MICHÈLE WANNAZ Eva Illouz, lieben wir anders, seit wir das Geld eingeführt haben?
EVA ILLOUZ Zumindest seit das Geld potenziell jedem zur Verfügung steht. Das heißt, seit wir das Prinzip des Kapitalismus eingeführt haben. Davor war der Arbeitsmarkt beschränkt, die Güterzirkulation gering und Besitz somit die Voraussetzung dafür, ein angenehmes Leben führen zu können. Es gab also nur zwei Möglichkeiten, sozial aufzusteigen: zu erben oder geschickt zu heiraten. Hinzu kommt, dass in der präkapitalistischen Welt die Leibeigenschaft noch sehr verbreitet war. Als dann aber jeder sein eigenes Kapital wurde, sprich mit Intelligenz und Arbeitskraft sein Eigentum mehren konnte, ohne dieses an einen Lehensherrn abtreten zu müssen, da war der Lebensstandard plötzlich nicht mehr allein von Herkunft und Heirat abhängig. So paradox es klingt: Je kapitalistischer eine Wirtschaft funktioniert, desto wahrscheinlicher ist es, dass Menschen aus Liebe heiraten.
WANNAZ Das heißt, die Freiheit in der Liebe war eine direkte Folge der Handelsfreiheit?
ILLOUZ Ja, die Einführung des Kapitalismus und die Verbreitung der romantischen Liebe gingen Hand
in Hand. Die freie Marktwirtschaft befreite die Gefühle vom wirtschaftlichen Kalkül, was durch die Industrialisierung noch verstärkt wurde. Mit der Auslagerung der Güterproduktion aus dem Haushalt musste der Familie ein neuer Sinn verliehen werden. Sie wurde von einer ökonomischen zur emotionalen Einheit. Als Ausgleich zur rationalen Geschäftswelt am Arbeitsplatz bot das Zuhause nun plötzlich einen Ort des Trostes, der Authentizität und Intimität. Das machte eine Liebesheirat nicht nur zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte für jedermann legitim, sondern geradezu wünschenswert. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung hat also nicht nur das wirtschaftliche Vorankommen jedes Einzelnen ermöglicht, sondern zugleich das Privatleben neu erfunden, die Suche nach emotionaler Erfüllung zum zentralen Lebensziel erklärt.
Je kapitalistischer eine Wirtschaft funktioniert, desto wahrscheinlicher ist es, dass Menschen aus Liebe heiraten.
WANNAZ In Ihrem Buch Der Konsum der Romantik zeigen Sie, dass der Markt sich dieser privaten Gefühle, die ursprünglich sein Gegengewicht darstellen sollten, aber mehr und mehr bemächtigt hat.
ILLOUZ Ja, es ist ein Teufelskreis. Heute konsumieren die meisten Menschen primär, um ihre sozialen Beziehungen zu verbessern. Wir müssen also immer mehr dem Geld nachjagen, um damit dann das kaufen zu können, von dem wir glauben, es dem ganzen Geldbeschaffungsstress und der damit verbundenen Entfremdung von unseren Mitmenschen entgegensetzen zu müssen. Luxuriöse Reisen zum Beispiel leisten wir uns ja vor allem, um viel Zeit mit unseren Liebsten verbringen zu können. Schöne Kleider, Kosmetik und Parfüms sollen potenzielle Partner anlocken – und auch langfristig halten. Interessant vor allem: Als ich bei der Arbeit für mein Buch herausfinden wollte, was Romantik für die Menschen bedeutet, zeigte sich, dass man diese mit einem guten Essen verbindet, mit Champagner bei Kerzenlicht, einem Kinoabend, einem Strauß Rosen. Man fährt – je nach finanzieller Möglichkeit – mit dem alten Saab und einer Flasche Rotwein zur Flussböschung oder für ein Wochenende nach Paris, um der Geliebten auf dem Eiffelturm einen Diamantring an den Finger zu stecken. Wir haben es also mit zwei parallelen Prozessen zu tun: der Verdinglichung der romantischen Liebe und der Romantisierung der Waren.
WANNAZ Wann und warum haben diese Entwicklungen eingesetzt?
ILLOUZ Sie verliefen parallel zum steigenden Wohlstand, der es ermöglichte, immer mehr Geld für nicht überlebenswichtige Dinge auszugeben, und zur langsamen Entstehung einer Freizeitkultur, die den „Regenerationszwang“ und damit auch die Romantik zunehmend kommerzialisierte. Es entstanden erste Tanzlokale, Vergnügungsparks – und nicht zuletzt Kinos, die das romantische Liebesideal weiter schürten. Interessanterweise war die Kommerzialisierung der Romantik aber zugleich ein Stück weit ihr Untergang: Ab Anfang des 20. Jahrhunderts stiegen die Scheidungsraten stetig. Das lag wohl nicht zuletzt am medial transportierten Liebesideal, das zum Teil natürlich berechtigte, zum Teil jedoch auch übersteigerte Erwartungen weckte. Einer der häufigsten Scheidungsgründe war aber der Streit ums Haushaltsbudget. Viele Frauen hielten ihre Männer für knauserig und diese sie umgekehrt für verschwenderisch, da angeblich konsum- und vergnügungssüchtig.
Die Kommerzialisierung der Romantik war zugleich ein Stück weit ihr Untergang.
WANNAZ Die Ökonomisierung der Liebe dringt aber noch viel tiefer in unser Leben ein. Ein auffälliges Symptom dafür ist, dass wir die Sprache der Wirtschaft quasi eins zu eins auf unser Beziehungsvokabular übertragen haben.
ILLOUZ In der Tat: Wir erkunden unseren Marktwert in Partnerbörsen, dann leisten wir Beziehungsarbeit – und wenn wir das Gefühl haben, mehr zu geben als zu bekommen, überprüfen wir, ob die Rechnung noch aufgeht. Heute muss in der Liebe nicht mehr nur die Chemie stimmen, sondern auch die Bilanz. Und oft wollen wir nur deshalb noch keinen Schlussstrich ziehen, weil wir schon so viele Gefühle investiert haben – was sich nun doch bitte schön auszahlen soll. Nachdem die Arbeit den Haushalt verlassen hat, brachten wir sie also auf anderer Ebene quasi wieder dahin zurück.
WANNAZ Wie kam es dazu?
ILLOUZ Das entspricht einer allgemeinen Tendenz, den Umgang mit unserem Gefühlshaushalt demjenigen mit dem Geldhaushalt anzupassen. Höchstes Lebensziel ist es heute, das Potenzial unseres Selbst auszuschöpfen. Wir lernen von sogenannten Coachs, unsere Gefühle zu managen. Wir sehen es als Investition in unsere – private wie berufliche – Zukunft, wenn wir unsere dysfunktionale Seele wieder funktionstüchtig machen. Ein absolut lohnendes Geschäft übrigens: Bereits vor zehn Jahren ging jeder zweite US-Amerikaner mindestens einmal im Leben zum Therapeuten. Heute sind es wahrscheinlich zwei von drei.
WANNAZ Glauben Sie also, nicht nur das Konzept der romantischen Liebe, sondern auch die Psychotherapie ist direkt dem Geist des Kapitalismus entsprungen?
ILLOUZ Sagen wir einmal: Sie wurzeln beide in demselben protestantischen Gedankengut, permanent nach wirtschaftlichem Erfolg zu streben. Der Protestantismus war es aber auch, der den katholischen Ablass abschaffte. In der Zeit vor Luther war es ja absolut üblich, sich von seinen Sünden freizukaufen. Heute hat die Psychotherapie diese Funktion ein Stück weit übernommen. Wir zahlen unter anderem dafür, unsere Fehler als unbewusste Reaktion auf frühe Defizite zu erkennen und uns dadurch besser verzeihen zu können. Hinzu kommt: Seit das Geld zur Religion geworden ist und jeder die gesellschaftliche Position innehat, die er „verdient“, kann der Mensch nicht mehr Gott verantwortlich machen für sein Schicksal, sondern nur noch sich selbst. Das ist ein enormer psychischer Druck, den die Psychotherapie häufig lindert, oft aber auch zusätzlich verstärkt: Sie verspricht uns, dass wir alle Schmerzen, die uns jemals zugefügt wurden, reparieren, dass wir das Leben kontrollieren und unser Schicksal selber bestimmen können. Das schenkt uns zwar die Illusion von Freiheit, erhöht aber auch das Gefühl der Eigenverantwortung und dadurch den Stress noch einmal.
WANNAZ Wenn die Geldwirtschaft unser Privatleben so stark beeinflusst: Glauben Sie dann auch, dass die globale Wirtschaftskrise unsere Haltung gegenüber dem Geld verändert? Wird es immer weniger als „sicherer Wert“ gelten und deshalb auch als Statussymbol an Macht einbüßen, sprich: Wird die therapeutisch erworbene Fähigkeit zur Selbstreflexion, die Anzahl der Facebook-Freunde oder das
zur Schau getragene ökologische Engagement vielleicht bald mehr zählen als der Betrag auf dem Konto?
ILLOUZ Ich habe den Eindruck, dass wir das Vertrauen weniger ins Geld als solches verloren haben als in die Eliten, die es für uns verwalten. Die Veränderung findet meiner Meinung nach vielmehr auf dieser Ebene statt. Das Verhältnis zu unserem Finanzsystem ist doch eigentlich vergleichbar mit dem zweier Ehepartner: Wir sind betrogen worden, haben uns aber entschieden, es noch einmal miteinander zu versuchen. Als Folge des Eklats sind wir also misstrauischer und dadurch auch wachsamer geworden. Und wir ergreifen Maßnahmen, damit uns nicht noch einmal dasselbe passiert.
© Suhrkamp Verlag, Berlin 2012