterhin für die einzige authentische Ausdrucksweise, und folgerichtig praktizierte er denn auch die Philosophie, der er sich nach einem Jurastudium und während seiner langjährigen Mitarbeit im väterlichen Textilhandelsbetrieb mit wachsendem Engagement autodidaktisch zuwandte, als eine Art sprachgestützter „Musik“ und, nach seinem eigenen Dafürhalten, als höchste Form des Philosophierens überhaupt. Immer wieder hat Schestow, zu dessen ersten Erzählversuchen diverse „musikalische“ Novellen gehörten, in der Folge auf das vielzitierte Diktum Paul Verlaines Bezug genommen, wonach die Musik „allem andern“ vorausgehe und „der ganze Rest“ bloß Belletristik sei. Doch auch er war naturgemäß auf die Sprache als Ideenträger angewiesen, auch seine Philosophie ist über weite Strecken „schöne Literatur“, die auf begriffliche und argumentative Schlüssigkeit weitgehend verzichtet, indem sie Widersprüchlichkeit, Inkonsequenz, Übertreibung, Vereinfachung, Bildhaftigkeit vor diskursiver wissenschaftlicher Rhetorik privilegiert.
Dass Schestow einst weithin – so von seinen Zeitgenossen Berdjajew, Bulgakow, Mirskij – als einer der großen Stilisten russischer Sprache gefeiert wurde, ist schwer nachvollziehbar angesichts seiner unbekümmert kolloquialen, bisweilen aber auch apodiktisch sich versteifenden Prosa, deren offenkundige Wirkungskraft durch zahllose Redundanzen und Fahrlässigkeiten aller Art merklich beeinträchtigt wird. Zweifellos waren ihm diese Mängel bewusst, und mehr als dies – er hat sie womöglich eigens kultiviert, um nicht mit unangemessener Brillanz von „letzten Dingen“ zu reden, die sich sprachlichem Zugriff ohnehin entziehen oder die in sprachlicher Formulierung (und vollends in philosophischen Begriffen) eher verunklärt denn erhellt werden. „Die allerwichtigsten und bedeutendsten Gedanken – die Offenbarungen – erscheinen nackt in der Welt, treten ohne Worthülle auf“, heißt es in Lew Schestows Apotheose der Grundlosigkeit von 1905: „Für sie die passenden Worte zu finden, ist ein besonderes, besonders schwieriges Unterfangen, ja eine ganze Kunst. Und umgekehrt: Dummheiten und Trivialitäten pflegen in bunten, wenn auch alten Klamotten aufzutreten, so dass man sie dem Publikum ohne jede Mühewaltung beliebt machen kann.“
Noch der späte Schestow als erprobter und anerkannter Autor sagte von sich, das Schreiben sei für ihn „keine Arbeit, sondern ein Martyrium“.
Von daher versteht man, dass noch der späte Schestow als erprobter und anerkannter Autor von sich sagen konnte, das Schreiben sei für ihn „keine Arbeit, sondern ein Martyrium“, die philosophische Rede kein kohärenter argumentativer Diskurs, sondern suchende, einzig auf Wahrhaftigkeit, nicht auf Eloquenz bedachte Artikulation ewiger – ewig unlösbarer – Fragestellungen. „Nimm die Eloquenz und dreh ihr den Hals um“, heißt es in einem der letzten Briefe Schestows an Benjamin Fondane: „Mag ja sein, dass das große Publikum die Beibehaltung der Eloquenz vorgezogen hätte. Ist denn aber das große Publikum als Richter unfehlbar?“
Schestows drastische Rechtfertigung seiner unbedarften, zum Murmeln, zum Stottern neigenden Ausdrucksweise hat Geltung für die russische Philosophie insgesamt, die ihre tiefsten Einsichten gleichsam experimentell bei lautem Nachdenken gewinnt, bei ungeschütztem, ebenso begriffsschwachem wie bildgewaltigem Daherreden, das Widersprüche oder Wiederholungen noch so gern in Kauf nimmt, um sich der „Wahrheit“ in spontanen Schritten und Rückschritten oder auch in alogischen Fehltritten anzunähern – dies in bewusstem Gegenzug zum „westlichen“ System- und Vernunftdenken, das in Russland mit der Hegel-, der Marxrezeption zwar erheblichen Einfluss gewann, stets aber als „fremd“, „schematisch“, „lebensfern“, wenn nicht gar als „tot“ empfunden wurde.
Auch Schestow war naturgemäß auf die Sprache als Ideenträger angewiesen, auch seine Philosophie ist über weite Strecken „schöne Literatur“.
Für Lew Schestow konnte radikales, allein der Wahrheit verpflichtetes Denken nur in extremis authentisch sein, dort, wo es sich arational auslebt, wo es das Paradoxon, sogar das Wunder zulässt, mithin das intellektuelle Patt beziehungsweise den intellektuellen Leerlauf. Solche Radikalität lässt sich auf der sprachlichen Ausdrucksebene wohl tatsächlich nur durch den Verzicht auf jegliche Schönrednerei durchsetzen, unter Missachtung aller rhetorischen Konventionen und schulphilosophischen Gepflogenheiten. Außer der Schönrednerei hätte sich Schestow, dessen Begriffsskepsis gelegentlich als „Mysologie“ moniert wurde, noch so gern die Sprache schlechthin erspart, von der er annahm, dass sie Verständigung eher erschwere denn fördere, namentlich dann, wenn es um Sinn- und Schicksalsfragen geht. „Worte“, so heißt es an einer Stelle in seinem Lutherbuch, „behindern den Menschen bei der Annäherung an das letzte Geheimnis von Leben und Tod.“ Und mehr als dies: „Worte treiben das Geheimnis aus.“ Das Geheimnis, das Gott und die Welt, der Zufall und der Tod gleichermaßen sind, muss nach Schestow erkämpft werden am Fuß einer alles überragenden steinernen Wand, es ist mit Worten nicht zu erhellen und wird ohnehin erst dort fassbar, wo seine Unbegreiflichkeit begriffen wird.
Der Schriftsteller Aleksej Remisow, den mit Schestow eine langjährige Freundschaft verband, hat dieses absurde philosophische Maximalprogramm – Vergegenwärtigung des Unmöglichen durch dessen Verwirklichung in der Möglichkeitsform – einst wie folgt rekapituliert: „Einst hatte er einen Traktat über die ‚Arbeiterfrage‘ geschrieben. Später unterwarf er sich dem Idol von Königsberg; dann trat ‚der plötzliche Unglücksfall‘ ein. Mögen sie einstürzen, diese prunkvollen Paläste! Was ist das schon, ‚dieses systematisch errichtete Ideensystem, das seine Vollendung in einer einzigen allgemeinen und synthetischen Idee findet‘? Allgemeingültigkeit? Ha! ha! … Zweifellos war es Schestow nach der Bekanntnschaft mit Shakespeare, Tolstoj, Dostojewskij, Pascal, Nietzsche nicht mehr möglich, unter sein Dach zurückzukehren. Und nun, da es ihm darum geht, Antworten auf seine inneren Fragen zu finden, kann er sich auch nicht mehr der ‚allgemein akzeptierten Sprache‘ bedienen.“
Wenn die innersten Fragen und damit das tiefste Geheimnis nach Antwort verlangen, kommt auch die Sprache an ihre kommunikative Leistungsgrenze – sie erreicht den Punkt, wo sie entweder in Schreie ausbricht oder ohnmächtig ins Schweigen versinkt, weil ihr für den permanenten Horror des Menschseins die Worte fehlen. Diesen äußersten und doch so naheliegenden Punkt sah Lew Schestow bei den alten Propheten erreicht, wenn sie, schäumend vor Zorn, ihren Drohungen und Verheißungen Ausdruck gaben, oder auch bei jenen einsamen „Rufern in der Wüste“, die – wie er selbst, wie Pascal, Kierkegaard, Nietzsche – fernab menschlicher Gemeinschaft und begrifflicher Korrektheit ihre desolate Wahrheit hervorstießen, eine Wahrheit, die identisch war mit ihrer individuellen Leidens- und Verlusterfahrung, mit einer Verzweiflung also, zu deren adäquater Beschreibung oder Erklärung es keine „allgemein akzeptierte Sprache“ gibt. Bestenfalls gibt es dafür – außer dem Grollen der Propheten, der Zungenrede der Ekstatiker, dem Hermetismus der Mystiker – die Sprache der künstlerischen Literatur, eine Rhetorik mithin, die den monologischen Diskurs vernunftbestimmten Philosophierens zu diversifizieren vermag durch eine Art polyphoner Rede, getragen von unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Protagonisten und angereichert durch Ahnungen, Phantasmen, Träume, Visionen wie auch durch alltägliche Erfahrungen, denen mit rationalen Kriterien nicht beizukommen ist und die ihrerseits die Gewissheit und Richtigkeit solcher Kriterien in Frage stellen, womöglich sogar dementieren.
Zwei große Beispiele dafür – die größten vielleicht – sind Fjodor Dostojewskijs mehrstimmig angelegte Erzählwerke sowie Friedrich Nietzsches dichterisch überhöhte Reflexions-, Bekenntnis- und Vergeltungsprosa. Beide, Nietzsche und Dostojewskij, sind für Lew Schestow schon in frühen Jahren vorbildlich geworden und sind es in der Folge auch geblieben, ohne freilich dessen eigene Schreibweise merklich zu beeinflussen. Schestows bevorzugte Textsorte war der Essay, ungestüm hingeschrieben, kolloquial instrumentiert und fast durchweg polemisch zugespitzt in Richtung seiner zahlreichen Gegner aus dem Lager der spekulativen Philosophie, durch die er das freie private Denken bedroht sah und bei denen er die geistigen (wie auch geistlichen) Bedürfnisse des Einzelmenschen vernachlässigt fand: Von Aristoteles (und dessen mittelalterlichen Adepten) über Descartes und Hegel bis hin zu Husserl habe das Vernunftdenken in vielfältiger Ausprägung seine Dominanz bewahrt, nämlich die Dominanz der Richtigkeit gegenüber der Wahrheit wie auch der Ideologie gegenüber individuellem Erkennen und Glauben.
Mit Schestow könnte man dies veranschaulichen durch die bereits erwähnte Metapher von der undurchdringlichen und unüberwindbaren Wand, hinter der die letzten Dinge – als „das Geheimnis“ – verborgen sind. Während nun die vernunftgeprägte Philosophie (wie übrigens auch die Theologie beziehungsweise die kirchliche Dogmatik) jene Wand gleichsam mit dem Kopf durchbrechen, indem sie sie mit ingeniösen Argumenten zum Verschwinden bringen, rennen die aufs Ganze gehenden „Privatphilosophen“ unablässig mit dem Kopf dagegen an, schlagen sich buchstäblich die Stirn wund, um schließlich ohne jede Aussicht auf Erkenntnis und Erlösung am Fuß der Wand im eigentlichen Wortverständnis den Geist aufzugeben. Eine Niederlage, die Schestow für die einzig mögliche Konsequenz menschlicher Wahrheitssuche hält und die er gleichzeitig, eben deshalb, als den größtmöglichen geistigen Sieg ausweisen kann.
Gegenüber Baruch de Spinoza, der menschliches Lachen, Trauern, Fluchen der Vernunftkontrolle (intellegere) unterstellt, besteht Schestow darauf, mit Tränen und Gelächter und Flüchen die Vernunft spontan überbieten zu können, sie durch elementare Lebens- oder Sinnesregungen zu desavouieren, aus denen allein „die wirklichen, wahren philosophischen Fragen zu schöpfen“ seien. Damit nähert er sich Nietzsche und dessen sinnenhafter Lebensphilosophie an, von der er sich zeitlebens in seiner Auseinandersetzung mit dem spekulativen Denken der Scholastik und der Aufklärung inspirieren ließ und die er immer wieder provokant in Stellung brachte gegen den Idealismus, den Materialismus, den Positivismus und auch den russischen Symbolismus, der ihm durch die eskapistische Forderung de realibus ad realiora („von der Wirklichkeit zum Überwirklichen“) zutiefst suspekt war.
„Der Normalzustand des Schaffenden: Unbestimmtheit, Ungewissheit, Zukunftsskepsis, Irritation.“
Mit Nietzsche ging Schestow, der als philosophischer Autodidakt gleichsam naturgemäß zum Frei- und Querdenkertum neigte, einig nicht nur in seiner Fundamentalkritik an der europäischen Schulphilosophie, sondern auch in seiner Vorliebe für Musik und Tanz, von der sein sprunghafter Stil – im Denken nicht anders als in der Schreibbewegung – deutlich geprägt war. Ebenso deutlich ist Nietzsches Einfluss (vorab durch dessen Spätwerk) in der Schestowschen Aphoristik zu erkennen, seiner Bevorzugung und prägnanten Meisterung der kurzen Textform, mit der er seit der Apotheose der Grundlosigkeit (1905), seiner vierten Buchpublikation nach den Monografien Shakespeare und sein Kritiker Brandes (1898), Das Gute in der Lehre von Gr[af] Tolstoj und Fr[iedrich] Nietzsche (1900) sowie Dostojewskij und Nietzsche (1903), eine stetig wachsende Leserschaft begeistert und gleichzeitig die universitäre Philosophenzunft irritiert hat.
II
Schon in seinen philosophischen Anfängen und noch in seinem apodiktischen Alterswerk hat Lew Schestow vorzugsweise die künstlerische Literatur – vorab Romane und Dramen – gegen die Vorherrschaft des Vernunftdenkens aufgeboten und eigenmächtig instrumentalisiert. Die literarische Fiktion, wie phantastisch auch immer sie sei, entspricht dem wahren Leben weit mehr als der wissenschaftliche Diskurs oder die philosophische Lehre. Einzig die literarische Rhetorik darf und kann sich in einer Art und Weise ausleben, die den Umweg, den Fehltritt, die Wiederholung, den Widerspruch – um der Logik oder auch bloß dem gesunden Menschenverstand zu genügen – nicht meidet, sondern klar den Vorzug gibt.
Nur die Literatur vermag Beiläufiges, Zufälliges, Hinfälliges, Unerhebliches in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit festzuhalten und dessen Anteil an dem herauszustellen, was gemeinhin „Schicksal“ oder „Bestimmung“ des Menschen genannt wird. Dies ist, nach Schestow, nicht nur der Triumph, es ist auch die Tragik literarischer Kreativität und des Kunstschaffens schlechthin. „Künstlerisches Schöpfertum ist eine ununterbrochene Abfolge von misslungenen Versuchen“, heißt es in einem diesbezüglichen Paragraphen aus der Apotheose der Grundlosigkeit: „Der Normalzustand des Schaffenden: Unbestimmtheit, Ungewissheit, Zukunftsskepsis, Irritation. Und je ernsthafter, je bedeutsamer und origineller die von einem schöpferischen Menschen in Angriff genommene Aufgabe ist, desto qualvoller ist sein Selbstgefühl.“ Der Schriftsteller hat mehr und Wesentlicheres zu sagen als der Wissenschaftler oder der Schulphilosoph, weil er – weiterhin nach Schestow – gelebte Erfahrung bezeugt, statt bloß Thesen oder formale Beweise für allgemeingültige „Wahrheiten“ anzuführen.
Der Erfolgsgeschichte der Wissenschaften und der philosophischen Systembildung stellt Schestow die grundsätzlich tragische Geschichte der Künste gegenüber, als deren Triebkräfte er Krankheit, Verzweiflung, Schlaflosigkeit, Wahnsinn, Armut, Einsamkeit, Todesangst ausweist – Erschwernisse, die naturgemäß jedes Menschenleben belasten können, die jedoch nur der Künstler adäquat umzusetzen vermag. In den Biografien großer Schriftsteller habe „fast immer ein Zufall die entscheidende Rolle gespielt, den unser Verstand wahrscheinlich als sinnlos bezeichnen würde“, betont Schestow: „So etwas wie ein eingeschlagener Schädel oder ein Sprung aus dem dritten Stockwerk, und zwar nicht bloß metaphorisch, sondern recht oft im eigentlichen Wortsinn – das ist der bisweilen sichtbare, häufiger jedoch der verborgene Beginn der Aktivität des Genies.“ Vom Gelehrten unterscheidet sich der Künstler vorab dadurch, dass er Irrwege, Misserfolge, persönliches Versagen produktiv zu machen weiß und gerade so zu „Wahrheiten“ gelangt, die dem begrifflich und systemisch begradigten Denken unerreichbar bleiben. – „Quelle der Originalität: Ein Mensch, der keinerlei Hoffnung mehr hat, irgendeinen seiner Fehler auszumerzen oder ihn vor sich selbst und vor andern zu verbergen, bemüht sich, in der eigenen Fehlerhaftigkeit einen Vorzug zu sehen“ – und mehr als das: er bemüht sich und ist (zumal als „Genie“!) auch in der Lage, diesen „Vorzug“ als singuläre Qualität auszuweisen, ihn als seine eigene künstlerische „Wahrheit“ glaubhaft zu machen.
In einem Gedenkartikel zum 100. Geburtstag des russischen Nationaldichters Aleksandr Puschkin hat Schestow schon 1899 das Verhältnis zwischen künstlerischer Wahrheit und gelebter Wirklichkeit neu zu bestimmen versucht in Abgrenzung zum literarischen Realismus, der damals noch von Émile Zola und dessen Adepten als narrativer Epochenstil gepflegt wurde. Schestow hielt diesen Stil für untauglich zur Erfassung des „wahren“, des ganzen Lebens, das doch weit über die Bedingungen und Befindlichkeiten der gelebten Normalität hinausreiche; er schreibt dazu unter anderem: „Die Wirklichkeit ist erbarmungslos, grausam, ihr Gesetz: Fall und Untergang des Schwachen, Überhöhung des Starken. Wie also sollte der Dichter, sofern er sich an die künstlerische Wahrheit hält, seine höchsten und besten Seelenregungen bewahren? Offenkundig gibt es keine Wahl und kann es eine solche auch nicht geben, offenkundig geht es nicht an, zwei Göttern zu dienen; entweder muss man die Wirklichkeit beschreiben oder sich ins Reich unerfüllbarer Phantasien absetzen.
In der neueren westeuropäischen Literatur ist dieses Problem nicht gelöst worden. Die großen Schriftsteller der westlichen Länder haben dieses furchtbare und qualvolle Rätsel nicht erhellen können. Dortselbst hat man entweder große Idealisten vor sich wie zum Beispiel Victor Hugo und George Sand, oder aber Realisten wie Flaubert, die Brüder Goncourt, Zola und andere, die sich der Wirklichkeit gebeugt haben. Auch die besten, die größten Autoren Europas vermochten dem Leben jene Elemente nicht zu entnehmen, welche die offensichtliche Unwahrhaftigkeit des wirklichen Lebens mit den unsichtbaren, für jedermann so endlos wertvollen Idealen versöhnt hätte, die auch der nichtigste Mensch unentwegt und unveränderlich in sich trägt. Mit einigem Stolz dürfen wir sagen, dass dieses Problem von der russischen Literatur gestellt und entschieden wurde …“
Dass in solchem Verständnis vorab die russische Literatur als Organon philosophischen Denkens zu gelten habe, findet sich bei Lew Schestow mehrfach nachdrücklich unterstrichen; in seinem Versuch über Spekulation und Apokalypse schreibt er dazu: „Gerade das russische philosophische Denken ist mit seiner Tiefe und Eigenart in der künstlerischen Literatur zum Ausdruck gekommen. Niemand in Russland hat so frei und so kraftvoll gedacht wie Puschkin, Lermontow, Gogol, Tjuttschew, Dostojewskij, Tolstoj und […] sogar Tschechow.“ Dass in dieser Pleiade Lew Tolstoj (mit Krieg und Frieden, Der Tod des Iwan Iljitsch, Vater Sergij) und Fjodor Dostojewskij (mit Aufzeichnungen aus dem Untergrund, Schuld und Sühne, Traum eines lächerlichen Menschen, Die Brüder Karamasow) uneingeschränkten Vorrang haben, erstaunt weit weniger als die Tatsache, dass Schestows philosophisches Interesse an den Literaturen Westeuropas im Wesentlichen auf William Shakespeare und Henrik Ibsen beschränkt bleibt und dass die literarische Moderne insgesamt – mit Autoren wie Andrejew, Belyj, Bulgakow, Döblin, Gide, Kafka, Musil, Proust – spurlos an ihm vorbeigegangen ist. Gleichwohl finden sich in all seinen Texten Anleihen, Zitate, Exzerpte aus literarischen Vorlagen. Dabei fällt auf, dass nicht nur immer wieder dieselben Verfasser, sondern auch dieselben Werkauszüge angeführt werden, und für problematisch muss man halten, dass Schestow zumeist keinen Unterschied macht zwischen den Aussagen des Schriftstellers und den handelnden beziehungsweise sprechenden Personen; ob Hamlet oder Brutus, ob Raskolnikow oder der Großinquisitor, ob Pierre Besuchow oder Iwan Iljitsch – sie werden durchweg so zitiert, als wären sie identisch mit „Shakespeare“, „Dostojewskij“, „Tolstoj“.
Schestow hielt den literarischen Realismus für untauglich zur Erfassung des „wahren“, des ganzen Lebens, das doch weit über die Bedingungen und Befindlichkeiten der gelebten Normalität hinausreiche.
Man könnte den Eindruck gewinnen, Schestow lasse „seine“ Autoren durchweg und bedenkenlos in seinem Namen, an seiner Stelle argumentieren. Er selbst hat dieses wissenschaftlich unhaltbare Vorgehen als „Seelenwanderung“ (stranstvovanie po dušam) gerechtfertigt, sein Freund und Kollege Nikolaj Berdjajew fand dafür den passenderen, leicht ironischen Ausdruck „Schestowisierung“, was für eine vereinnahmende „Überschreibung“ oder für eine Art von synthetisierender Nachschrift stehen mag. Wer sich dessen bei der Lektüre bewusst bleibt, wird daran schon bald keinen Anstoß mehr nehmen und die von Schestow arrangierten Stimmen – noch ein Paradoxon! – als polyphonen Monolog gelten lassen. Dem wiederum liegt ein überaus konventionelles Literaturverständnis zu Grunde, geprägt durch die Vorstellung, dass Dichtwerke aller Gattungen primär dem Gedankentransport zu dienen und dementsprechend zu funktionieren haben, derweil ihre formalen Qualitäten sekundär bleiben oder ihr Kunstcharakter sogar für obsolet erklärt wird, weil er die Rezeption „nützlicher“ wie auch „unterhaltsamer“ Aussagen erschwere.
Mit dieser Auffassung steht Schestow weit hinter der avancierten Literaturkritik und Poetik des russischen Modernismus zurück, der dem formalistischen Postulat einer „Kunst um der Kunst willen“ (l’art pour l’art) bereitwillig folgte und sich damit entschieden von der traditionellen, politisch oder sozialkritisch ausgerichteten Literaturbetrachtung absetzte, die in Nikolaj Tschernyschewskij und Nikolaj Michajlowskij ihre Wortführer gefunden hatte. Dass – und wie – er dies auch im Umgang mit lyrischer Dichtung zu tun versteht, belegt sein großangelegter Versuch über den Symbolisten Fjodor Sologub, dessen Strophen und Verse er zitiert, als wären es philosophische Propositionen oder Selbstbekenntnisse. Dem ist beizufügen, dass Schestow gleichwohl und gleichzeitig jede Form „utilitaristischer“ Literaturkritik, wie die russischen Sozialisten und Populisten, aber auch manche Vertreter der politischen Rechten sie praktizierten, kompromisslos ablehnte – noch ein Widerspruch in einer geistigen Haltung, zu deren Standard ganz selbstverständlich auch die Widersprüchlichkeit gehört. In diesem Fall würde Schestow wohl entgegnen, sein „Utilitarismus“ sei dadurch gerechtfertigt, dass er sich auf die existenzielle Sinnfrage beziehe, und nicht bloß auf die schlechte Alltäglichkeit und deren praktische, vorzugsweise revolutionäre Umgestaltung.
Von daher erklärt sich wohl auch sein intellektuelles Einzelgängertum, das er zwar konsequent praktizierte, gleichzeitig jedoch als qualvolle Vereinzelung und Entfremdung empfand – selbst von seinen nicht eben zahlreichen Gesinnungsfreunden fühlte er sich oftmals missverstanden, unterschätzt, marginalisiert. Dazu hat seine ruppige, fast durchweg polemische Rhetorik mit ihrem Hang zur Übertreibung und Wiederholung ebensoviel beigetragen wie die relative Enge seines philosophischen Horizonts, der sich einzig auf die „Offenbarungen des Todes“ hin öffnete, auf die Grundfrage nach der Bestimmung, der Freiheit, der Selbstverwirklichung des Menschen, nicht aber auf leichter erschließbare, leichter abzuhandelnde und leichter zu erhellende Domänen wie Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte, Logik, Moral, Ästhetik u.a.m. Kommt hinzu, dass Schestow sein radikales, das „Wesentliche“ mit dem „Zufälligen“ zusammenführende Denken fast ausschließlich ex negativo entfaltet, nämlich in permanenter Missachtung und Ablehnung von allgemein akzeptierten Kriterien wie „Normalität“, „Notwendigkeit“, „Richtigkeit“, „Schlüssigkeit“, „Vernünftigkeit“, „Nützlichkeit“ oder auch „Gut“ und „Böse“. Als nomadischer Privatdenker operiert er jenseits solcher Kriterien und auch jenseits ihrer überlieferten Begrifflichkeit, womit er sich – wie Nietzsche – erst recht ins Unrecht setzt gegenüber der akademischen Philosophie und deren rational begründetem Wahrheitsanspruch.
Hier liegt die Prämisse von Schestows Gepflogenheit, literarische Autoren und deren Kunstfiguren als die eigentlichen, die „wahrhaftigen“ Philosophen gegen die kanonisierten Meisterdenker zu mobilisieren, die als Diskursbegründer in erster Instanz Normen, Gesetze, Richtlinien und andere Richtigkeiten diktieren, um damit eine formelle „Wahrheit“ durchzusetzen. Das begriffsschwache, aber authentische Denken der Schriftsteller wird dem wirklichen Leben eher gerecht als ein diszipliniertes Vernunftdenken, das ihm gegenüber abstrakt bleibt, es theoretisch zwar regelt, vereinfacht und auf eine bestimmte Weise verständlich macht, ihm aber nicht zu entsprechen mag.
Dass Lew Schestow in erster Linie aus der schönen Literatur Anregung und Stoff für seine philosophischen Recherchen gewinnt, überrascht also nicht – auch nicht, dass er auf Seiten der Philosophie „poetischen“ Denkern wie Pascal, Kierkegaard und Nietzsche den Vorrang gibt, ergänzt durch Martin Luther, der als sprachmächtiger Tatmensch und kompromissloser Ketzer für ihn zu einem unangefochtenen geistigen Heros wurde. Unangefochten blieben außer Luther einzig Shakespeare und Nietzsche, derweil Schestow seine übrigen Lieblingsautoren, obwohl er ihnen höchsten Respekt zollte, immer wieder fundamental kritisierte oder mit beißender Ironie überzog, selbst dann, wenn er sich etwa im Rahmen eines Jubiläums- oder Gedenkartikels äußerte. Mit diesem polemischen Furor kontrastierte seine Warmherzigkeit im privaten Umgang, die von Freunden wie Gegnern gleichermaßen geschätzt wurde. Lang ist die Reihe derer, die Schestow in seinen Schriften mit erbarmungsloser Härte angegriffen hat, während (und obgleich) er mit ihnen persönlich eng verbunden war. Nikolaj Berdjajew und Edmund Husserl haben diese Ambivalenz zu Lebzeiten leidvoll erfahren, auch der alte Tolstoj hat sie noch erlebt, Tschechow und Dostojewskij ist solche Kritik, fast heftiger noch, postum zuteilgeworden.
Ein weniger bekanntes, freilich wegweisendes Beispiel dafür ist Lew Schestows ambivalentes Verhältnis zum progressiven Literaturkritiker und Publizisten Wissarion Belinskij, der in den 1840er-Jahren als Linkshegelianer im Namen der Vernunft mit „rasendem“ öffentlichem Engagement gegen den autokratischen Absolutismus und den orthodoxen Obskurantismus antrat, insgeheim aber das Hegelsche Systemdenken für ebenso repressiv hielt wie die russische Staatsideologie und die kirchliche Dogmatik. Als gleichermaßen unbedarfter und enthusiastischer Hegelianer vertrat Belinskij ein philosophisches Konzept, das in Russland schon bald auf ein politisches Programm reduziert und damit verfälscht wurde, ein Konzept, das Schestow als menschenfeindlich und weltfremd ablehnte, das ihn aber nicht daran hinderte, Belinskij gleichsam von den Füßen auf den Kopf zu stellen beziehungsweise sein Inneres nach außen zu kehren – der Hegelianer war insgeheim schon immer ein Antihegelianer und der Systemdenker ein ganz und gar praxisorientierter Aktivist.
Bereits in seinem frühen Buch über Tolstoj und Nietzsche (1900) und noch in dem späten Vortrag über Kierkegaard und Dostojewskij (1935) zieht Schestow einen Privatbrief Belinskijs heran, um dessen heimliche Gegnerschaft zu Hegel mit diversen Zitaten zu belegen. Darin fordert er vom Philosophen beziehungsweise von der Vernunftphilosophie insgesamt Rechenschaft „für alle Opfer des Zufalls, des Aberglaubens, der Inquisition, Philipps II. usw. usf.“ Er könne, betont Belinskij, solange kein Glück akzeptieren, als die Hegelsche Lehre nicht über jeden einzelnen seiner Mitmenschen Rechenschaft abgelegt habe, statt bloß allgemein von der Bestimmung, vom Heil, von der Zukunft der Menschheit zu reden. „Was bringt’s, wenn ich die Überzeugung habe, dass die Vernunft triumphiert und dass es in der Zukunft gut sein werde, wenn es mir beschieden ist, Zeuge des Triumphs des Zufälligen, Unvernünftigen, der tierischen Gewalt zu sein?“
Der Erfolgsgeschichte der Wissenschaften und der philosophischen Systembildung stellt Schestow die grundsätzlich tragische Geschichte der Künste gegenüber.
Nein, meint Belinskij, die Herrschaft der Vernunftphilosophie – „Worte, Worte, nichts als Worte!“ – ändere nichts an der Herrschaft der Unvernunft und dürfe auch nicht hinwegtäuschen darüber, dass „das Schicksal des Subjekts, des Individuums, der Persönlichkeit wichtiger ist als die Geschicke der ganzen Welt und die Gesundheit des chinesischen Kaisers (d.h. der Hegelschen ‚Allgemeinheit‘).“ Von daher rechtfertigt der russische „Hegelianer“ denn auch seinen „Kampf gegen Selbstevidenzen und allgemeine Wahrheiten, mithin all dessen, was von der Wissenschaft, der Moral, der Philosophie in trostreiche Systeme eingereiht und eingeschlossen worden ist“.
Im Anschluss an Wissarion Belinskij und in Übereinstimmung mit Dostojewskij, Tolstoj, Nietzsche entfaltet Lew Schestow sein eigenes vernunftkritisches Denken, das er über Jahrzehnte hin am Leitfaden literarischer Texte allmählich zu einer agnostischen, amoralischen, asozialen, alogischen Philosophie des Absurden radikalisiert.
Bei Iwan Turgenew interessiert ihn (namentlich im Roman Väter und Söhne) die Darstellung und Problematisierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, doch wirft er ihm Unentschiedenheit, Zurückhaltung, sogar Ängstlichkeit dort vor, wo sich seines Erachtens ein dezidiert kritischer Positionsbezug aufgedrängt hätte – als überzeugter „Westler“ habe sich Turgenew, entgegen eigener Erfahrung und tieferer Einsicht, vorbehaltslos dem Rationalismus verschrieben, um die ihm durchaus bekannte, jedoch als bedrohlich empfundene Sphäre des Irrationalen, Geheimnisvollen und Unheimlichen auszublenden.
Demgegenüber weiß Schestow das riskante existenzielle Engagement eines Lew Tolstoj, eines Fjodor Dostojewskij oder Henrik Ibsen im Kampf um „Wahrheit“ und „Freiheit“ zu schätzen, eine kompromisslos eigensinnige Lebens- und Geisteshaltung, die sich besonders in der Krise bewährt, im Ausnahmezustand und auch noch angesichts des Todes, also dort, wo die schwarze „Wand“ jeglichen weiteren Erkenntnisschritt verhindert, dabei aber gleichzeitig den Glauben an das „Wunder“ stärkt, mithin an die Verwirklichung des Unmöglichen oder, genauer, an die Wirklichkeit des Möglichen. Bei aller aufrichtigen Wertschätzung kann Schestow nicht umhin, seine Vorzugsautoren dafür zu rügen, dass sie – vor allem in Zeiten des Wohlergehens, des Erfolgs, der Selbstgewissheit – immer wieder in schönrednerisches „Predigen“ verfallen, statt ihre „Suche mit Seufzern“ (Pascal) konsequent fortzusetzen. Tolstojs pauschale Moralpredigten wie auch Dostojewskijs nationalchauvinistische Proklamationen werden als Belege dafür kritisch herausgestellt.
Ob Hamlet oder Brutus, ob Raskolnikow oder der Großinquisitor, ob Pierre Besuchow oder Iwan Iljitsch – sie werden von Schestow durchweg so zitiert, als wären sie identisch mit „Shakespeare“, „Dostojewskij“, „Tolstoj“.
Kritisch betrachtet Schestow in einem weit ausholenden Essay auch das Schaffen Anton Tschechows, bei dem er – wie schon bei Iwan Turgenew – fehlende Entschiedenheit und Bekenntnishaftigkeit moniert. In überraschendem Gegenzug zur gängigen Einschätzung Tschechows als eines fortschrittsgläubigen, dabei menschenfreundlichen und humorvollen Literaten erkennt Lew Schestow in dem populären Zeitgenossen einen Künstler und Künder des Tragischen, der in seinen Texten wie in seinem Leben bis zur schwarzen „Wand“ des Gehtnichtmehr vorgedrungen sei und begriffen habe, dass auch der größte Dichter, der luzideste Philosoph, der kenntnisreichste Forscher und Gelehrte an jenem äußersten Punkt der Zerknirschung ehrlicherweise nur noch eines sagen könne: „Ich weiß nicht.“
Auch in diesem Fall untermischt Schestow seinen Respekt vor einer kompromisslosen Wahrheitssuche mit reichlich Kritik, indem er Tschechow ankreidet, er habe sein Vertrauen in die Vernunft, die Wissenschaft und den sogenannten gesunden Menschenverstand niemals wirklich aufgegeben, so wie – und so dass – er auch niemals durch den Glauben über sein „weiß nicht“ und „kann nicht“ hinausgelangt sei – aus der Welt der „Notwendigkeiten“ und „Spekulationen“ in das gelobte Land der „Offenbarung“, wo alles möglich wäre, auch das Wunder. Aber nein – Tschechow habe das Sein auf nichts gestellt, habe dem Menschen eine Verantwortung überbürdet, die er nicht zu tragen vermag und doch nicht abweisen kann, an der er also scheitern muss. Tschechow selbst habe dieses Scheitern für sich akzeptiert, meint Schestow, doch er habe sich darüber – mit Blick auf die andern Menschen, die allesamt ebenfalls zum Scheitern verurteilt sind – insgeheim auf selbstquälerische Weise gefreut. Für Tschechow wie für dessen literarische Figuren gebe es „im Leben absolut nichts, außer vielleicht mit dem Kopf auf einen Stein einzuschlagen. […] Mit ganzer Seele versucht er, sich aus seiner entsetzlichen Lage zu befreien. […] Vergebliche Hoffnung! Der Beginn der Zerstörung erweist sich jedes Mal als unaufhaltsam, und der Tschechowsche Held bleibt sich schließlich selbst überlassen. Ihm bleibt nichts, er muss alles selbst erschaffen. Das eben ist ‚Schöpfung aus nichts‘, genauer: die Möglichkeit einer Schöpfung aus nichts – das einzige Problem, das Tschechow zu interessieren und zu inspirieren vermag.“
Ähnliches beobachtet Schestow an Shakespeares Hamlet. Der unselige Prinz von Dänemark vermag nichts wirklich Eigenes zu schaffen, kann sich weder mit Taten noch mit Worten durchsetzen – auch er scheitert vor der schwarzen „Wand“, doch an deren Fuß, angesichts des „Geheimnisses“, beginnt er zu reflektieren, wird zum Philosophen, flüchtet sich in Syllogismen, Behauptungen, Beweise, Konklusionen. „Man versetze sich in Hamlet“, schlägt Schestow vor: „All seine Vorzüge haben negativen Charakter. Er ist nicht gierig, nicht eigennützig, nicht böse, nicht intrigantisch u.ä.m. Etwas Positives gibt es bei ihm nicht. Und es gibt nichts im Leben, wofür er seine Seele hingeben würde. Er vermag nichts zu schaffen, auch nicht im Kleinen. Bleibt nur eins: er ist ein Denker.“ Auch hier schickt Schestow einen literarischen Protagonisten als Gedankenträger vor, er macht ihn gleichsam zum Prinzen ihrer Hoheit der Großen Vernunft und lässt ihn als beflissenen Rationalisten am „Geheimnis“ scheitern. Hamlets „Philosophie der Totenschädel“ reicht nicht aus, um der Vielfalt und Widersprüchlichkeit des gelebten Lebens gerecht zu werden – so wenig, wie die Lehren eines Descartes, Spinoza, Kant oder Hegel dazu ausreichen. Nur die Kunst, vorab die Literatur kann diesem Anspruch gerecht werden, nur sie vermag Mögliches als wirklich, Unmögliches als notwendig auszuweisen. Damit transzendiert sie das Entweder-oder von Vernunft und Moral, und sie lässt etwas ahnen von den Möglichkeiten des Sowohl-als-auch in einem Reich jenseits von Gut und Böse.
Die „Philosophie als Panorama und Deutung des menschlichen Lebens“ ist nach Schestows Dafürhalten „nur demjenigen erreichbar, in dem der ‚Artist und Künstler‘ den Denker nicht bloß ergänzt, sondern ihn beherrscht.“ Und weiter führt er aus: „Der Dichter versöhnt uns mit dem Leben, indem er die Sinnfülle all dessen herausstellt, was uns zufällig, sinnlos, irritierend, unnütz vorkommt. Bei Shakespeare hat Hamlet die Tragödie nicht deshalb auszutragen, weil er sich im Netz des blinden Schicksals verheddert hat, das ihn ‚in den Wahnsinn, ins Verbrechen, ins Leid und in den Tod‘ führt. Für Hamlet, dies sei wiederholt, war die Tragödie unumgänglich. Shakespeares Größe besteht eben darin, dass er Ordnung und Sinn dort zu erkennen vermag, wo andere lediglich Chaos und Unsinn sehen.“ Was Schestow an dieser Stelle dem Dichter Shakespeare als „Größe“ zugesteht, hat Geltung für alle große Literatur – sie spricht „wahr“ im Widerspruch, im Fluch, in der Lüge, im Gesang und behauptet sich damit als eine andere Philosophie, eine andere „Deutung des menschlichen Lebens“.
© Matthes & Seitz, Berlin 2012